Troia und kein Ende – kaum ein anderes Thema der Altertumswissenschaften vermag die Meinungen der Experten so tief, so dauerhaft und so emotional zu spalten, wie die Frage nach der geographischen Lokalisierung Troias und den historischen Hintergründen eines Troianischen Krieges. Im Jahr 2008 hatte Raoul Schrott mit seinem Buch „Homers Heimat“ Stoff für neue Spekulationen geliefert.1 Seine Thesen, unter anderem dass der Verfasser der Ilias aus Kilikien stamme und die dortige Burg Karatepe ihm als Vorlage für die Beschreibung Troias gedient habe, wurden in den Feuilletons zum Teil akribisch auseinandergenommen.2 Man war aber auch hier wieder mit einer bemerkenswerten Emotionalität zugange, was letztlich zeigte, dass es bei dieser Frage um weit mehr als um einen Streit unter Fachwissenschaftlern geht. Wie die Herausgeber im Vorwort zum vorliegenden Band andeuten, steht hinter der Debatte das Problem der Indienstnahme Homers für eine europäische Identität. Robert Rollinger und Christoph Ulf sehen ihren Sammelband als Möglichkeit, „die Debatte auf eine sachliche Ebene zurückzuführen“ (S. 8). Er basiert auf den Beiträgen der im November 2008 veranstalteten Tagung „Homer – Troia – Kilikien. Symposion über die Thesen von Raoul Schrott“.
Den Einstieg bilden die Beiträge der Herausgeber: Ulf fordert generell neue Ansätze in der Homer-Forschung, bislang gehe man an Homer immer wieder heran, um ein bestehendes Bild bestätigt zu finden (S. 12). Indem Ulf die Debatten um die Entstehung der homerischen Epen noch einmal nachvollzieht, steckt er die Entfaltungsmöglichkeiten neuer Fragestellungen ab. Einer dieser neuen Ansätze beschäftigt sich mit der „kulturpolitischen Situation“, die dazu veranlasste, Texte wie die Ilias und Odyssee abzufassen. Ulf sieht diese „kulturpolitische Situation“ in der Herausbildung einer hellenischen Identität gegeben, welche die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit notwendig machte (S. 22). Rollinger wendet dann den Blick nach Osten und fragt nach den Einflüssen aus dem Gebiet, das wir – und wohlgemerkt nicht der Ilias-Dichter – als „Orient“ bezeichnen. Der Entstehungsprozess der Texte sei gewiss durch Kulturkontakte mit dem Orient geprägt. Aber letztlich sei er, so Rollinger, „um ein Vielfaches komplexer“ als von Schrott angenommen (S. 39).
Um nun diese Komplexität leichter zu durchdringen, erweist sich als hilfreich, dass die weiteren Beiträge in größere Themenblöcke gegliedert sind. Im ersten Block werden die „Naturräumlichen Gegebenheiten“ in ihrem Verhältnis zur Ilias betrachtet. Dieter Hertel zeigt dabei auf, dass Homer die Troas nicht nur oberflächlich kennt, wie Schrott behauptet, sondern über ein detailliertes Wissen zum Gebiet verfügt (S. 57). Dabei erörtert er Konvergenzen und Divergenzen zwischen dem epischen Troia und dem viel umstrittenen Hügel Hisarlık. Dort verorte Homer sein Troia, so Hertel, nicht in Kilikien. Doch wie sieht es mit dem Kulturkontakt zwischen Griechen und der in Kilikien lebenden Bevölkerung aus, der für Schrotts These zentral ist? Marion Meyer und Wolfgang Röllig legen für diese Frage ebenfalls einen negativen Befund vor. Auf Basis des archäologischen Materials aus Karatepe, für Schrott das eigentliche Troia Homers, ließe sich weder auf eine Zuwanderung von Mykenern bzw. Griechen noch auf tiefgreifende Einflüsse aus dem Westen schließen. Doch woher bezieht Homer seine „orientalischen Anregungen“ (S. 36), wenn nicht aus einem vom Kontakt nach Osten geprägten kilikischen Umfeld? Josef Wiesehöfer weist in dieser Frage Kilikien neben Phönikien und Nordsyrien durchaus eine gewisse Bedeutung als Kontaktraum zu. Jedoch sollte dieser Befund nicht überbewertet werden; Wiesehöfer geht vielmehr davon aus, dass die Griechen in vorpersischer Zeit weniger über Anatolien nach Mesopotamien gereist seien, sondern den Seeweg bevorzugt hätten.
Ein nächster Block thematisiert das „historisch-politische Umfeld“ und dessen möglichen Einfluss auf das Epos. Erwägt werden dabei Verbindungen zu Ägypten (Francis Breyer), den Hethitern (Stefano di Martino), den Assyrern (Giovanni B. Lanfranchi) und Zypern (Andreas Mehl). Bei Schrott nimmt gerade Zypern als Vermittlungspunkt zwischen Griechenland und Kilikien eine zentrale Funktion für die Ausgestaltung des Sagenstoffs in den Kypria ein. Mehl jedoch zeigt, dass Zypern im relevanten Zeitraum durch die politische Organisation des Neuassyrischen Reiches zwar Kontakte zu Phönikien, nicht aber zu Kilikien unterhielt. Dass sich der Name des Sagenstoffes von der Insel Zypern herleite, sei unwahrscheinlich (S. 217) – eine Meinung, die so nicht von jedem vertreten wird (vgl. den Beitrag von Burkert, S. 419).
