H. Thünemann u.a. (Hrsg.): Geschichtskulturelle Transformationen

Cover
Titel
Geschichtskulturelle Transformationen. Kontroversen, Akteure, Zeitpraktiken


Herausgeber
Thünemann, Holger; Köster, Manuel
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur
Erschienen
Köln 2024: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Hartung, Historisches Institut, Universität Paderborn

Anfang des neuen Jahrtausends prognostizierte der Geschichtsdidaktiker Peter Schulz-Hageleit, Geschichtskultur werde „Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik den Rang ablaufen“.1 Damit befand er sich auf Linie Jörn Rüsens, der bereits ein Dezennium zuvor prophezeit hatte, dass sich „Geschichtskultur“ zu einer „Fundamentalkategorie“2 in der Disziplin der Geschichtsdidaktik entwickeln werde. Die zunehmende Dominanz des Konzepts in der Geschichtsdidaktik findet seinen Grund wohl nicht zuletzt in der von Rüsen vermuteten Universalität des damit beschriebenen Phänomens: Geschichtskultur sei sowohl der „Inbegriff der Sinnbildungsleistungen des menschlichen Geschichtsbewusstseins“ als auch eine anthropologische und damit interkulturell übergreifende Konstante.3

Rückblickend möchte man meinen, die Expansivität sei dem Konzept von Geburt an eingeschrieben. Als eine der zurzeit weitreichendsten Objektivationen dieses Trends lässt sich der hier zu besprechende Sammelband begreifen. Fast ist man versucht auszurufen: „Nie war so viel Geschichtskultur wie heute!“ Gemeint ist damit nicht allein das quantitative Wachstum geschichtskultureller Medienangebote und Genres, wie Museumsausstellungen, Reenactments, historische Romane, Filme, Videos und Computerspiele und vieles mehr. Vielmehr gilt die Beobachtung besonders in Bezug auf den semantischen Geltungsanspruch des Konzeptbegriffs. Für die Herausgeber des auf Vorträgen von Münsteraner Ringvorlesungen basierenden und fast 500 Seiten umfassenden Bandes ist Geschichtskultur schon deshalb ein geeigneter „umbrella term“, weil sich seine weite Begriffsbestimmung durch einen „integralen Charakter“ auszeichne (S. 10). Oder in den Worten des von den Herausgebern zitierten Rüsen: Geschichtskultur verbinde „die von der Wissenschaft kultivierte kognitive Seite der historischen Erinnerungsarbeit systematisch mit der politischen und ästhetischen Seite der gleichen Arbeit“ (ebd.).

Die Integration von Vielem, wenn nicht von Allem, birgt die Gefahr, an Trennschärfe einzubüßen, womit die auffällige Vielfalt – man könnte auch sagen: Disparatheit – der im Band versammelten Texte erklärt werden könnte. Positiv lässt sich formulieren, dass die Publikation die Weiterarbeit an der Zentralkategorie „Geschichtskultur“ und ihren Dimensionen voranbringt, indem sie konkrete Beispiele und vielfältige Perspektiven produktiv zusammenführt. Unter dem Regenschirm des in „Kontroversen“, „Akteure“ und „Zeitpraktiken“ untergliederten Bandes versammelt sich jedenfalls so einiges: Beiträge zu fachhistorischen Kontroversen ebenso wie Texte zur Geschichtstheorie, Historiographie- und Rezeptionsgeschichte sowie zu geschichts- und erinnerungskulturellen Institutionen wie Museen und Gedenkstätten. Als analytische Zugriffe sind vergangene und gegenwärtige Geschichtspolitik ebenso möglich wie Ansätze der Erinnerungskultur, Public History und Angewandte Geschichte. Die zur Gliederung des Bandes gewählten „Leitbegriffe“ bedingen fließende Übergänge, wie die Herausgeber selbst schreiben (S. 14). Ihnen ist bewusst, dass es für „Kontroversen“ auch der „Akteure“ bedarf und diese wiederum in und mit bestimmten „Zeitpraktiken“ agieren. Den Differenzierungsgewinn ihres Begriffsinstrumentariums erkennen sie vor allem im Hinblick auf die „bewusste[n] Entscheidungen für spezifische theoretische und methodische Zugriffe“ (ebd.). Den Leserinnen und Lesern wird jedoch nicht immer deutlich gemacht, ob die einzelnen Beiträgerinnen und Beiträger sich bereits bei der Erarbeitung ihrer Vorträge zur Ringvorlesung „bewusst“ für ihre jeweiligen Zugriffe entschieden haben, oder die Zuordnungsentscheidungen erst später bei Herstellung des Bandes getroffen wurden.

