Es existieren drei grundsätzliche Ansätze, Mathematikgeschichte eines beliebigen Raumes und einer beliebigen Zeit zu schreiben, der chronologische, der fächerspezifische und der ideengeschichtliche. Jeder dieser Ansätze birgt augenscheinlich eine Vielzahl von Problemen in sich: Im chronologischen werden durch Periodisierungen Akzente gesetzt, durch die bestimmte zeitliche Abschnitte oder geographische Räume extrem vernachlässigt werden; zudem finden hier ideengeschichtliche Entwicklungen häufig zu wenig Berücksichtigung oder das Werk ist gespickt mit Redundanzen. Der fächerspezifische Ansatz läuft Gefahr, den modernen Fächerkanon auf Epochen rückzuprojizieren, denen diese Einteilungen fremd waren. Im ideengeschichtlichen Ansatz verlieren sich zu schnell die Bezugspunkte Zeit und Raum, parallele und ineinandergreifende Entwicklungen entrücken dem Fokus. Einen Ausweg aus diesem Dilemma hat der brillante Mathematikhistoriker Otto Neugebauer mit seinem 1979 in Wien erschienen Werk Ethiopic astronomy and computus1 aufgezeigt, in dem er die seiner Meinung nach relevanten Themen alphabetisch anordnete. In dieser Tradition scheint sich auf den ersten Blick auch die nun vorgelegte Monographie von Wolfgang Hein zur Mathematik im Mittelalter zu bewegen, zumindest suggeriert dies der Untertitel Von Abakus bis Zahlenkampfspiel. Aber im Buch selbst schlägt Hein erfolgreich einen anderen Weg ein. Ihm gelingt es mit erstaunlicher Leichtigkeit, ideengeschichtlich-mathematische Konzepte in fächerspezifischen Kategorien zu diskutieren, ohne dabei die Chronologie aus den Augen zu verlieren, schafft somit eine Synthese der oben genannten Ansätze. Hain ist damit seinem Anspruch, einen „Beitrag zur Kulturgeschichte“ (oder eher Mentalitätsgeschichte) (S. 7) vorzulegen, vollauf gerecht geworden.
Nach einer Darstellung der antiken Grundlagen (S. 11-42) diskutiert Hein die Entwicklung des Quadriviums im Frühmittelalter unter besonderer Berücksichtigung des primären Impulses für die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften im christlich-monastischen Kontext dieser Zeit, des Wunsches nämlich nach numerischer Erkenntnis des göttlichen Schöpfungswerkes (S. 43-74). Im dritten Abschnitt wechselt der Fokus vom theoretischen Diskurs des Fächerkanons zur Anwendung frühmittelalterlicher Mathematik (S. 75-109). Handelt dieser Teil von Umgang mit numerischen Größen, so geht der vierte Abschnitt ganz in mittelalterlicher Tradition auf das Verhältnis derselben zueinander ein (S. 110-126); Proportionslehre manifestierte sich vornehmlich in der Musik, eine praktische Umsetzung fand sie in der Architektur, und so bewegt sich dieser Teil konsequenterweise im Hochmittelalter, in dem die Musik im 11. Jahrhundert, die Architektur im 12. Jahrhundert (mit dem Beginn gotischer Kathedralbauten) eine Blüte erfuhr. Im fünften Abschnitt wird knapp die Parallelentwicklung in der arabischen Welt skizziert, um dann die fundamentale Bedeutung der Übersetzungen griechischer und arabischer Texte im 12. und 13. Jahrhundert für die Herausbildung einer mathematischen Wissenschaft im modernen Sinne darzulegen (S. 127-159). Durch die naturphilosophischen, scholastisch geprägten Diskurse der aufkommenden Universitäten sei Autoritätshörigkeit durch kritische Auseinandersetzung mit der Materie ersetzt worden, was die Grundvoraussetzung für die bahnbrechenden Studien des Jordanus Nemorarius im 13. Jahrhundert gebildet habe. Der letzte Abschnitt erörtert dann die Anwendung der neugewonnenen Erkenntnisse auf physikalische Sachverhalte, wobei vor allem auf die mathematische Modellierung von Naturphänomenen durch Approximationsverfahren hingewiesen wird, für die besonders Nikolaus von Kues maßgebend gewesen sei (S. 160-184). Abgerundet werden können hätte dieser elegante Ein- und Überblick in und über die mittelalterliche Mathematik durch ein abschließendes Kapitel zu den mittelalterlichen Grundlagen der modernen Mathematik, das der interessierte Leser leider vergeblich sucht. Den Abschluss bildet ein knappes Literaturverzeichnis (S. 185-189) sowie ein Personen- und Sachregister (S. 191-196).
