Buchproduktion, Leseverhalten und Literaturbetrieb zwischen 1933 und 1945 bilden einen essenziellen Bestandteil des kulturellen Lebens in der NS-Zeit. Materialgesättigte Rekonstruktionen dieser Felder eröffnen nicht nur aufschlussreiche Perspektiven für kultur- und zeitgeschichtliche Forschungen, sondern sehen sich zugleich komplexen Verhältnissen gegenüber, deren Beschreibung und Deutung noch immer eine Herausforderung darstellt. Und zwar aus mehreren Gründen.
Zum einen dokumentieren die Prozesse zur Neuformierung des Buchmarktes und des Literaturbetriebs nach 1933 die politisch induzierten Umstellungen von einer mehr oder weniger demokratisch verfassten Kulturlandschaft zu einer Mediendiktatur, die den Ansprüchen eines autoritären Regimes verpflichtet war, jedoch auf eingeführte Größen des literarischen Lebens und Pluralität ebenso wenig verzichten konnte wie auf länderübergreifende Austauschbeziehungen. International erfolgreiche Werke wie „Vom Winde verweht“ von Margaret Mitchell oder „Wind, Sand und Sterne“ von Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des „Kleinen Prinzen“, der im Kampf gegen die NS-Luftwaffe abgeschossen wurde, avancierten in Nazi-Deutschland mit ca. 300.000 bzw. 135.000 verkauften Exemplaren ebenso zu Bestsellern wie die Romane von Ehm Welk oder Ernst Wiechert, deren Autoren (kurzzeitig) in Konzentrationslager gebracht worden waren.
Zum anderen demonstrieren die unterschiedlichen staatlichen und parteiamtlichen Behörden zur „Schrifttumspflege“ mit ihren Kompetenzstreitigkeiten jene Verfasstheit des NS-Staates, die bereits frühzeitig als „Polykratie“ beschrieben wurde. Recherchen nach den Mechanismen der Kontrolle und Reglementierung – von der Erfassung und Manipulation der schreibenden Akteure über die Steuerung der Verleger und Buchhändler bis hin zur Beeinflussung der Leser – sowie nach den sich eröffnenden Freiräumen erhellen Verfahrensweisen eines Herrschaftssystems, das auf vielfältige Weise versuchte diverse Differenzierungsleistungen der Moderne einzuebnen, deren Institutionen und Personen aber doch auch immer wieder benötigte. Auch deshalb waren Karrieren wie etwa die des Dichter-Verlegers Alfred Richard Meyer möglich, der mit seinem zwischen 1907 und 1923 erschienenen Publikationsformat „Lyrisches Flugblatt“ (mit Titeln von Gottfried Benn, Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Alfred Lichtenstein und andere) einen wesentlichen Beitrag zur Verlagsgeschichte des Expressionismus geleistet hatte und seit 1922 als Vorsitzender des Kartells Lyrische Autoren wirkte: Nachdem er seit 1930 die Lyrische Fachgruppe im Schutzbund deutscher Schriftsteller und die Geschäfte der Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums geleitet hatte, wurde er 1935 als Referent in die Reichsschrifttumskammer übernommen und stieg im April 1941 zum Leiter der Abteilung II („Schriftsteller und Schrifttumspflege“) in der rund 12.000 Mitglieder umfassenden Berufsorganisation auf.
Nicht zuletzt gewähren Untersuchungen zum Buchkonsum und Lese-Verhalten weitreichende Einsichten in mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen. Denn Bücher und die Umgangsformen mit den in ihnen gespeicherten Erfahrungen und Ideen verraten viel über das Selbstverständnis der daran beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und Akteure. Um diese Konditionen der kulturellen Bedeutungsproduktion beschreiben und erklären zu können, bedarf es nicht nur substantieller Informationen über individuelle Lektüren, sondern auch überzeugender Modelle zur Deutung von nicht immer einfachen Wirkungsverhältnissen.