Prinzipiell erscheint es plausibel, dass 11 der insgesamt 19 Einzelbeiträge den Kontroversen zugeordnet wurden. Kontroversität ist schließlich konstitutiv nicht nur für politische, sondern auch für wissenschaftliche Diskurse, weshalb eigentlich alle Beiträge des Bandes in diese Rubrik hätten eingeordnet werden können. Versammelt sind hier vor allem Texte zu Themen aktueller gesellschaftlicher Debatten mit historischen Bezügen, wie etwa zur Bedeutung der Kategorie Nation, die (Neu-)Bewertung der Geschichte des Kaiserreichs, die Praxis des postkolonialen Denkmalsturzes, die Frage nach einer zulänglichen Definition für antiisraelischen Antisemitismus, die Debatten um die historische Singularität des Holocaust und um die Restitution (geraubter) kultureller Güter, der Umgang mit der Geschichte der Hexenverfolgung im öffentlichen Raum, die Versuche zur Instrumentalisierung einer vermeintlichen Cancel Culture, die Potenziale einer „Historischen Klimatologie“ (S. 274) für die Geschichtsforschung sowie die möglichen Gefahren, die von der Rüsen‘schen Formel „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ für das Geschichtslernen ausgehen könnten (S. 251). Historiographisch kontrovers sind die Beiträge des Abschnitts „Kontroversen“ beispielsweise in Bezug auf das Nationenkonzept, wenn Gabriele Metzler im Unterschied zu Aleida Assmann dafür plädiert, die Kategorie Nationalstaat zugunsten einer Geschichte aufzulösen, „die danach fragt, wer sich wann und mit welchen Interessen mit ihm als politischer Ordnung, als sozialem Raum oder als Machtprojektion nach außen identifiziert, wer sich dagegen aufgelehnt hat“ (S. 109). Mit diesem Ansatz lässt sich gut zur Rubrik „Akteure“ überleiten. Es mag der Macht des historisch Faktischen geschuldet sein, dass die vier hier versammelten Beiträge entweder das Handeln ‚älterer weißer Männer‘ oder von Institutionen thematisieren, die von solchen initiiert bzw. geleitet wurden (Internationale Bauausstellung Emscher Park, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland). Vielleicht wäre es aber dennoch wünschenswert, auch einen Beitrag aufzunehmen, der das Handeln von zumindest einer geschichtskulturellen Akteurin untersucht. Dass die unter „Zeitpraktiken“ versammelten Beiträge zu Themen wie Zeitkonzepte, soziologisch angereicherte Konzepte von Geschichtskultur, „Zeitpraktik“ des Denkmalsturzes sowie „Zeitsemantik“ ebenfalls gut in die Rubrik „Kontroversen“ gepasst hätten, ist vermutlich kaum mehr der Rede wert.

Das leichte Unbehagen an der gewählten Heuristik hat jedoch noch eine weitere Facette, und zwar namentlich die in der Einleitung identifizierte Ursache für „geschichtskulturelle Transformationen“: Ist der an sich nachvollziehbare Befund, dass sich Geschichtskulturen im Zeitverlauf ändern, wirklich ‚nur‘ eine Folge „realhistorischer Entwicklungen und Ereignisse“ (S. 12)? Inwiefern ist ein solches Ursache-Wirkung-Verständnis der Bedeutung von Kultur allgemein und von Geschichtskultur im Speziellen angemessen? Was meint der Begriff „Realhistorie“ überhaupt in diesem Kontext? Gibt es auch eine nichtreale Geschichte, oder geht es womöglich darum, eine Grenze zu ziehen zwischen den vermeintlich „harten“ politischen und ökonomischen Faktoren einerseits und den sogenannten „weichen“ Faktoren wie Ideen-, Kultur- und Alltagsgeschichte andererseits?4 Nach Auffassung des Rezensenten dürften die Wechselwirkungen zwischen den „politische[n], wirtschaftliche[n] und ökologische[n] Veränderungen“ (vgl. ebd.) und den (geschichts-)kulturellen Hervorbringungen in ihrem Doppelcharakter sowohl für die Kulturaneignung als auch für die -produktion eine wichtige Rolle spielen. Geschichtskulturelle Objektivationen bilden ein Geflecht aus gesellschaftlich objektivierter und subjektiv wirklicher Sinnhaftigkeit, das als eine Art rekursive Produktivkraft auf das Geschichtsbewusstsein der sie hervorbringenden Gesellschaften zurückwirkt. Der vermeintlich „weiche“ Faktor (Geschichts-)Kultur könnte somit „realhistorisches“ Produkt und Agens zugleich sein, und nicht allein eine Folge von etwas, das als politisch oder ökonomisch „handfester“ gilt. Auch solche Fragen ließen sich im Band kontrovers diskutieren.