Innerhalb der einzelnen Kapitel gelingt es Hein auf geradezu meisterhafte Art, auch dem in mathematischen Belangen nicht geschulten Leser einen konzisen Überblick über den Inhalt der bedeutendsten Texte sowie anhand exzellent ausgewählter Beispiele einen verständlichen Einblick in den mathematischen Horizont des Mittelalters zu vermitteln. Die wesentliche Leistung dieser Monographie besteht aber zweifelsohne in einer (längst überfälligen) Perspektivverschiebung, die als geradezu revolutionär betrachtet werden muss. Die klassischen Handbücher zur Mathematikgeschichte bieten fast durchgängig denselben chronologischen Aufbau: Zunächst werden die frühen Hochkulturen thematisiert, dann die griechische Antike, gefolgt von den letzten Jahrhunderten des römischen Reiches; für das Mittelalter werden zunächst die arabischen Leistungen dargelegt, dann die auf der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts fußende Weiterentwicklung griechischer und arabischer Wissenschaften in Westeuropa, bevor der Großteil dieser Standardwerke sich den einzelnen Errungenschaften der Moderne widmet. Somit wird der westlichen Mathematik des Zeitraums von ca. 550 bis 1100 in diesen Werken so gut wie kein Raum gegeben, sie wird einfach durch die arabische Mathematik überlagert und damit übergangen. Hein widmet hingegen über 80 seiner 180 Seiten diesem Gegenstand. Hierbei profitiert er von den bahnbrechenden Studien Menso Folkerts, wie er selbst im Vorwort vermerkt (S. 7), und es kann nur gehofft werden, dass sowohl Folkerts Arbeiten als auch Heins Monographie dazu führen werden, auch das lateinische Früh- und Hochmittelalter in der Wissenschafts-, zumal in der Mathematikgeschichte ernst zu nehmen.
Dennoch ist auch Heins Ansatz nicht frei von Problemfeldern. Das wesentlichste ist ein strukturelles. Seiner Studie liegt die weitverbreitete Grundüberlegung zugrunde, dass durch das gesamte Mittelalter das Quadrivium als der wesentliche Fächerkanon angesehen wurde. Für das Spätmittelalter relativiert Hein diese Vorstellung berechtigterweise selbst, indem er eindringlich darauf hinweist, dass mit dem Aufkommen der Universitäten die Fächer des Quadrivium nur noch als Grundwissenschaften angesehen, wirkliche Wissenschaft aber außerhalb ihres Rahmens betrieben wurde. Für das Frühmittelalter suggeriert Hein jedoch eine prägende Rolle dieses Vier-Fächer-Kanons, die so nicht existierte. Das Quadrivium als Teil der Artes liberales war ein ideelles Konstrukt, dessen Diskussion vorläufig mit Cassiodor um die Mitte des 6. Jahrhunderts endete und dann in den letzten Zügen der karolingischen Renaissance, besonders am Hofe Karls des Kahlen um die Mitte des 9. Jahrhunderts, wiederaufgenommen wurde. Auch danach war die Theoretisierung dieses Konzeptes zunächst nur wenigen Angehörigen der geistigen Elite überlassen, die eigentliche (Natur-)Wissenschaft vom 6. bis zum 10. Jahrhundert war der Computus. Dies lässt sich einwandfrei an den erhaltenen Handschriften belegen, stehen doch hunderte von Computushandschriften dieser Zeit einer ab der Mitte des 9. Jahrhunderts zugegebenermaßen immer größer werden, aber nicht im Ansatz ähnlich bedeutsamen Zahl an Martianus-Capella-Handschriften gegenüber. Handschriften zu den Quadriviumsfächern Arithmetik, Geometrie oder Astronomie finden sich hingegen kaum. Den Computus somit zusammen mit beispielsweise Alcuins (?) Propositiones ad acuendos iuvenes in die Sektion zur angewandten Mathematik des Frühmittelalters (Abschnitt 3) zu setzen, wird der Sache, und vor allem einem Verständnis der Zeit ca. 550-850, nicht gerecht. Vielmehr war die Mathematik, insbesondere die Arithmetik, Teil des allumfassenden Computus, der sich interessanterweise gerade in den ersten zwei mittelalterlichen Jahrhunderten (dem 6. und 7.) fast ausschließlich als mathematisch-theologische – und nicht als astronomische – Wissenschaft verstand. Eine Geschichte der Mathematik im Mittelalter muss somit dem Computus, zumal für das 6. bis 9. Jahrhundert, mehr Rechnung tragen.
Diese Kritik soll Heins Leistung nicht schmälern. Er hat mit seiner Monographie einen außergewöhnlich großen Schritt in Richtung eines Verständnisses der mittelalterlichen, besonders der frühmittelalterlichen naturwissenschaftlich-mathematischen Ideenwelt geleistet. Hierauf gilt es in Zukunft aufzubauen und das Bild zu verfeinern oder weiter zurechtzurücken. Für den interessierte Leser und für Studenten bietet Heins Buch einen idealen Einstieg in die mathematische Gedankenwelt des Mittelalters, für den Forscher einen weiterzuverfolgenden Ausgangspunkt.
Anmerkung:
1 Otto Neugebauer, Ethiopic astronomy and computus, Wien 1979.