Die hier anzuzeigenden Bücher markieren den inzwischen erreichten Reflexionsstand in der Erforschung eines Gegenstandsbereichs, der aufgrund seiner komplexen Dimensionen und Konsequenzen stets auch politisch-moralische Urteile herausgefordert hat. Mit historischem Abstand und souveräner Reflexion der eigenen Standorte rekonstruieren Jan-Pieter Barbians grundlegende Untersuchung (die eine umfassende Neubearbeitung seiner erstmals 1993 erschienenen Arbeit „Literaturpolitik im ‚Dritten Reich‘. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder“ darstellt1) und die für ein breiteres Publikum konzipierte Darstellung von Christian Adam die zentralen Aspekte in der NS-Schrifttumspolitik im Spannungsfeld von politischen Lenkungsansprüchen und langfristig wirksamen Traditionsbindungen, von ideologischen Imperativen und marktwirtschaftlichen Konditionen. Die investigative Untersuchung zum Leseverhalten des Diktators aus der Feder des Harvard-Absolventen Timothy W. Ryback belegt dagegen die Faszination des Schreckens, die noch heute von materialen Zeugnissen der Lektüre-Biographie Hitlers ausgeht: In der Darstellung von zehn Büchern aus Hitlers Bibliothek – die an seinen drei privaten Wohnsitzen in München, Berlin und auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden rund 16.300 Bände umfasste und in Überresten an der Rare Book Division der Library of Congress und an der Brown University in Providence sowie in antiquarisch zirkulierenden Einzelexemplaren erhalten ist – eröffnet er diskutable Perspektiven auf die Zusammenhänge von Lese-Erlebnissen und weltanschaulich-politischer Meinungsbildung.
Alle drei zu besprechenden Werke profitieren in unterschiedlicher Weise von einem Vorgehen, das die komplexen Beziehungen zwischen Kulturpolitik und literarischem Leben, Zeit- und Ideengeschichte in den Blick nimmt, ohne dabei in ideologiekritisch verkürzte Zuweisungen zu verfallen. Zugleich demonstrieren sie die Fruchtbarkeit einer Kulturgeschichtsschreibung, die nach den Relationen zwischen postulierten Ansprüchen bzw. Selbstdarstellungen des Regimes und ihren Resultaten fragt und auf monokausale Erklärungsmodelle zur Erfassung des keinesfalls monolithischen Charakters der NS-Schriftumspolitik verzichtet.
Wenn es im Folgenden darum geht, die gewonnenen Ergebnisse zu bilanzieren, sollen zunächst in übergreifender Perspektive wichtige neue Einsichten und Perspektiven markiert werden, um in einem anschließenden Abschnitt weiterführende Fragen zu formulieren.
1. Das Buch als Wirtschaftsfaktor
Vor allem die Darstellungen von Christian Adam und Jan-Pieter Barbian dokumentieren die kaum zu überschätzende Rolle des Buches und der Buchproduktion für Kultur und Wirtschaft in der NS-Zeit. Denn auch zwischen 1933 und 1945 nahm Deutschland sowohl hinsichtlich der jährlichen Gesamtproduktion als auch in Bezug auf die Titelanzahl der Neuerscheinungen die Spritzenposition in Europa ein. Im Jahr 1940 gab es 22.289 Neuerscheinungen bei einer Gesamtauflagenhöhe von 242 Millionen Exemplaren, die im Folgejahr 1941 auf knapp 342 Millionen Exemplare gesteigert werden konnte (Barbian, S. 429). Welche ökonomische Bedeutung die Buch- und Zeitschriftenproduktion hatte, belegen weitere Zahlen: Die rund 3.500 deutschen Verlage zahlten 1937 rund 40 Mill. RM an Honoraren, 30 Mill. RM für Papier, 80 Mill. RM für Druckarbeiten, 10 Mill. RM für Klischees und 40 Mill. RM für Buchbindearbeiten. Die Buchbranche speiste damit rund 200 Mill. RM in die deutsche Volkswirtschaft ein. Die produzierten Bücher hatten einen Verkaufswert von insgesamt 650 Mill. RM und sicherten dem Buch in der Warenstatistik nach Steinkohle und Weizen den dritten Rang. Im deutschen Einzelhandel erzielten die rund 10.000 Sortimentsbuchhandlungen und der in Leipzig konzentrierte Zwischenbuchhandel einen Jahresumsatz von 483 Mill. RM – was den Verkauf von Büchern nach Zigaretten, Frauen- und Mädchenbekleidung zum drittbesten Ergebnis verhalf. Das Buchgeschäft war zugleich ein über die Reichsgrenzen hinausreichender Wirtschaftsfaktor: Vor dem Krieg wurden jährlich Bücher im Wert von mehr als 22 Mill. RM ausgeführt, während die Büchereinfuhr im Wert von 7,698 Mill. RM deutlich darunter lag (Barbian, S. 21f.). Vergegenwärtigt man sich zudem die Dichte von Bibliothekseinrichtungen im Deutschen Reich (zu den Staats-, Landes- und Hochschulbibliotheken kamen rund 9500 Stadt- und Volksbüchereien in kommunaler Trägerschaft), dann werden die Dimensionen der hier verhandelten Verhältnisse deutlicher: Sie zeigen, dass dem individuell zu rezipierenden Buch im Vergleich zu den „modernen“, kollektiv wirksamen Medien Film und Rundfunk keineswegs geringere Bedeutung zukam. Im Gegenteil: Das Buch behauptete auch in der Zeit der NS-Herrschaft einen eminenten kulturellen und wirtschaftlichen Status, bevor die in den 1950er-Jahren einsetzende Bilderflut des Fernsehens und die sich ausbreitende Populärkultur die auf Papier und Druckerschwärze gebaute Welt von Lesern nachhaltig verändern sollten.
Vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Parameter gewinnen die von Christian Adam aufgeführten Verkaufszahlen von Büchern besondere Signifikanz: Seine Auflistung der „10 erfolgreichsten Buchtypen im Dritten Reich“ verzeichnet nicht nur den „beispiellosen Erfolg“ von „Rohstoffromanen“ wie beispielsweise „Anilin“ von Karl Alois Schenzinger, der erstmals 1937 erschien und bis Kriegsende in 920.000 Exemplaren verkauft wurde, bevor er im Mai 1951 die Marke von 1,6 Millionen überschritt (S. 87). Adam erfasst auch zahlreiche weitere Bestseller, die nach dem Ende der NS-Herrschaft gut verkauft wurden – von Ehm Welks Roman „Die Heiden von Kummerow“ (der mit 730.000 verkauften Exemplaren auf Rang drei der bestverkauften Romane im „Dritten Reich“ gelangte) bis zum Ratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, der erstmals 1934 im rassenkundlich ausgewiesenen J. F. Lehmanns Verlag erschienen war, es bis Kriegsende auf eine halbe Million verkaufte Exemplare brachte und – vom Attribut „deutsch“ und anderen zeittypischen Elementen befreit – sich bis 1987 1,2 Millionen Mal verkaufte (S. 106).
2. Kontinuierliche Entwicklungen, neue Formate
Seine immense kulturelle und wirtschaftliche Bedeutsamkeit behauptete das Buch im NS-Staat auch deshalb, weil vorangegangene Differenzierungsprozesse und medientechnische Entwicklungen fortgesetzt wurden. Innovative Gattungsentwicklungen wie das bereits in den 1920er-Jahren verbreitete populäre Sachbuch erreichten, wie Christian Adam nachdrücklich zeigt, ein Niveau, an das nach 1945 angeschlossen werden konnte. „Rohstoffromane“ wie Schenzingers bis 1973 gedrucktes Buch „Anilin“, biographische „Tatsachenromane“ und diverse Varianten einer Ratgeber-Literatur partizipierten an Mustern, die bereits in der Zeit der „Neuen Sachlichkeit“ entworfen worden waren und nach dem Ende der Diktatur – von allzu deutlichen Zeitbezügen befreit – erfolgreich weiterverwendet werden konnten. Auch das „moderne Unterhaltungsbuch“ (Adam, S. 175) setzte in den 1930er- und 1940er-Jahren fort, was insbesondere im Jahrzehnt zuvor begonnen worden war. Nun freilich unter Bedingungen medientechnischer Neuerungen und veränderter politischer Umstände, deren weitreichende Auswirkungen aber nicht artikuliert wurden: „Auch hier wieder kein Bezug auf Nazi-Deutschland“, konstatiert Christian Adam hinsichtlich des erstmals im Frühjahr 1939 erschienenen Brief-Bild-Buches „Ich an Dich“ von Dinah Nelken, das – extrem aufwendig produziert und durch eingeklebte Fotos, faksimilierte Billets und Notizzettel den Eindruck eines privaten Albums vermittelnd – „als einer der Urahnen jener Batterien von Geschenk- oder Gimmick-Büchern gelten kann, die heute die Regale der Buchhandlungen füllen“ (S. 181f.).
