A. Kleineberg u.a. (Hrsg.): Germania und die Insel Thule

Cover
Titel
Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios' "Atlas der Oikumene"


Autor(en)
Kleineberg, Andreas; Marx, Christian; Knobloch, Eberhard; Lelgemann, Dieter
Erschienen
Anzahl Seiten
IV, 131 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gyula Papay, Historisches Institut, Universität Rostock

Die vorliegende Publikation entstand durch interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes. Die Autoren sind der Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch (Präsident der European Society for the History of Sciences), die Geodäten M.A. Andreas Kleinberg und Dipl.-Ing. Christian Marx (Institut für Geodäsie und Geoinformationstechnik der Technischen Universität Berlin) und der emeritierte Professor für Astronomische und physikalische Geodäsie Dieter Lelgemann (Technische Universität Berlin). Zur Archäologie Germaniens wurde Dr. Hans-Jörg Nüsse (Freie Universität Berlin) beratend herangezogen. Das Hauptziel des Projektes bestand darin, die von Klaudios Ptolemaios (um 100 – um 170) in seinem „Geōgraphikē Hyphēgēsis“ (nachstehend „Geographie“) angegebenen Koordinaten geographischer Objekte, wie zum Beispiel Siedlungen, Flussmündungen und Berge, die auf dem Gebiet von Germania Megalē (lateinisch Germania Magna) und auf Anrainergebieten (wie zum Beispiel Gallia Belgica, Raetia und Noricum) lagen, zu entzerren. Das ist wahrhaft eine äußerst schwierige Aufgabe, die die Wissenschaft seit mehreren hundert Jahren beschäftigt, die aber bisher nicht gelöst werden konnte.

In dem ersten einleitenden Kapitel wird die „Geographie“ vorgestellt. Hier werden die Quellen von Ptolemaios, seine Verfahrensweise bei der Bestimmung der geographischen Koordinaten sowie Probleme der Ortsidentifizierung beschrieben. Aus diesen Darlegungen geht klar hervor, warum die Verortung der antiken Koordinatenangaben in einem modernen Koordinatensystem so schwierig ist und warum die bisherigen Versuche so starke Divergenz aufweisen. Dabei werden die Schwierigkeiten durch die Annahme, dass Ptolemaios für das Gebiet Germaniens auch Karten verwendete (zum Beispiel S. 7), sogar untertrieben. Ptolemaios gibt zwar an, dass zu seinen Quellen auch Karten gehörten, aber für das Gebiet Germaniens lässt sich das weitgehend ausschließen. Ebenso lässt sich ausschließen, dass Ptolemaios für das Gebiet Germaniens astronomische Ortsbestimmungen vorlagen. Die Lokalisierung der Orte erfolgte primär auf der Grundlage von Itinerarien, die die Ortsentfernungen beinhalteten. Diese Angaben waren unsystematisch ungenau, demzufolge lassen sich die Koordinaten von Ptolemaios keineswegs systematisch entzerren. In der vorliegenden Publikation wird trotzdem eine Methode zur systematischen Entzerrung vorgeschlagen, die sogar als „geodätisch“ bezeichnet wird (S.11). Die Kritik der Methode soll später ausführlicher erläutert werden.

Die Kapitel 2–5 enthalten die Resultate der Entzerrung. Diese Kapitel weisen dieselbe Grundstruktur auf. Zunächst werden die Besonderheiten des betreffenden Gebietes bezüglich der Ortsidentifizierung dargelegt. Darauf folgen die tabellarische Auflistung der antiken Koordinaten und ihre Transformation. Anschließend werden die Identifizierungen kommentiert, die neben der Entzerrung auch aufgrund archäologischer Informationen vorgenommen wurden. Diese Kommentare sind der umfangreichste und wertvollste Teil der vorliegenden Publikation, da hier bisherige Identifizierungsvorschläge umfassend aufgelistet werden. Jedes Kapitel wird mit einer bibliographischen Übersicht über die Forschungsliteratur abgeschlossen. Die Resultate werden auch kartographisch dargestellt.

Das 6. Kapitel wird einem besonders schwierigen, seit Jahrhunderten ungelösten Problem, der Identifizierung der Insel Thule, gewidmet. Es wird mit der norwegischen Insel oder Inselgruppe Smøla ein völlig neuer Identifizierungsvorschlag präsentiert. Im Anhang werden die Transformationsparameter aufgeführt. Das Nachwort enthält einige resümierende Bemerkungen und eine kurze Charakteristik der Projektionen von Ptolemaios. Auch hier wird die in der Literatur verbreitete, aber unzutreffende Auffassung, dass diese Projektionen Kegelprojektionen seien, wiedergegeben. Die Projektionen von Ptolemaios entstanden jedoch durch ein sehr kompliziertes Optimierungsverfahren, und sie sind den Kegelprojektionen nur äußerlich ähnlich.1

Der Untertitel der vorliegenden Publikation ist nicht zutreffend, denn es handelt sich hier nicht um die Entschlüsselung von Oikumene-Karten, sondern um den Entschlüsselungsversuch eines Teils der ptolemäischen Koordinaten. Außerdem entstanden die ältesten überlieferten Karten, die auf den ptolemäischen Koordinaten basieren, wesentlich später. Sie wurden nicht als „Atlas“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde von Gerhard Mercator am Ende des 16. Jahrhunderts geprägt. Die auf dem Schutzumschlag gegebene Einschätzung des Werkes steht in krassem Widerspruch zum eigentlichen Inhalt. Es wird verschwiegen, dass die sogenannten „revolutionären“ Ergebnisse viele Unsicherheiten enthalten. Die Autoren selbst stufen in der Tabelle mit den entzerrten Koordinaten auf dem Gebiet von Germania Magna 84% der Identifizierungen als unsicher ein. Daher ist die Feststellung: „Das Weltbild der Antike muss hierdurch mit völlig neuen Augen betrachtet werden!“ nicht haltbar und enthält eine latente Ignoranz der Bedeutung bisheriger Ptolemaios-Forschung. Das äußert sich beispielsweise auch darin, dass das von Alfred Stückelberger und Florian Mittenhuber herausgegebene Standardwerk2 in den Anmerkungen lediglich peripher tangiert wird, obwohl es als wichtige Grundlage für die Untersuchung der antiken Koordinaten diente.

