Ethnographische Studien sind in der geschichtsdidaktischen Forschung eine Seltenheit. Diesbezüglich scheint es fast so, als wenn sich ethnographische Zugänge, welche kulturwissenschaftlich-entdeckend und offen-interpretativ sind, gerade in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik gleich gegenüber zwei Umständen behaupten müssen: der Omnipräsenz fachdidaktischer normativer Theoriebildung und der Dominanz sozialwissenschaftlicher qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden. So verwundert es nicht, dass bisher vorliegende ethnographische Arbeiten zu Phänomenen des Geschichtsunterrichts und der Geschichtskultur häufig von Wissenschaftler:innen außerhalb der Geschichtsdidaktik stammen.1 Auch wenn Ethnographie in der geschichtsdidaktischen Forschung und Methodenliteratur bislang wenig Raum einnimmt2, hat durchaus der im Jahr 2021 erschienene Sammelband „Ethnographie und Geschichtsdidaktik“ zur disziplininternen Profilierung ethnographischer Forschung beigetragen.3
Der eben angesprochene Sammelband wurde von Christoph Kühberger herausgegeben, der auch der Autor der zu rezensierenden Monographie „Das undisziplinierte Kinderzimmer. Ethnographische Erkundungen zur Geschichtskultur im Privaten“ ist. Darin stellt der Geschichtsdidaktiker eine ethnographische Studie vor, in der die – nahen und doch so fernen – engsten privaten Lebenswelten von Kindern, die darin befindlichen geschichtskulturellen Produkte und der kindliche Umgang mit dem Historischen erforscht wurden. Hierfür gliedert sich die Monographie in sieben Kapitel, die im Wesentlichen drei inhaltlichen Teilen zugeordnet werden können: dem autoethnographischen Auftakt und Abschluss (Kapitel 1 und 7), der Schilderung des theoretisch-methodischen Rahmens (Kapitel 2 und 3) und dem Bericht sowie der Interpretation der ethnographischen Beobachtungen (Kapitel 4, 5 und 6).
Die Monographie beginnt und endet mit autoethnographischen Reflexionen des Geschichtsdidaktikers. Diese gewähren in Kapitel 1 einen Einblick in die einstigen Kinderzimmer, den darin befindlichen Gegenständen und Spielsachen, den sozialen Beziehungen in und um jene Räumlichkeiten, das Spielverhalten und womöglich ein früheres Bewusstsein von Zeitlichkeit sowie Epochen des Autors. Die autoethnographischen Annäherungen an die eigene kindliche Spielvergangenheit und die darauffolgende Standortreflexion als ethnographisch Forschender machen transparent, vor welchem Erfahrungshorizont kindliche Lebenswelten in der Studie verstanden sowie interpretiert werden und welche Positionierung der Ethnograph gegenüber dem Forschungsgegenstand einnimmt. Allerdings hätte noch stärker expliziert werden können, wie beispielsweise das Herantasten an die eigene Kindheit und Spielvergangenheit (das heißt Orte, Gegenstände und Praktiken) auch den Zugriff und die Interpretationen in der vorliegenden Studie konkret prägen. Im autoethnographischen Abschluss in Kapitel 7 wird bekräftigt, dass die ethnographische Studie durch das Vorverständnis des Wissenschaftlers geleitet und die gemachten Beobachtungen im Feld mit den einstigen Kindheitserfahrungen sowie der autoethnographischen Reflexion in Resonanz treten. Dies zeigt sich etwa im Fokus der Studie auf die „Geschichtsdinge“ in den Kinderzimmern, die heute wie damals leichter zugänglich als Gedanken sind, oder daran, dass identifizierte geschichtsbezogene (Spiel-)Praktiken an eigene Praktiken aus der Kindheit des Autors erinnern.
In Kapitel 2 und 3 wird der theoretisch-methodische Rahmen der ethnographischen Studie aufgespannt, wobei beide Bereiche nicht strikt voneinander getrennt werden. So werden in Kapitel 2 zunächst der Forschungszugang der fokussierten Ethnographie und dessen gut durchdachte Realisierung im Feld erläutert sowie Forschungsdesiderate, welche die Studie aufgreift, benannt. Bereichernd für die geschichtsdidaktische Diskussion sind dem folgend Kühbergers theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, welche die ethnographische Studie leiten. Diese umfassen in Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss‘ Konzept des „Wilden Denkens“4 die Differenzierung in wildes beziehungsweise alltägliches historisches Denken (wie im Kinderzimmer) und stärker diszipliniertes beziehungsweise wissenschaftsorientiertes (wie in der Schule) oder wissenschaftliches historisches Denken (wie in der Universität) sowie deren Profilierung als verschiedene und doch gleichberechtigte Zugänge zu Vergangenheit und Geschichte. Aufschlussreich ist daran anschließend ebenfalls die Unterscheidung von Alltagswissen als Basis ersteren Zuganges und wissenschaftlichem Wissen als Basis letzteren Zuganges.
