In Wissenschaft, Öffentlichkeit und musealer Praxis sind Debatten um die Translokation von Kulturgütern im Zeitalter des europäischen Kolonialismus und Imperialismus zu einem Dauerbrenner geworden. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass das Thema je nach Museum, Disziplin, Herkunftsgesellschaft oder Objektart in ungleicher Geschwindigkeit und mit unterschiedlicher Vehemenz angegangen wird. In einer neuen Open-Access-Monographie rückt Sebastian Willert nun die Translokationen von Kulturbesitz aus dem Osmanischen Reich stärker ins Bewusstsein. Die mit mehr als 800 Seiten sehr umfangreiche Studie thematisiert die deutsch-osmanischen Konflikte um den Erwerb archäologischer Objekte im Zeitraum von 1898–1918.
Das aus einer Dissertation hervorgegangene Buch reiht sich ein in eine stetig wachsende Literatur zum Thema Archäologie und Imperialismus im Osmanischen Reich, in der immer wieder, beispielsweise im richtungsweisenden Sammelband von 2011 „Scramble for the Past. A Story of Archaeolgy in the Ottoman Empire, 1753-1914“, eine stärkere Einbindung osmanischer Quellen und anderer lokaler Perspektiven gefordert wird, um mit althergebrachten europäischen Überlieferungen zu brechen.1 Dass auch europäische Archive Material für einen kritischen Perspektivwechsel liefern können, zeigte die Publikation „Konstantinopel – Samos – Berlin. Verpfändung, Fundteilung und heimliche Ausfuhr von Antiken am Vorabend des Ersten Weltkrieges“, in der die illegale Ausfuhr diverser Antiken aus Samos durch die Königlichen Museen zu Berlin nachgewiesen wurde.2 Eine derartige „kritische Aufarbeitung der Tätigkeiten preußisch-deutscher Archäologen und Diplomaten“ (S. 25) im Osmanischen Reich stellt, wie Willert jedoch richtig feststellt, weiterhin ein Desiderat der Forschung dar. Hier schafft die Studie Abhilfe, indem sie anhand mehrerer Fallstudien die unterschiedlichen Strategien zur Sammlung oder – wie der Autor schreibt – „Inbesitznahme“ von vor allem archäologischen Objekten durch die Königlichen Museen zu Berlin beleuchtet. Doch auch die Aktivitäten osmanischer Akteure wie Osman Hamdi (1842–1910) und Halil Edhem (1861–1938) werden thematisiert, die ihrerseits aktiv den Ausbau musealer Sammlungen betrieben und sich für eine Begrenzung des Exodus von Objekten einsetzten. Ausgangspunkt ist somit die Gegenüberstellung von deutschen und osmanischen Sammlern, Archäologen, Diplomaten und Politikern, ihrer konträren Absichten und die draus resultierenden Spannungen und Konflikte.
Für die Studie wertet Willert eine beeindrucken Anzahl archivalischer Quellen aus; Hauptausgenmerk liegt dabei auf einschlägigen Quellenbeständen der Staatlichen Museen zu Berlin, des Deutschen Archäologischen Instituts, des Auswärtigen Amts, und des Bundesarchivs Lichterfelde. Die Analyse wird durch osmanisch-türkische und internationale Quellen ergänzt. Bedauerlicherweise wurden dem Autor Zugang zu wichtigen Quellenbeständen in der Türkei (Archiv des Archäologischen Museums in Istanbul), aber auch in Deutschland (Schriftwechsel Wiegand sowie Archiv der Deutschen Orient-Gesellschaft) verwehrt. Zurecht beendet Willert sein Fazit daher mit einem Plädoyer für eine Öffnung von Archiven (S. 793).