Die große Nachfrage nach diesem Band – der bis zum Ende des „Dritten Reiches“ über 200.000 Mal verkauft wurde – erwuchs, wie Adam gleichfalls feststellt, zum einen aus der Erfahrung der Trennung, die zahlreiche Paare nach dem Beginn des von Nazi-Deutschland entfesselten Krieges machen mussten, zum anderen aus der rasch realisierten Verfilmung unter dem Titel „Eine Frau wie Du“ mit Brigitte Horney in der Hauptrolle, die die Reichweite des Buches multiplizierte. Während es Literaturverfilmungen seit der Frühphase des Kinos gegeben hatte, können die medialen Verbundsysteme, wie sie sich in der NS-Zeit formierten, als ein Novum gelten: Das „Wunschkonzert für die Wehrmacht“, eines der modernsten Radioformate in der NS-Zeit, wurde – ebenfalls im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMfVP) – von einem mit zahlreichen Illustrationen versehenen Buch sekundiert, bevor im Dezember 1940 der gleichnamige Spielfilm in die Kinos kam und mit 23 Millionen Zuschauern zum zweiterfolgreichsten NS-Unterhaltungsfilm avancierte. Und auch eine weitere medientechnisch innovative Buchumgangsform entstand in der NS-Zeit: Im Juli 1939 kam es zur „vermutlich ersten Fernseh-Buchbesprechung weltweit“ (S. 317); und zwar in einem Setting, das noch heutige TV-Rezensionen kennzeichnet: Formatfüllende Präsentation des Buchcovers, wechselnde Kameraeinstellungen auf Sprecher und Experte, „Einspieler“ mit illustrierenden Szenen. Dass als Gegenstand dieser ersten Buchwerbung im neuesten Massenmedium, dessen Grundlagen im „Dritten Reich“ entscheidend weiterentwickelt wurden, ausgerechnet ein Band über die „Judenviertel Europas“ gewählt wurde, wertet Christian Adam als Ausdruck der Ambivalenzen der NS-Herrschaft: „technisch avanciert, moralisch-menschlich verkommen“ (ebenda).
Doch gab es im diversifizierten Medien- und speziell im Buchmarkt auch starke Kontinuitäten: Traditionsreiche Wissenschaftsverlage wie Walter de Gruyter oder Duncker & Humblot wirkten ebenso weiter wie konfessionell gebundene Verlage wie Herder, Kösel und Pustet, Ferdinand Schöningh oder der 1937 nach Markkleeberg bei Leipzig übersiedelte Verlag von Karl Rauch, in dem nicht nur die gesammelten Werke von Eugen Gottlob Winkler (der sich 1936 aus Angst vor erneuter Verhaftung das Leben genommen hatte), sondern auch die Werke von Antoine de Saint-Exupéry erscheinen konnten. Die von Jan-Pieter Barbian dokumentierten Versuche zur „Auskämmung“ konfessioneller Verlage, die mehrfach und mit unterschiedlichen Mitteln unternommen wurden, führten zu keiner entscheidenden Schwächung dieses Marktsegments (Barbian, S. 138–140). Nicht zu vergessen bleiben schließlich wichtige Editionsprojekte, die das kulturelle Erbe sichern und den Zusammenbruch der NS-Herrschaft überdauern sollten: Sowohl die vor Kriegsbeginn von Julius Petersen projektierte Schiller-Nationalausgabe – deren erster Band nach Querelen um die Einleitung von Friedrich Beißner 1943 erscheinen konnte – als auch die 1943 begonnene Große Stuttgarter Ausgabe der Werke Hölderlins, die massive Unterstützung durch das RMfVP erfuhr, konnten nach Kriegsende fortgeführt werden, nun alimentiert durch die neue französische Besatzungsmacht bzw. durch Kultur- und Forschungsförderungseinrichtungen der BRD und der DDR, die die Schiller-Nationalausgabe zu einem der wenigen gesamtdeutschen Wissenschaftsprojekte machten.
