Zeitnah zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise veröffentlicht Morris Dickstein das vorliegende Überblickswerk zur Kulturgeschichte der Großen Depression in den Vereinigten Staaten. Das fast 600 Seiten umfassende Werk gibt einen Einblick in die Vielfalt kulturellen Ausdrucks in Zeiten der größten (nicht-militärischen) Krise des 20. Jahrhunderts. "Dancing in the Dark" besteht aus vier Teilen: “Discovering Poverty”; “Success and Failure”; “The Culture of Elegance” und “The Search for Community”. Mehr als ein Drittel ist den unterschiedlichen literarischen Werken, allen voran dem ‚proletarischen Roman’ gewidmet. Anhand der Werke von Michael Gold, Henry Roth, Erskine Caldwell und John Steinbeck wird Migration, ländliche Armut, aber auch das Leben in den Immigrantenvierteln der Großstädte dargestellt. Eindrucksvoll zeigt Dickstein zum Beispiel anhand der Sozialfotografie von Margaret Bourke-White, Dorothea Lange und Walker Evans auf, wie sehr das ökonomische und politische Klima zur Politisierung der Kunst nicht nur beitrug, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit Themen wie Armut und inneramerikanischer Migration auch vorantrieb. Gleichzeitig verdeutlicht Dickstein, dass der Dokumentarismus entscheidend dazu beigetragen hat, die Armut im Land, die es vielerorts auch vor der Depression gegeben hatte, überhaupt erst sichtbar zu machen. Dies traf (und trifft auch heute) besonders auf African Americans zu. Die Politik des New Deal trug entscheidend dazu bei, die Situation afroamerikanischer Sharecropper noch weiter zu verschlechtern. Dickstein diskutiert daher die Arbeiten Zora Neale Hurstons, die lange Zeit in Vergessenheit geraten war, aber auch und besonders Richard Wrights „Native Son“.
In den folgenden Teilen und Kapiteln untersucht Dickstein die Obsession der Kultur des Erfolgs, die zu einer Art von Religion wurde. Diese manifestierte sich in den 1930er-Jahren im Mythos des Amerikanischen Traums, dem in der Krise auch die aufstrebende Mittelklasse schnell zum Opfer fiel. Dickstein widmet sich auch dem vielzitierten Eskapismus der Ära, besonders der leichten Unterhaltung der Musicals mit Ginger Rogers und Fred Astaire. Er nimmt die Erscheinungen modischer Eleganz und des Designs der 1930er-Jahre unter die Lupe und entreißt damit die Populärkultur einer abschätzigen Beurteilung.
In „Dancing in the Dark“ ist neben einer Begeisterung für die Literatur und Musicals der 1930er-Jahre eine deutliche Affinität zur Kultur der 1950er- und 1960er-Jahre zu spüren. Dickstein gelingt es, interessante Verbindungen zwischen der Literatur und Kunst der 1930er-Jahre und ihrem Einfluss auf nachfolgende Künstler-Generationen, wie beispielsweise die Beat Generation, aufzuzeigen.1 Die Diskussion von Verfilmungen literarischer Werke kommt dabei ebenfalls nicht zu kurz. Eindrucksvoll flicht Dickstein die bekannten Geschichten der bestehenden, aber auch der entstehenden sozialkritischen und widerständigen Kultur der 1930er-Jahre zusammen. Für Dickstein spielt es keine Rolle, ob diese Werke in ihrer Zeit relevant waren; wichtig ist ihm unter anderem die gegenwärtige Perzeption der Großen Depression.2 Dicksteins Fokus sind die Bücher, Musik, Filme, Musicals und Fotografien „that speak for their times yet still speak intimately to us today.“ (S. 11) Damit reiht er sich in eine lange Reihe von Veröffentlichungen zur Großen Depression ein – allein in den letzten zehn Jahren sind über 80 Monografien und Sammelbände nur in englischer Sprache erschienen. Eine Vielzahl beschäftigt sich mit den literarischen, dokumentarischen und künstlerischen Werken der Zeit, die auch in „Dancing in the Dark“ behandelt werden.3 Das Vergleichswerk für die (auch) deutschsprachigen Leserinnen und Leser des Bandes von Morris Dickstein ist „Amerikanische Träume“ von Richard Nate.4 Letzteres ist sehr viel stärker auf ein akademisches Publikum zugeschnitten, und Nate setzt sich anders als „Dancing in the Dark“ verstärkt mit Schlüsselbegriffen der neueren Kulturgeschichte wie Mythos, Wahrheit und Dekonstruktion auseinander, gleichzeitig ist die Geschichte der Kultur der Großen Depression sehr viel stärker im politischen Kontext und der institutionellen Geschichte des New Deal verankert. Kurz gesagt, „Dancing in the Dark“ ist kurzweiliger, aber „Amerikanische Träume“ ist übersichtlicher und vermittelt mehr politische und soziale Zusammenhänge.
