Der Holocaust in Litauen ist bedeutsam, da hier etwa 200.000 Menschen zumeist in der so genannten „ersten Welle“ der Massenmorde im Spätsommer 1941, lange vor der Wannseekonferenz im Januar 1942, unter Mithilfe Einheimischer ermordet wurden und das Land als Versuchsfeld des Judenmords gelten kann. Beispielhaft hierfür standen für viele Historiker bisher die Ereignisse vom 27. Juni 1941, als etwa 40 Juden im Hof der Liekutis-Garage in Kaunas auf bestialische Weise von Litauern zu Tode geprügelt wurden. Bekannt ist das Foto eines jungen Mannes mit groben Stiefeln, des „Totschlägers von Kaunas“ (Wette), der vor den Leichen mit einer Eisenstange posierte. Fotografien spielen seit dem 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Prägung von historischen Bildern und Bewusstsein und manche Fotos, die immer wieder publiziert wurden, erreichen ikonographische Bedeutung. Das Scheitern der ersten Wehrmachtsausstellung aufgrund von falsch zugeordneten Fotos von Leichenbergen – Täter war in einigen Fällen die sowjetische Staatssicherheit und nicht deutsche Akteure – veranschaulichte aber auch die Gefahr solcher Foto-Ikonen. Im Falle Litauens gelten die Fotos aus der Liekutis-Garage als Beleg für den litauischen Antisemitismus und das Phänomen antisemitischer Pogrome im vorauseilenden Gehorsam durch Litauern vor der Ankunft der Deutschen im Juni 1941. Ähnlich wie in den anderen baltischen Staaten Lettland und Estland erschienen bisher einige wenige wissenschaftliche Studien zum Holocaust in Litauen, die zwar die Beteiligung litauischer Partisanen, Polizisten und Schutzmänner thematisierten, aus denen aber die deutsch-litauische Interaktion, die Entschlussbildung und die litauische Motivation nicht hervorging.
Christoph Dieckmann hat nun eine umfangreiche, geradezu enzyklopädische Arbeit zur deutschen Besatzung in Litauen vorgelegt, von der man die Antwort auf die Frage der litauischen Beteiligung erwarten kann. Die Arbeit ist weit mehr als eine überarbeitete Form der Dissertation Dieckmanns, der auch für die litauische Historikerkommission tätig war. Im Grunde forscht Dieckmann zu diesem Thema seit über 15 Jahren.
Nach seinen Angaben sind die litauische Beteiligung einerseits und andererseits die Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen seine Hauptanliegen. Dieckmann beginnt den ersten Band seiner Studie mit der litauischen Geschichte seit 1918, der Situation der Juden in der litauischen Republik und der sowjetischen Besatzung von 1940. Dann folgt eine Darstellung der deutschen Kriegsvorbereitungen, der „Deutschen Herrschaft und litauischen Kooperation“ und eine Darstellung der deutschen Ausbeutungspraxis in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft und der einheimischen Arbeitskräfte. Abschließend behandelt Dieckmann mit der Rückansiedlung von Litauen-Deutschen die erste Umsetzung der nationalsozialistischen Kolonial- und Siedlungspläne. Der Schwerpunkt im zweiten Band liegt auf der Gewalt. Dieckmann schildert am Beispiel verschiedener Fallstudien die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den Dörfern, die Bildung der Ghettos in den größeren Städten, den Alltag und den Widerstand in den Ghettos, sowie deren Umwandlung in Konzentrationslager gegen Ende des Krieges. Zudem widmet er sich der Vernichtung der russischen Kriegsgefangenen: er vermutet eine Opferzahl von 170.000 allein in Litauen. Zudem geht er auch auf das Schicksal der Roma ein und vermutet auch eine systematische Ermordung von sowjetischen zwangsevakuierten Zivilsten. Abschließend beschreibt er die sowjetischen Partisanen, den national-litauischen Widerstand und die Übergangsphase in die Nachkriegszeit mit ihren Kämpfen zwischen polnischem und litauischem Widerstand und deutschen und sowjetischen Kräften. Der zweite Band ist sicher nicht für Leser mit schwachen Nerven geeignet, doch schreibt Dieckmann völlig unprätentiös.