Die Fortsetzung der Buchpolitik unter den Bedingungen der NS-Herrschaft wirkte sich auch auf ein groß angelegtes Editionsvorhaben aus, das noch in der Zeit der Weimarer Republik begonnen worden war und im „Dritten Reich“ seine vielgestaltige Blüte erlebte, bevor es (nach Zerstörung der Verlagsstadt Leipzig) in der Nachkriegszeit eingestellt wurde: das verlegerische Großprojekt „Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen“ aus dem Verlag Philipp Reclam, dessen epochenspezifisch gegliederte Textsammlungen von der Mystik bis zum Realismus es auf 110 Bände brachte. Namhafte Universitätsgermanisten, aber auch Repräsentanten der nationalsozialistischen Kulturpolitik wie der „Reichsdramaturg“ Rainer Schlösser verpflichteten sich zur Erstellung umfangreicher Text-Kompilationen, die mit zum Teil umfänglichen Einleitungen und Erläuterungen einen repräsentativen Querschnitt durch die deutsche Literatur bieten sollten. Die Realisierung des ehrgeizigen Projekts erwies sich jedoch als schwierig und nur partiell erfolgreich.2 Die aufgrund des beispielhaften Engagements von Paul Kluckhohn abgeschlossene Reihe „Romantik“ demonstriert zugleich die ambivalenten Resultate der politischen Zwänge: Während der 1933 veröffentlichte Band 7 den Roman „Florentin“ von Moses Mendelssohns Tochter Dorothea Veit enthielt (und damit den ersten Neudruck seit 1801 bot), durfte ein von Josef Körner entdecktes und zum Druck vorbereitetes Notiz-Heft von Friedrich Schlegel nicht erscheinen: Unter Hinweis auf den jüdischen Editor und die nun herrschenden Verhältnisse strich Hauptherausgeber Heinz Kindermann es aus dem Programm. Bezeichnenderweise erschien Band 1 dieser Reihe „Romantik“ – Ende 1943 gesetzt, während des Luftangriffs auf Leipzig im Dezember 1943 zerstört und trotz Kluckhohns Engagements vor der Einstellung der Verlagstätigkeit im August 1944 nicht wiederhergestellt – 1950 im neuen Verlagsort Stuttgart und markierte das Ende der Textsammlung.
3. Reglementierung und Manipulation
Die Hinweise auf die erzwungenen Änderungen im Umgang mit Büchern und Texten zeigen, dass mit dem Übergang von der Weimarer Republik zum „Dritten Reich“ mehr verbunden war als nur ein Regierungswechsel. Die mit dem Begriff „Gleichschaltung“ umschriebenen Vorgänge zielten auf nicht weniger als auf eine Transformation des kulturellen Lebens, das sich den politischen Imperativen der neuen autoritären Ordnung unterordnen sollte. Dazu bedurfte es staatlicher Behörden und polizeilicher bzw. sicherheitsdienstlicher Kontrollorgane sowie ideologiekontrollierender Instanzen, die über die Einhaltung weltanschaulicher Vorstellungen wachten. Wie diese Institutionen funktionierten, zeigt die grundlegende Übersichtsdarstellung von Jan-Pieter Barbian in eindringlicher Weise: Sie behandelt (a) das Wirken staatlicher Behörden, namentlich das RMfVP (zu dem noch immer keine monographische Gesamtdarstellung vorliegt), der Reichsschrifttumskammer innerhalb der Reichskulturkammer, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und das Auswärtigen Amt; (b) die Tätigkeit polizeilicher bzw. sicherheitsdienstlicher Kontrollorgane, also von Gestapo und SD; (c) die wichtigsten parteiamtlichen Dienststellen und (d) den Schrifttumsapparat der Wehrmacht. Ebenso sorgfältig widmet er sich den Mechanismen der Kontrolle und Reglementierung: von der personenbezogenen Erfassung der Schriftsteller und der Kontrolle der Verleger sowie Sortimenter bis hin zur Steuerung der Buchauswahl in öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken. Dabei kann er bestätigen, dass die Kontroll- und Steuerungsinstitutionen keineswegs perfekt und lückenlos arbeiteten. Selbst die Entscheidungsstrukturen waren uneinheitlich, da es aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten zwischen staatlichen und parteiamtlichen Dienststellen und ihren Mitarbeitern nur schwer gelang, Zielstellungen und Mittel zu synchronisieren. Dennoch erwies sich dieses System als „effektiv und brutal genug, offenen Widerstand unter den Schriftstellern zu verhindern oder einzudämmen“ (Barbian, S. 406).