Eine additive Besprechung einzelner Beiträge ist an dieser Stelle weder gewünscht noch vom Rezensenten zu leisten. Deshalb sei hier eine nur kursorische Befassung mit einem Beitrag erlaubt, der sich kritisch mit der Rüsen’schen Formel „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ auseinandersetzt. Peter Geiss diskutiert die „Risiken“, die sich ein historisches Lernen einhandele, das sich zentral dem Prinzip des sinnbildenden Erzählens unterstellt (S. 251). Seiner Ansicht nach bestehe die Gefahr, dass über die Ausgangsfragen historischer Sinnbildung hinaus auch der Forschungsprozess einem lebensdienlichen Orientierungsbedürfnis unterworfen werde, weshalb er für eine „Brandmauer“ zwischen „lebensweltlich rückgebundene[r] Fragen hier“ und „methodisch strenge[r] Erarbeitung von Antworten dort“ plädiert. Im Unterschied zu dem oben beschriebenen weiten Geschichtskultur-Konzept der Herausgeber möchte Geiss eine Mauer errichten, die die „Hitze der gegenwärtigen Auseinandersetzungen aus dem Bereich der Wissenschaft“ heraushalte (S. 266f.). Seinem Plädoyer für ein „Primat der Kritik gegenüber affirmativer Geschichtskultur“ (S. 269) mag man sich gern anschließen. Ob aber Rüsens „Sinnbildungsformel“ unbedingt normativ gelesen werden muss, erscheint zumindest fraglich und eigentlich nur dann sinnvoll, wenn sie als verordnete „Sinnstiftung“ verstanden wird, wie Geiss es nach eigener Auskunft im Vortrag zur Ringvorlesung noch tat, dann aber auf Anraten der Hörerinnen und Hörer sowie eines der beiden Herausgeber in der Druckfassung durch „Sinnbildung“ ersetzt hat (S. 249, Anm. 1).

Die allen Beiträgen des Bandes zugrunde liegende diskursive Grundhaltung ist prinzipiell zu loben. Wer eine auf der Höhe der Zeit stehende Zusammenstellung aktueller gesellschaftlicher Debatten im Umgang mit Geschichte wünscht, dem sei das Buch als erkenntnisbringende Dokumentation anempfohlen. Informativ sind nicht zuletzt auch die nach allen Einzelbeiträgen im Band abgedruckten Zusammenfassungen der Diskussionen, die im Anschluss an die jeweiligen Vorträge im Rahmen der Ringvorlesungen geführt wurden. Alles in allem betrachtet gelingt es den Herausgebern recht gut, die ungewöhnliche Vielfalt an Themen, Heuristiken und methodischen Zugriffe in ihrem Band zu bändigen.

Anmerkungen:
1 Peter Schulz-Hageleit, Grundzüge geschichtlichen und geschichtsdidaktischen Denkens, Frankfurt am Main 2002, S. 100.
2 Jörn Rüsen, Geschichtskultur als Forschungsproblem, in: Klaus Fröhlich / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtskultur (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3), Pfaffenweiler 1992, S. 39–50, hier S. 39.
3 Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Wien 2013, S. 221.
4 Vgl. Simone Lässig, Zwischen Markt und Kultur? ‚Weiche‘ Faktoren in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Olaf Hartung / Katja Köhr (Hrsg.), Geschichte und Geschichtsvermittlung, Bielefeld 2008, S. 104–124.

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