Trotz dieser Einschränkungen hat Willert auf Grundlage der ihm zugänglichen Quellen eine Darstellung geschrieben, die es in sich hat: Das erste Kapitel thematisiert insbesondere die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Aneignung von Antiken im Osmanischen Reich. Willert zeigt, dass der Geltungsbereich des bis heute in Debatten um die Rechtmäßigkeit regelmäßig bemühten Abkommens zur Fundteilung von 1899 zwischen Berlin und Istanbul höchst umstritten war und das Müze-i Hümayun als zentrale Instanz der osmanischen Antikenverwaltung lange nicht über seine Existenz informiert war. Weiter werden die Diskussionen um das verschärfte osmanische Antikengesetz von 1906 beleuchtet. Während Istanbul mit dem Gesetz versuchte, seinen Anspruch auf Antiken im osmanischen Herrschaftsbereich zu untermauern, fürchtete die deutscher Seite um den eigenen privilegierten Zugriff, leitete im Verbund mit anderen europäischen Mächten diplomatischen Protest ein und versuchte die Ausgestaltung des Gesetzes zu beeinflussen. Die neue Gesetzgebung war auch eine Reaktion Osman Hamdis auf die Ausfuhr der Mschatta-Fassade, deren Aneignung durch Berlin ebenfalls ausführlich untersucht wird. Hier zeigt Willert, dass das Geschenk des Sultans lediglich eine Genehmigung für die Abtragung der linken Fassadenhälfte umfasste, die rechte Hälfte sowie andere archäologische Objekte jedoch ohne Genehmigung ausgeführt wurden. Zudem sei die Fassade als byzantinische Ruine deklariert worden, um das Interesse der osmanischen Verwaltung an der archäologischen Stätte zu minimieren.
Diese Trickkiste deutscher Sammler und Archäologen wird im zweiten Kapitel weiter beleuchtet: Willert thematisiert die Aktivitäten Julius Löytved-Hardeggs (1847–1917) auf dem Antikenmarkt in Konya und zeigt, dass dieser wiederholt Objekte entgegen der osmanischen Gesetzgebung ausführte. Es folgt ein Unterkapitel zur Ausgrabung von Tell Halaf (1911–13), in dem der Autor ebenfalls überzeugend und mit diversen Belegen darstellen kann, wie Max von Oppenheim (1860–1946) wiederholt Funde ohne Genehmigung ausführte und wie ein Netzwerk deutscher Diplomaten den klandestinen Transport ermöglichte. In einem dritten Teilabschnitt werden die Verhandlungen um eine Überführung großer Sammlungsbestände des Istanbuler Museums nach Berlin thematisiert. Deutsche Akteure, darunter auch Theodor Wiegand (1864–1936), versuchten die Finanznot des durch Krisen und Kriege gebeutelten Osmanischen Reichs auszunutzen, um bedeutende Teile der Sammlung, darunter die Königsnekropole von Sidon durch Erwerb bzw. Verpfändung nach Berlin zu überführen. Da eine Einbindung osmanischer Quellen in diesem Teilabschnitt leider fehlt, besticht das Kapitel vor allem durch die Darstellung des Sammelwahns deutscher Akteure, die nicht davor zurückschreckten, tief in den Kulturbesitz des osmanischen Staats einzugreifen.3 Die Verhandlungen scheiterten und die archäologischen Beziehungen erreichten am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen Tiefpunkt.
In seinem letzten Hauptkapitel stellt Willert deutsch-osmanische archäologische Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs vor. So leitete Theodor Wiegand zum Beispiel das als „Denkmalschutz-Kommando“ bekannte 19. Bureau der IV. Osmanischen Armee und scheute im Rahmen dieser Tätigkeit nicht, „auf die Bestimmungen des Antikengesetzes zu verweisen, das er selbst im Rahmen seiner Tätigkeit für die Königlichen Museen regelmäßig missachtet hatte“ (S. 688). Auch Verhandlungen um eine Nachkriegsneuordnung der osmanischen Antikenverwaltung im Sinne des ägyptischen Antikengesetzes werden im letzten Abschnitt thematisiert. Das Schicksal der archäologischen Funde von Assur, Babylon, Samarra, und Tell Halaf, die in die Wirren des Ersten Weltkriegs und der anschließenden imperialen Neuordnung des Osmanischen Reichs gerieten und bis in die späten 1920er-Jahre für langwierige Diskussionen sorgten, wird erwähnt, ist jedoch nicht mehr Teil der Studie.
