Nach dem linguistic turn der beginnenden 2000er-Jahre fragt die Forschung nunmehr nach der Genese unseres eigenen historischen Wissens. Schon Goethe hat in seinen Tischgesprächen bemerkt, dass man nur das sieht, was man weiß, und so stellen sich die Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes nicht nur die Frage, warum einige Helden und Heilige in einigen Ländern bekannt sind und verehrt werden, sondern vor allem auch, wann diese Verehrung (wieder-)aufkam und welche Interessen an der Auswahl ebenjener Vorbilder beteiligt waren. Cordelia Heß und Gustavs Strenga bauen dabei indirekt auf den von Eviatar Zerubavel entworfenen Ideen auf1, dass sich Gesellschaften aus der Vielzahl der Möglichkeiten das für die eigene Erinnerung heraussuchen, was ihren gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen am hilfreichsten erscheint. Auf dieser Basis wählen die elf Beiträge dieses Bandes durchaus verschiedene Zugänge zu ein und demselben Phänomen.
Nach einer informativen Einleitung („Doing Memory of medieval saints and heroes in the Baltic Sea area“), in der die Herausgeberin und der Herausgeber unter anderem auf Jan Assmanns Ideen der „Erinnerungsfiguren“ und Noras „lieux de mémoire“ als grundlegende Erscheinungen moderner Erinnerungskultur eingehen, werden in einem ersten Abschnitt Themen des „Popular Culture“ behandelt. Sari Katajala-Peltomaa fragt so zu Recht, wie und warum die finnische Öffentlichkeit auf die Heilige Birgitta von Vadstena rekurriert, da diese nicht nur katholisch, sondern auch vor allem schwedisch besetzt ist. Gleichwohl wird die schwedisch-europäische Heilige häufig in der überwiegend lutherisch geprägten Öffentlichkeit erwähnt, wobei sie der feministischen Bewegung ebenso dienen kann wie religiösen Überzeugungen oder rechter und linker (sic!) Rhetorik. Als Nächste fragt Kristina Jõekalda danach, wer (vor allem in der Kunst) als Verkörperung Estlands angesehen wird, und von wem. Hierbei konkurriert die schon im Mittelalter mit dem Baltikum assoziierte Jungfrau Maria, nach der heutzutage einer der höchsten estnischen Orden benannt ist, mit der epischen Figur der Linda aus der finnougrischen Mythologie. Die Verfasserin kann dabei zeigen, dass, obwohl im 19. Jahrhundert als Gegensätze konstruiert, beide Figuren im estnischen Unabhängigkeitskampf der 1980er-Jahre miteinander verwoben und so beide Stränge miteinander vereint wurden. Abschließend behandelt in diesem Abschnitt Gustavs Strenga den heroischen Weg des Imanta von einer unbekannten mittelalterlichen Nebenfigur zur zeitweiligen nationalen Ikone Lettlands. Strenga zeigt beispielhaft, wie Dichter und Akademiker des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts eine nationale Vorzeit schufen, die zwar wenig mit der Quellenkritik der historischen Wissenschaft, aber umso mehr mit den Bedürfnissen entstehender Nationen und nationaler Auseinandersetzungen zu tun hatte. Er zeigt aber auch, wie sich diese Bilder in Abhängigkeit von den äußeren Umständen verändern und wie Helden wie Imanta auch wieder aus dem nationalen Gedächtnis verschwinden können.