Auf die von Schrott bemühten sprachlichen Belege, wie Namen, Ortsbezeichnungen und Personennennungen, gehen die Beiträge von Ivo Hajnal und Gerd Steiner ein. Hajnal stellt dabei zunächst eine mögliche Methode etymologischer Beweisführungen dar, um an wenigen Beispielen methodische Ungenauigkeiten bei Schrott aufzudecken. In einem weiteren Schritt stellt er die für Schrott grundlegende sprachliche Gleichsetzung des keilschriftlichen „Ahhiiaua“ mit den homerischen „Achaioi“ und deren Anbindung an Kilikien in Frage. Steiner geht allgemeiner vor, indem er die „Griechen-Hypothese“, also die Annahme von griechischen Namen in hethitischen Keilschrifttexten, in ihren unterschiedlichen Phasen nachvollzieht und eine Lokalisierung einzelner Orte unternimmt. Einen Zusammenhang zwischen griechischen und hethitischen Namen sieht er jedenfalls nicht gegeben.
All diese Beweisführungen bekräftigen die Haltung, den Ilias-Text als Dichtung und damit auch als fiktives Gebilde zu verstehen, wobei ein historisches Ereignis als Ausgangspunkt der Erzählung damit nicht unbedingt ausgeschlossen werden muss. Ähnlich argumentiert auch Schrott, worauf Wolfgang Kofler genauer Bezug nimmt. Kofler beobachtet, wie Schrott den Text immer wieder historisch kontextualisiert, indem er von einer Intertextualität zwischen Ilias und Gilgamesh-Epos auf einen historischen Dichter Homer schließt, der das Gilgamesh-Epos gekannt habe. Hätte Schrott verstärkt nach der Funktion der aufgefundenen parallelen Motive gefragt, so Kofler, wäre er „dem von ihm selbst immer wieder hervorgehobenen Kunstwerkcharakter der Ilias gerechter geworden“ (S. 316). Den fiktionalen Charakter der Ilias führt auch Martin L. West auf nicht ganz unironische Weise vor Augen, indem er selbst die Lebensgeschichte des Ilias-Dichters in Form eines – zwar kurzen, aber dafür in sich schlüssigen – Romans erzählt. Im selben Themenkomplex erörtert Georg Danek, wie die Ilias aus einer mündlichen Erzähltradition entstehen konnte. Während sich Kofler, West und Danek dem Verhältnis von Fiktion und Historizität vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern, greift Kurt Raaflaub demgegenüber eine für die Alte Geschichte relevante Auseinandersetzung auf, welche schon immer die Frage nach der Historizität der „homerischen Gesellschaft“ mitbestimmt hat. Man versuchte zu erklären, wie die Helden Homers gleichzeitig in der Hoplitenphalanx und mit Streitwagen kämpfen konnten. Anhand der Schlachtenbeschreibungen in der Ilias beleuchtet Raaflaub die epische Erzählweise in ihrem Verhältnis zu einer historischen Realität des Kampfes. Raaflaub unterscheidet dabei zwischen heroischen Beschreibungen und einer sogenannten Normalschlacht. Letztere stelle ein „dem Publikum zeitnahes und vertrautes Element“ (S. 363) dar, während er die Streitwagen eher in einen „unwahrscheinlichen und unrealistischen Zusammenhang eingebettet“ (S. 357) sieht, der dazu diene, die einzelnen Helden zu präsentieren.
Ein letzter großer Themenblock greift wieder die Frage nach der Komplexität der Kulturkontakte zwischen Ägäis und Orient auf. Einige bereits angerissene Probleme kehren dabei zurück, auch die Frage, welche Gegenden sich in der Ilias wiederfinden, wird erneut erörtert. Johannes Haubold kommt zu dem Ergebnis, dass sich Homer zwar für das Lykien des Sarpedon interessiert habe, dass aber eine besondere Verbindung zwischen der Ilias und Kilikien nicht nachzuweisen sei. Barbara Patzek befasst sich mit Schrotts These einer Prägung Homers durch altorientalische Texte, und Walter Burkert geht den unterschiedlichen Möglichkeiten und Orten des Aufeinandertreffens von Griechen und Orientalen nach. Der Band schließt mit dem Beitrag von Justus Cobet, der den Streit um Homers Ilias in den Kontext einer Vereinnahmung Homers durch Europa verortet. Diese sei einer sich seit der Antike fortsetzenden Rezeption geschuldet, in der sich dann auch eine nach-homerische Erdteilung zwischen Europa und Asien verfestigt habe, was letztlich auch die Emotionalität der Diskussion erkläre.
Den Aufsätzen schließt sich jeweils ein eigener Fußnotenapparat und eine Bibliographie an, was mühsames Blättern angesichts des Gesamtumfangs des Bandes erspart. An manchen Stellen wäre jedoch weiteres Kartenmaterial von Vorteil gewesen. Zugute kommt dem Band seine weitreichende Interdisziplinarität. Der „klassisch geprägte“ Althistoriker sieht sich so gezwungen, weit über den Rand des griechisch-römischen Kulturkreises hinauszublicken, um „seinen“ Homer innerhalb der griechischen Frühgeschichte neu zu verorten oder um dessen angestammten Platz zu behaupten. Dass für die Geschichte der frühen Griechen ein größeres Gebiet als die Ägäis betrachtet werden muss, ist keine neue Erkenntnis. Die Notwendigkeit dazu erscheint jedoch nach der Lektüre des Sammelbandes umso dringlicher.
Anmerkungen:
1 Raoul Schrott, Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe, München 2008.
2 Der Buchveröffentlichung war ein breit angelegter Artikel in der FAZ vorausgegangen (Raoul Schrott, Homer hat endlich ein Zuhause – in der Türkei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2007). Eingehende Reaktionen erfolgten u.a. durch Joachim Latacz (Poeten wissen, was man mit dem Material alles anstellen kann, in: Süddeutsche Zeitung, 3.1.2008) und Stefan Rebenich (Ein ehrgeiziges Migrantenkind, leider kastriert, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.3.2008).