„Dancing in the Dark“ ist ein ambivalentes Buch. Einerseits ist das populärwissenschaftlich geschriebene Werk vergnüglich zu lesen, es macht Lust darauf, die literarischen und filmischen Werke der Zeit wieder oder neu zu erkunden. Andererseits ist „Dancing in the Dark“ nicht frei von Widersprüchen, Redundanzen, und Längen, letzteres trifft zum Beispiel auf den Umgang mit John Steinbecks „Grapes of Wrath“ zu. Dem Roman wird die größte Aufmerksamkeit zu Teil, leider weniger durch Analyse, als durch langatmige Inhaltsbeschreibungen. Als Überblickswerk für ‚uneingeweihte’ Leserinnen und Leser ist es nur bedingt zu empfehlen. Die Struktur des Buches ist nicht immer eindeutig und weist einige editorische Mängel auf. Wichtige Termini und Bewegungen, wie beispielsweise die „Popular Front“, werden erst sehr spät (in Kapitel 12) eingeführt.5 Die „Volksfront“ war eine internationale linke Massenbewegung, deren künstlerische Ausdrucksformen in den 1930er-Jahren gelegentlich als hegemonial bezeichnet wurden. Bemerkenswert ist, dass Dickstein den Einfluss der Popular Front in den USA sehr viel höher einschätzt, als gemeinhin angenommen.
Die Kapitel in Dicksteins Überblickswerk sind zwar sehr schön mit Fotografien der Zeit illustriert, doch leider bleibt es bei der reinen Illustration. Spätestens seit dem „pictorial turn“ versucht die neuere Kulturgeschichte, Bilder als eigenständige Quellen hervorzuheben. Auf die verwendeten Fotos wird, wenn überhaupt, nur an verstreuten Stellen Bezug genommen, eine Analyse der Bilder sucht man vergebens. Richard Nate hingegen setzt sich in „Amerikanische Träume“ kritisch mit der Symbolhaftigkeit bestimmter Bilder der „Farm Security Administration“ auseinander.6 Nate zeigt beispielsweise auf, wie ein Foto von Margaret Bourke-White zum Symbol der Großen Depression wurde. Auf dem Foto ist eine Plakatwand zu sehen, auf der ironischerweise der „American Way“ und „World’s Highest Standard of Living“ angepriesen wird, während davor African Americans Schlange stehen, um Essen und Kleidung zu erhalten. Bei den Anstehenden handelt es sich aber nicht um arbeitslose African Americans in einer der für die Depression typischen Brotschlangen, sondern um Opfer einer Überschwemmung im Ohio-Tal im Februar 1937.7
„Dancing in the Dark“ ist zwar ein Überblickswerk, erhebt jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Für Dickstein ist es wichtig, dass sein persönlicher Zugang zur Geschichte der kulturellen Produktionen der 1930er-Jahre deutlich wird. Dies zeigt sich auch in seinen Ausführungen zur „Popular Front“. In Kapitel 12 erzählt er ausführlich, welche Formen linker Sozialisation er in den 1940er- und 1950er-Jahren erfahren hat und welchen Einfluss das repressive Klima der 1950er-Jahre auf seine persönlichen Interessen hatte. Die Leserin bekommt somit nicht nur einen Einblick in die behandelte Dekade, sondern auch in die wissenschaftliche Sozialisation des Autors. In einem Vorwort hätten diese autobiografischen Einschübe weniger irritierend gewirkt.
Eine feministische oder gar queer-feministische Perspektive (trotz des vielversprechenden Titels von Kapitel 16: „Gender Trouble“) findet sich in „Dancing in the Dark“ nicht. Dennoch, das Buch lässt sich auf vielerlei Arten und zu vielerlei Zwecken lesen, als literatur- und kulturgeschichtliche Seminarvorbereitung ebenso wie als historischer Schmöker, der alles bietet, Information, literarische Beschreibungen geschmückt mit autobiografischen Einschüben und ein bisschen Klatsch und Tratsch aus Hollywood.
Anmerkungen:
1 Dickstein hatte bereits in den 1970er-Jahren ein Überblickswerk über die Kultur der 1960er-Jahre und ihrer Vorläufer verfasst. Morris Dickstein, Gates of Eden: American Culture in the Sixties, Cambridge, MA 1997 (mit neuer Einleitung des Autors).
2 Betrachtet man z.B. die Sozialfotografie der „Farm Security Administration“, so haben diese die retrospektive Wahrnehmung der Großen Depression entscheidend beeinflusst, der tatsächliche Verbreitungsgrad der Fotografien in den 1930er-Jahren war jedoch erheblich kleiner, als man heute annehmen würde.
3 Siehe z.B. William Young und Nancy Young, The Great Depression in America: A Cultural Encyclopedia, Westport, CN 2007; Cecilia Bucki, Social History of the United States: the 1930s, Santa Barbara, CA 2009; Gavin Jones, American Hungers: The Problem of Poverty in U.S. Literature, 1840-1945, Princeton 2007.
4 Richard Nate, Amerikanische Träume: Die Kultur der Vereinigten Staaten in der Zeit des New Deal, Würzburg 2003.
5 Zur Popular Front siehe z.B. Michael Denning, The Cultural Front: The Laboring of American Culture in the Twentieth Century, New York 1997.
6 Nate, Amerikanische Träume.
7 Ebd., S. 136f.