Wie skrupellos der NS-Staat mit den Gegnern seiner Politik umging, zeigt der von Barbian partiell dokumentierte Fall des 1938 auf Goebbels’ Befehl ins KZ Buchenwald eingelieferten Schriftstellers Ernst Wiechert (der bei Christian Adam leider nicht erscheint, obwohl seine Werke ebenfalls zu den Bestellern des „Dritten Reiches“ gehörten). Aufgrund seines Romans „Der Totenwolf“ (1924) von den Nationalsozialisten zunächst für einen verwandten Geist gehalten, waren seine nach 1933 veröffentlichten Werke uneingeschränkt positiv aufgenommen worden. Die am 16. April 1935 gehaltene Münchner Universitätsrede „Der Dichter und die Zeit“, in der Wiechert die Kultur- und Erziehungspolitik des Regimes kritisiert hatte, und sein Einsatz gegen die KZ-Verschleppung von Pastor Martin Niemöller führten zu einer Aktion, die den brutalen und zynischen Umgang des Regimes mit Schriftstellern eindringlich belegt. Im Mai 1938 wurde er verhaftet und für drei Monate in Buchenwald interniert. „So ein Stück Dreck will sich gegen den Staat erheben“, kommentierte der Reichspropagandaminister am 4. August 1938 in seinem Tagebuch. Am 30. August ließ er sich den Bestseller-Autor vorführen und hielt ihm nach eigenen Worten eine „Philippica, die sich gewaschen hat“: „Ich dulde auf dem von mir betreuten Gebiet keine Bekenntnisfront. Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. Der Delinquent ist am Schluss ganz klein und erklärt, seine Haft habe ihn zum Nachdenken und zur Erkenntnis gebracht. Das ist sehr gut so. Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.“3 Angesichts dieser auch von Wiechert selbst dokumentierten Drohung scheint das weitere Verhalten des prominenten Schriftstellers ebenso irritierend wie sein literarisches Wirken: Im Oktober 1938 nimmt der Autor am Deutschen Dichtertreffen in Weimar teil; sein 1939 in München erschienener Roman „Das einfache Leben“ – der den Rückzug des Korvettenkapitäns a. D. Thomas von Orla aus der Großstadt in die Einsamkeit der masurischen Seen schildert – erzielt bis 1942 eine Auflage von über 250.000 Exemplaren.
4. Buchmarkt, Pluralität, Meinungsbildung
Ebenso deutlich wie die Mechanismen der Kontrolle und Manipulation zeigen Barbian und Adam die fortbestehende marktwirtschaftliche Ausrichtung des Buch- bzw. Literatursystems. Auch nach der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen und der Schließung linker Verlage gab es neben den Unternehmen im Parteibesitz (Franz Eher Nachfolger, Verlag der DAF, HVA, Langen-Müller-Verlag) eine Reihe mittelständischer Unternehmen mit z. T. langer Tradition: vom Verlag C. Bertelsmann bis zur Verlagsbuchhandlung Georg Westermann, von Hermann Böhlau bis Rütten & Loening. Ob die weiterhin funktionierenden Mechanismen der Marktwirtschaft zur Wahrung jener „Freiräume“ im nationalsozialistischen Staat beigetragen haben, deren irritierende Facetten bereits auf dem Klappentext von Christian Adams flott geschriebenem Sachbuch annonciert werden – „Doch wer hätte gedacht, dass man in den Dreißigern noch Huxleys ‚Brave New World‘ lesen konnte, Werner Bergengruens durchaus kritisches Buch ‚Der Großtyrann und das Gericht häufig‘ gekauft wurde [...]?“ –, ist eine der Fragen, zu deren weiterer Klärung die vorliegenden Veröffentlichungen einladen. Weitere Fragen, die sich angesichts dieser Publikationen zur Buchgeschichte in NS-Deutschland stellen, ergeben sich aus dem Problem der Interpretation der materialgesättigten Befunde. Wie sind die festgestellten Diskrepanzen zu deuten: Als Ausdruck eines „gespaltenen Bewusstseins“, wie es bereits der Regensburger Germanist Hans-Dietrich Schäfer in seinen Untersuchungen zur Lebenswirklichkeit zwischen 1933 und 1945 demonstriert hatte, oder als Symptome einer auch im Spannungsfeld politischer Lenkungsansprüche fortwirkenden Modernisierung? Und welche Konsequenzen hatte das auch im Umgang mit Büchern und ihren Wissensbeständen zu beobachtende Nebeneinander von rationaler Akzeptanz moderner Differenzierungsprozesse und regressiven Anstrengungen zu deren Aufhebung?