In Kapitel 3 verleiht Kühberger der bisher vernachlässigten Geschichtskultur im Privaten konzeptionell Gestalt und konturiert Kinderzimmer theoretisch als informelle Lernorte sowie empirisch als Untersuchungsfeld. Überleitend zu den empirischen Beobachtungen in den nächsten Kapiteln wird die methodische Herangehensweise der Studie beschrieben. Hierbei wird sowohl auf das Sampling mit dem Ziel, eine merkmalsgeleitete Bandbreite an Kinderzimmern abzudecken, um gemäß der Grounded Theory eine gegenstandsbezogene Theoriebildung zu betreiben, als auch auf das Sample eingegangen. Jene Stichprobe bestand aus 39 Kinderzimmern von Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren (zumeist aus Mittelschichtfamilien), an die man per „Schneeballsystem“ und Kontakte gelangte. Die Kinder wurden von Studierenden und dem Autor selbst im Zeitraum von Dezember 2017 bis März 2020 in österreichischen Privathaushalten besucht. In diesen Besuchen fanden aufgezeichnete Zimmerführungen, aufgenommene Interviews und begleitende Fotodokumentationen der Kinderzimmer statt, welche die Datengrundlage der Studie bilden. Dem Forschungsanliegen äußerst angemessen sind Angaben dazu, wie Eltern und Kinder informiert, ethische Aspekte berücksichtigt und Rollen der Forschenden definiert wurden. Anschaulich wird an einem solchen Besuch eine exemplarische Erhebung illustriert. Die Analyse der Daten erfolgte schließlich softwaregestützt via MAXQDA, um induktiv sowie deduktiv zu kodieren und aufgrund des Vergleichs der Fälle (beziehungsweise Kinderzimmer/Kinder) Erkenntnisse zu generieren. Das Vorgehen bei der Kodierung hätte dabei gerne ausführlicher dargestellt werden können.
Kapitel 4, 5 und 6 umfassen schließlich die ethnographischen Beobachtungen und deren Interpretation. Quantitative Befunde bilden in Kapitel 4 die Grundlage für eine erste Vermessung der Geschichtskultur in den Kinderzimmern. Sie geben einen interessanten Aufschluss über die Häufigkeit bestimmter geschichtskultureller Produkte darin und deren historischen Bezugsepochen. Zudem wird der Versuch einer Typologie von Geschichtskultur in Kinderzimmern anhand der Anzahl der sich darin befindlichen geschichtskulturellen Produkte gewagt und an exemplarischen Skizzen zu vier Kinderzimmertypen veranschaulicht. Zu bedenken bleibt dabei, ob die Quantität solcher „Geschichtsdinge“ im Kinderzimmer auch ein hinreichendes Kriterium für die Qualität der gemachten kindlichen Erfahrungen mit dem Historischen ist und sich damit für eine Typologisierung vollends eignet. In Kapitel 5 folgen tiefergehende qualitative Beobachtungen aus den Kinderzimmern. Die Führungen durch jene Räumlichkeiten und Interviews mit den Kindern dienen dazu, fünf idealtypische Formen des Spielens mit Geschichte herauszuarbeiten, deren Grenzen wahrscheinlich fließend sind, die Wahrnehmung von Zeitdifferenz der Kinder beim Spielen zu reflektieren und etwas verstreute Befunde zum kindlichen Umgang mit Vergangenheit und Geschichte zu bündeln (zum Beispiel zur räumlichen Ausbreitung der Kinder in den Haushalten oder ihrem emotional-körperlichen Erleben beim Spielen). Zwei ethnographische „Tiefenbohrungen“ zu Spielzeugritterburgen und Büchern über die Vergangenheit, die sich häufig in den Kinderzimmern fanden, runden das Kapitel zu den „Geschichtsdingen“ ab. Mit dem 6. Kapitel bewegt sich der Autor auf den Spuren des alltäglichen historischen Denkens. Genauer geht es um das Identifizieren verschiedener Praktiken der Kinder im Umgang mit Vergangenheit und Geschichte (zum Beispiel basteln und ordnen), die ein genaueres Bild von der Praxis der Geschichtskultur im Privaten zeichnen.
Die vorliegende ethnographische Studie bildet einen wichtigen Beitrag zu den Forschungsdesideraten, welche der Autor im Laufe der Arbeit selbst benennt: Erkundung der Geschichtskultur im Privaten, Beschreibung von Kinderzimmern als informelle Lernorte und deren materielle Dimension sowie Erforschung des darin stattfindenden alltäglichen Umganges von Vorschulkindern mit Vergangenheit und Geschichte. Die Studie verdeutlicht Wege und Relevanz ethnographischer Zugänge in der Geschichtsdidaktik, indem sie exemplarisch zeigt, wie eine Brücke zwischen geschichtsdidaktischer Theorie und ethnographischen Praxisbeobachtungen geschlagen werden kann und bietet durch den Fokus auf das Alltägliche wertvolle Einsichten in die Voraussetzungen, Quellen und Formen kindlicher Geschichtsaneignungen und -praktiken, die andere Forschungsmethoden nicht oder eingeschränkter bieten können. Nicht zuletzt eröffnet sie den Raum für weitere ethnographische Studien zum Umgang mit Vergangenheit und Geschichte im Kinderzimmer (zum Beispiel Einbezug der Elternperspektive durch Interviews oder Fallstudien über längere Zeiträume) und darüber hinaus.
Anmerkungen:
1 Siehe folgenden Literaturüberblick Christoph Kühberger, Geschichtsdidakitk im Ruderboot? Ethnographische Zugänge in der empirischen Forschung, in: ders. (Hrsg.), Ethnographie und Geschichtsdidaktik, Frankfurt am Main 2021, S. 11–64, hier 20–42.
2 Vgl. Manuel Köster, Methoden empirischer Sozialforschung aus geschichtsdidaktischer Perspektive, in: Holger Thünemann / Maik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (Geschichtsunterricht erforschen 5), Schwalbach am Taunus 2016, S. 9–62, hier S. 42f.; Terrie Epstein / Cinthia S. Salinas, Research Methodologies in History Education, in: Scott Alan Metzger / Lauren McArthur Harris (Hrsg.), The Wiley International Handbook of History Teaching and Learning, Hoboken 2018, S. 61–89, hier S. 71.
3 Christoph Kühberger (Hrsg.), Ethnographie und Geschichtsdidaktik, Frankfurt am Main 2021.
4 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1994 (1. Aufl. 1968).