In einem zweiten Abschnitt, den die Herausgeberin und der Herausgeber „Local“ genannt haben, wird das Thema an zwei weiteren Beispielen weitergeführt. Steffen Hoppe beschäftigt sich eingehend mit dem Verhältnis der Stadt Odense in Dänemark zum Heiligen Knud (dem König), der dort 1086 ermordet wurde. Dieses ist ein unterhaltsames Kabinettsstück darüber, wie eine protestantische Stadt mit einem katholischen Heiligen im Stadtsiegel dieses im Lauf der Jahrhunderte für sich nutzbar macht. Allerdings geht der Verfasser auch weiter und spricht nicht nur von „urban medievalism“, dem bewussten Rekurrieren auf die mittelalterliche Geschichte eines Ortes, sondern auch von einem „secondary medievalism“, unter dem er unter anderem die Benennung von Imbissen nach mittelalterlichen Figuren meint, wobei offen bleiben muss, inwieweit es sich hierbei – wie auch bei Straßennamen – wirklich um einen „medievalism“ handelt oder nicht. Schade ist auch, dass bei einem Zentralpunkt der Analyse, der bekannten Knudsstatue in Odense, auf einen kommenden Artikel verwiesen wird und der Leser über die Details im Unklaren bleibt. Einen weiteren regionalen Aspekt behandelt Marianna Shakhnovich in ihrem Beitrag über Olga von Kiev, die sogenannte Equal-to-the-Apostles Princess. Die Verehrung der Heiligen Olga startete erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei ihr zahlreiche Quellen und Steine zugeordnet wurden. Obwohl die Leitung der Sowjetunion diese Arten der Verehrung zu unterdrücken versuchte, lebte die Anbetung der Heiligen Olga weiter und wurde in den 1990er-Jahren in der Ukraine wie auch in Russland von offizieller Seite wieder verstärkt.
Im folgenden Abschnitt, „National“, behandelt zuerst Anna Ripatti die Rolle Torkel/Tyrgils Knutssons in Finnland und vor allem in der Stadt Wiburg. Torkel Knutsson (gestorben 1306) war ein schwedischer Statthalter in Finnland, der vor allem mit der Gründung der Stadt Wiburg (Viipuri/Выборг) in Verbindung gebracht wird. 1884 wurde ihm zu Ehren eine bronzene Statue in Wiburg errichtet, die nicht nur im innerfinnischen Konflikt zwischen schwedischer und finnischer Sprache und Kultur, sondern auch im finnisch-sowjetischen Konflikt mehr als umstritten war. Das Beispiel Torkel Knutssons zeigt deutlich, wie Erinnerungen geschaffen und je nach politischer Lage auch verändert werden können. Hierauf folgt Henrik Ågrens historiographische Skizze über die Behandlung des Heiligen Erichs in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung. Ågren stellt sich die Frage, wie reformatorische und aufklärerische Verfasser mit einem katholischen Heiligen umgehen, der auch (oder hauptsächlich) für ein Reich steht. Auch seine Analyse verdeutlicht eindrücklich, wie sehr sich Sichtweisen in Abhängigkeit von gegebenen politischen Situationen verändern können und wie wenig statisch ein Bild vom Parthenon der historischen Heroen eigentlich ist.
Das letzte Großkapitel, „Shared Heritage“, behandelt die spannende Frage nach miteinander geteilten Helden und Heiligen. Den Anfang macht hier Mart Kuldkepp der über ein außerhalb Schwedens und Estlands unbekanntes Ereignis berichtet: die angebliche Zerstörung Sigtunas durch Esten im Jahr 1187. Obwohl es historisch mehr als fraglich ist, die Zerstörung Sigtunas durch „östliche Heiden“ mit Estland in Verbindung zu bringen, wurde diese von estnischen Dichtern und Historikern immer wieder thematisiert: Zuerst zur Ausmalung einer eigenen goldenen Vergangenheit in der Mitte des 19. Jahrhunderts, bis hin zu „immerwährenden“ estnisch-schwedischen Verbindungen (und der Ausgrenzung Russlands) im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig übernahmen auch einige Schweden diesen ahistorischen