Wie bereits angedeutet, ist die Entzerrungsmethode selbst kritisch zu betrachten. Bei Entzerrung historischer Karten kann man mit der Methode der Georeferenzierung sehr gute Ergebnisse erzielen.3 Sie lässt sich jedoch für die Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten außerhalb des Römischen Reiches nicht verwenden, da sie das Vorhandensein einer hinreichenden Anzahl identischer Orte oder geographischer Punkte in der historischen und in der modernen Karte voraussetzt. Die Georeferenzierung wird nicht als geodätische Methode bezeichnet, noch weniger verdient diese Bezeichnung die Methode, die zur Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten verwendet wurde. Es handelt sich dabei um die Ausgleichsrechnung, die in der Geodäsie zur Eliminierung von Messfehlern dient. Zur Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten lässt sich diese Methode so wie in der Geodäsie nicht für die Gebiete außerhalb des Römischen Reiches verwenden, da die ptolemäischen Koordinaten hier keinen Systemcharakter aufweisen. Die Grundidee, dass bestimmte Orte mit unterschiedlichen Translationsparametern und Maßstabsparametern entzerrt werden müssten, ist zwar richtig, doch lässt sich die Annahme nicht verifizieren, dass die ptolemäischen Koordinaten des Untersuchungsgebietes Ortsgruppen mit homogener Verzerrung enthalten. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, wie die Ausgleichsrechnung konkret zur Ermittlung solcher Ortsgruppen verwendet wurde. Die Bemerkungen dafür sind zu lakonisch: „Die Suche nach Transformationseinheiten erfolgt kombinatorisch. Dabei werden die Orte eines Startgebietes so lange miteinander kombiniert, bis eine maximale konsistente Ortsgruppe gefunden wird.“ (S. 12) Es ist völlig rätselhaft, wie zum Beispiel in der Mitte von Germanien, wo die ptolemäischen Koordinaten mit großen Unsicherheiten behaftet sind, eine „maximale konsistente Ortsgruppe“ ermittelt werden konnte. Der vorliegenden Publikation wurde auch keine konkrete Berechnung beigefügt. Damit entzieht sich die angewendete Entzerrungsmethode jeglicher Überprüfungsmöglichkeit.

Die Koordinatenentzerrung diente zunächst zur Ermittlung des Gebietes, innerhalb dessen der zu identifizierende Ort liegt. Die endgültige Ortsidentifizierung erfolgte dann aufgrund von Publikationen über archäologische Befunde. Dabei ist augenfällig, dass dafür vor allem auf deutschsprachige Literatur zurückgegriffen wurde. So blieben Forschungsergebnisse nichtdeutscher Provenienz weitgehend unberücksichtigt. Das kann mit einem konkreten Beispiel belegt werden. Celamantia gehört zu den ganz wenigen Orten in der Tabelle zu Germania Magna (S. 31), deren Koordinaten (18° 14’ und 47° 45’) als sicher bezeichnet wurden. Demzufolge wurde dieser Ort mit Leányvár (bei Komarno) identifiziert. Die archäologische Forschung schließt jedoch eine solche Identifizierung definitiv aus.4 Dieses Beispiel belegt zugleich, dass die Identifizierungsresultate, zum Teil sogar diejenigen, die als sicher angegeben werden, mit Vorsicht zu betrachten sind.

Die vorliegende Publikation kann nicht den Anspruch erheben, die ptolemäischen Koordinaten entschlüsselt zu haben. Sie bereichert lediglich die bisherige Vielzahl der Identifizierungsvorschläge für Germanien und die Anrainergebiete. Der Identifizierung von Thule kann nicht einmal eine solche Wertung eingeräumt werden, denn sie ist weitgehend spekulativ, und daher ist sie äußerst fragwürdig.

Anmerkungen:
1 Gyula Pápay, Die Entwicklung der Kartennetzentwürfe in der Antike aus wissenschaftshistorischer Sicht, in: Wolfgang Scharfe (Hrsg.), 6. Kartographiehistorisches Colloquium Berlin 1992, Berlin 1994, S. 101-108.
2 Alfred Stückelberger / Florian Mittenhuber (Hrsg.), Klaudios Ptolemaios. Handbuch der Geographie, Teil 1 und Teil 2, Basel 2006; dies., Ergänzungsband mit einer Edition des Kanons bedeutender Städte, Basel 2009.
3 Ein gutes Beispiel für die präzise Entzerrung von alten Karten legte kürzlich Lutz Kreßner mit seiner Dissertation vor: Digitale Analyse der Genauigkeit sowie der Erfassungs- und Darstellungsqualität von Altkarten aus Mecklenburg-Vorpommern, dargestellt an den Kartenwerken von Wiebeking (ca. 1786) und Schmettau (ca. 1788), Rostock 2009 (<http://rosdok.uni-rostock.de/resolve?urn=urn:nbn:de:gbv:28-diss2009-0183-3&pdf;pdf>).
4 Klára Kuzmova / Ján Rajtár, Iža Leányvár fort, in: Zsolt Visy (Hrsg.), The roman army in Pannonia. An archeological guide of the ripa Pannonica, Pécs 2003, S. 194-196.