Diese Fragen nach den Wirkungen von Büchern werden in besonderer Weise durch die Publikation von Timothy W. Ryback hervorgerufen, der sich mit dem „Führer“ der NS-Bewegung einen intensiven Leser vorgenommen hat. Aus der – wie erwähnt äußerst umfangreichen – Bibliothek Adolf Hitlers hat er zehn Bücher ausgewählt, um in ihrer umfassenden Kontextualisierung das „Denken“ des Lesenden zu rekonstruieren. Dabei entsteht nicht nur eine intellektuelle Biographie des Mannes, der als Meldegänger an der Westfront im November 1915 einen Architekturführer für Berlin aus der Feder des Kunsthistorikers Max Osborn kaufte. Ryback entwirft auch ein Panorama der divergierenden antimodernen Bewegungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die sich in besonders intensiver Weise des Buches bedienten, um ihre Ideen zu propagieren – von Dietrich Eckart (der „seinem lieben Freund“ Adolf Hitler seine Übersetzung von Ibsens „Peer Gynt“ widmete) bis zu Sven Hedin (dessen Buch „Amerika im Kampf der Kontinente“ der Diktator im Oktober 1942 las). Auch wenn sich einzelne Kapitel an vorliegende Darstellungen anlehnen und etwa das Kapitel 6 „Bücherkriege“ über die Versuche des österreichischen Bischofs Alois Hudal zur Spaltung der NS-Bewegung weitgehend dessen eigener Darstellung der Ereignisse folgt,4 liegt mit diesem Buch ein weiterer wichtiger Versuch vor, die eklektische Weltanschauung des führenden Nationalsozialisten zu rekonstruieren.
Abschließend lässt sich feststellen, dass diese Bücher über Bücher zum Lesen einladen und für die weitere Forschung wegweisend sind. Sie verbinden historische Informationen mit einer besonderen Sensibilität für die Bedeutungen des mehrfach dimensionierten Mediums „Buch“ innerhalb eines diversifizierten kulturellen Feldes – was sie nicht nur zur wertvollen Ergänzung von bereits vorliegenden Forschungen zu Ideologieproduktion und Literaturpolitik in der NS-Zeit macht, sondern zu künftig unverzichtbaren Büchern prädestiniert.
Anmerkungen:
1 Die nun in der von Walter H. Pehle herausgegebenen Buchreihe „Die Zeit des Nationalsozialismus“ bei Fischer erschienene Darstellung ist eine Neubearbeitung von Barbians Standardwerk, das zuerst 1993 im Verlag der Frankfurter Buchhändlervereinigung sowie zwei Jahre darauf als erweitertes Taschenbuch bei dtv erschien. Neben dem reduzierten Umfang (552 statt über 900 Seiten in der dtv-Ausgabe) überzeugen die übersichtliche Gliederung des Materials und der Preis.
2 Die auf 20 Bände veranschlagte Reihe „Klassik“ (Herausgeber Emil Ermatinger), die Reihe „Irrationalismus / Sturm und Drang“ (20 Bde. geplant, Herausgeber Heinz Kindermann) und die Reihe „Eroberung der Wirklichkeit“ (40 Bde. geplant, Herausgeber Heinz Kindermann) wurden kaum begonnen. Andere Reihen wie „Ältere Mystik“ (5 Bde. geplant, Herausgeber Josef Quint), „Neuere Mystik und Magie“ (7 Bde. geplant, Herausgeber Hans Ludwig Held), „Erneuerung des griechischen Mythos“ (5 Bde. geplant, Herausgeber Wolfgang Schadewaldt), „Nationalpolitische Prosa von der Französischen Revolution bis zur deutschen Erhebung“ (6 Bde. geplant, Herausgeber Rainer Schlösser) blieben Projekt. Abgeschlossen wurden dagegen die Reihen „Barocklyrik“ (3 Bde., Herausgeber Herbert Cysarz), „Barockdrama“ (6 Bde., Herausgeber Willy Flemming), „Aufklärung“ (15 Bde., Herausgeber Fritz Brüggemann) und „Romantik“ (24 Bände, Herausgeber Paul Kluckhohn).
3 Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil 1: Aufzeichnungen 1923–1943, Bd. 6, München 1998, S. 32 (Aufzeichnung vom 4. August 1938), S. 64 (Aufzeichnung vom 30. August 1938); bei Barbian S. 214.
4 Alois C. Hudal, Römische Tagebücher. Lebensbeichte eines alten Bischofs, Graz, Stuttgart 1976, S. 107–151. Für diesen Hinweis danke ich herzlich PD Dr. Peter Stachel, Wien.