Topos und bauten ihn in ihr eigenes Weltbild ein. Ihm folgt Jan Rüdiger, der sich Gerhard III. von Holstein(-Schauenburg) als Gegenstand seiner Untersuchung vornimmt. Gerhard III. war zu Beginn des 14. Jahrhunderts der größte Pfandnehmer und einflussreichste Politiker im heutigen Dänemark. Er wurde am 1. April 1340 in Randers durch den Adligen Niels Ebbesen ermordet. Wie in vielen „contested areas“ sind die „time maps“ der Dänen und Deutschen zu diesem Ereignis durchaus unterschiedlich. Gilt Gerhard in Dänemark als der größte Feind der Nation und wird Niels Ebbesen noch heute verehrt, galt Gerhard in Holstein im 19. Jahrhundert als Ausdruck deutscher Stärke, ist heute aber fast vollständig vergessen. Dieses ist also ein Musterbeispiel für die Schaffung und das Vergessen regionaler Helden im Zusammenspiel mit europäischer Großpolitik. Allerdings leidet dieser Artikel, gerade in seinen einleitenden Teilen, unter zahlreichen Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten, sodass der übergeordnete Rahmen sehr schief hängt. Ist Gerhard III. ein Negativbeispiel, so weist Kati Parppei auf die Integration russisch-orthodoxer Heiliger in das Verständnis des heutigen Finnlands hin. Mit der Abtretung Kareliens an die Sowjetunion und vor allem der Vertreibung der Finnen aus Karelien nach dem Verlust des Verlängerungskrieges 1944 kam auch eine russisch-orthodoxe Minderheit in den weitgehend lutherisch-finnischen Nationsverband. Diese orthodoxen Christen waren in ihrem Kult nach Russland und auf die Verehrung nord-west-russischer Heiliger ausgelegt. In Finnland mussten diese Heiligen umgedeutet werden: Aus russischen Regionalheiligen wurden die heiligen Asketen Kareliens, die damit bis in die 1950er-Jahre auch eine indirekte Finnisierung durchliefen und eine kollektive finnische Erinnerung schufen, in die die Religion ebenso wie die verlorenen Gebiete integriert wurden.
Abgeschlossen wird der Band von einem sehr klug konzipierten Nachwort von Anti Selart, der die einzelnen Beiträge mit eigenen Überlegungen kombiniert und ihnen einen übergreifenden Rahmen bietet.
Insgesamt zeigt der Band mit aller Klarheit und Deutlichkeit, wie wenig wir unser Weltbild als gegeben hinnehmen dürfen und wie sehr unsere Welt noch immer vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts bestimmt wird. Dichter und Historiker dieser Epoche schufen nicht nur Nationen, sie kreierten auch die Helden und die Erinnerung an die Heroen der Vorzeit. In allen Beiträgen wird das Streben der einzelnen Gesellschaften nach gegenwärtiger Stärke durch die Parallelisierung mit Heiligen und Helden der Vorzeit deutlich. Und so schufen nicht nur die Deutschen den Mythos von Friedrich Barbarossa, oder Walter Scott und die Briten den von Richard Löwenherz, sondern jede Region versuchte zur gleichen Zeit, ihre Vorbilder zu schaffen oder wie im Falle von Imanta zu erfinden. Vielfach leben diese Mythen weiter und werden zurzeit gerade wiederbelebt, wie der Kult um Olga von Kiev, vielfach starben sie aber auch nach Beendigung der Krisen aus, so wie die Sage von Thyra Dannebod, einer der wenigen weiblichen Vorbilder aus dem dänisch-preußisch-deutschen Konflikt des 19. Jahrhunderts, die heute geradezu vergessen zu sein scheint. Nach der Lektüre dieses Bandes stellen sich aber nicht nur neue Erkenntnisse ein, sondern auch Fragen nach der Aufgabe der Geschichtswissenschaften in der Gegenwart, nach dem Verhältnis von nationalem Selbstverständnis und historischer Wissenschaft, und ob wir nicht auch unsere eigenen Helden der Vorzeit schaffen. Eines jedenfalls bleibt klar: Panta rhei.
Anmerkung:
1 Eviatar Zerubavel, Time Maps. Collective Memory and the Social Shape of the Past, Chicago 2003.