Der Verfasser bleibt in der Darstellung stets dicht am Boden der empirischen Tatsachen. Die Dichte der Informationen zeugt vom Tiefgang der Recherche, die Genauigkeit und Vorsicht in der Argumentation von seinem Bewusstsein um die Sensibilität des Themas. Die Lesbarkeit leidet jedoch unter der Masse an Details und die zentralen Argumente kommen im Dickicht der Schilderung nicht ausreichend zur Geltung. Insgesamt zeigt der Autor jedoch ein beeindruckendes und komplexes Geflecht von deutschen und osmanischen Sammlern, Archäologen, Diplomaten und Politikern auf, die in ihrem Streben nach „Kulturbesitz“ kooperierten und konkurrierten, Gesetze erließen, beeinflussten und oft auch brachen. Obwohl Willert die Agency der osmanischen Akteure mitdenkt und nach Möglichkeit in die Analyse einbringt, liegt das Hauptaugenmerk der Studie auf den Sammelpraktiken ihrer preußisch-deutschen Kollegen. Willert kommt zu dem Schluss, dass „illegitime Kulturverlagerungen unter preußisch-deutschen Ausgrabungsunternehmungen im Untersuchungszeitraum konstitutives Merkmal“ (S. 793) war und plädiert im Sinne einer Beweislastumkehr für eine Feststellung, „welche Grabungskampagnen nicht an den gesetzeswidrigen Entnahme- und Exportpraktiken partizipierten“ (S. 793).
In dieser Hinsicht ist es bedauernswert, dass Provenienzforschung und objektbiographische Ansätze in der Studie nur eine untergeordnete Rolle spielen, und nur sehr vereinzelt das Schicksal einzelner Objekte beleuchtet wird. Zwar schreibt Willert beispielsweise ausgiebig über eine vogelähnliche Skulptur, die als „Piepmatz“ in den zitierten Quellen Erwähnung findet (S. 365–372), führt jedoch nicht aus, ob es sich bei dem Objekt um die zoomorphe Figur „Großer Vogel auf Säule“ (VA 08979) im Vorderasiatischen Museum handeln könnte.4 Die Leser:innen bleiben so im Unklaren um welche konkreten Objekte es sich handelt. Auch dem Autor scheint diese Leerstelle bewusst zu sein, wenn er in seinen Schlussbetrachtungen eine „dezidierte Provenienzforschung“ einfordert (S. 793).
Es ist davon auszugehen, dass Debatten um die problematische und/oder illegale Aneignung archäologischer Objekte in den kommenden Jahren im Zuge der Restaurierung und Neuausrichtung des Pergamonmuseums nicht abklingen werden. Willerts wichtige Studie stellt diese Debatten auf eine fundierte, empirische Grundlage. Es wäre zu wünschen, dass die Publikation in der Museumslandschaft, Wissenschaft und interessierten Öffentlichkeit auf breites Interesse stößt und zukünftige Diskussionen mitprägt.
Anmerkungen:
1 Zainab Bahrani / Zeynep Çelik / Edhem Eldem (Hrsg.), Scramble for the Past. A Story of Archaeolgy in the Ottoman Empire, 1753-1914, Istanbul 2011.
2 Laura Puritani / Martin Maischberger / Birgit Sporleder (Hrsg.), Konstantinopel – Samos – Berlin. Verpfändung, Fundteilung und heimliche Ausfuhr am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 2022.
3 Zum gleichen Thema siehe auch den Beitrag von Gabriele Mietke, Das ‚Museumsgeschäft‘ zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich. Verhandlungen um die Verpfändung des Archäologischen Museums in Konstantinopel 1913/1914, in: Puritani / Maischberger / Sporleder (Hrsg.), Konstantinopel – Samos – Berlin, S. 14–147.
4https://recherche.smb.museum/detail/1744057/großer-vogel-auf-säule (15.10.2024).