Bei Dieckmann werden die kolonialen Ausbeutungspläne der Nationalsozialisten deutlich, die ursprünglich die Versorgung des Reiches aus den eroberten Gebieten vorsah, was aber aufgrund der Kriegslage rasch aufgegeben werden musste zugunsten der „Versorgung“ der Wehrmacht „aus dem Land“. Teil des Planes war eine systematische Vernichtung größerer Bevölkerungsteile durch Hunger. Die baltischen Staaten kamen in diesem Kontext noch glimpflich davon, doch spürte die Bevölkerung auch hier den Hungerplan deutlich. Tödlich wurde er für die russischen Kriegsgefangen und die Bewohner der jüdischen Ghettos. Dieckmann folgt der These einer rassistischen und eliminatorischen Kriegszielpolitik, in der die einzelnen deutschen Akteure von Wehrmacht, Zivilverwaltung und Einsatzgruppen bereits im Vorfeld kooperierten – im Gegensatz zur sonst oft beschriebenen Konkurrenz.
Dies gelte auch für den Judenmord, der laut Dieckmann bereits im Vorfeld geplant und zwischen verschiedenen Dienststellen abgesprochen wurde. Bereits mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 sollte die massenweise Ermordung männlicher Juden, als vermeintliche „bolschewistische Elite“, fest gestanden haben und wurde entsprechend von der Einsatzgruppe A ausgeführt. Im Juli 1941 erfolgte dann eine Radikalisierung, die durch das Auftreten eines weiteren Akteurs, der „Ostland“-Zivilverwaltung, verursacht wurde, die ihrerseits Einfluss auf die „Judenfrage“ nehmen wollte. Die radikalen Beamten des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) versuchten nun „Tatsachen“ zu schaffen, um den Machtanspruch des Konkurrenten einzudämmen: es begann die Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung, von Männer, Frauen, Kinder in den ländlichen Regionen, wobei die jüdische Bevölkerung in den Städten zunächst zum Teil verschont blieb. Dies war vor allein wirtschaftlichen Überlegungen geschuldet: man benötigte dringend Arbeitskräfte. Andererseits zeichnete sich laut Dieckmann bereits Anfang Juli 1941 eine militärische Krise ab, da der deutsche Vormarsch stockte, was der Explosion der Gewalt in den besetzten Gebieten Vorschub leistete – leider wird nicht ganz klar, wie die beiden Phänomene zusammenhängen sollen.
Laut Dieckmann wurde nicht nur der Judenmord, sondern auch dessen Inszenierung als „Selbstreinigungsaktion durch Einheimische“ von deutscher Seite im Vorhinein geplant und organisiert. So finden sich auch für Litauen keine Belege für „spontane Pogrome“ gegen die jüdische Bevölkerung, ähnlich wie in den baltischen Nachbarstaaten. Es war auch hier erst die deutsche Sicherheitspolizei, die bestehende litauische Einheiten der Polizei bzw. der antisowjetischen Partisanen abkommandierte, anwarb oder regelrechte Pogromeinheiten und Mordkommandos schuf, wie etwa das „Rollkommando Hamann“, das durch Litauen tourte und die lokalen Erschießungen durchführte. Dies gilt auch für die Episode in der Liekutis-Garage in Kaunas: der blonde „Totschläger“ war Mitglied eines litauischen Hilfskommandos der deutschen Sicherheitspolizei. Auch wenn Litauer sich zunächst nicht aus eigenem Antrieb daran machten, ihre jüdischen Nachbarn zu ermorden, so unterstützen doch verschiedene Einheiten der Polizei- und Schutzmannschaften später den Massenmord. Auch die von den deutschen eingesetzten „Generalräte“, die litauische Verwaltung tolerierte stillschweigend die Morde. Als Erklärung macht Dieckmann einen starken Antijudaismus aus, der in den 1930er-Jahren Teil des litauischen Nationalismus gewesen sei und vor allem in seiner rassistischen, antisemitischen Ausprägung unter Rechtskonservativen und Rechtsextremen, etwa dem faschistischen „Eisernen Wolf“, verbreitet gewesen sei. Diese Vorstellungen seien im autoritären Smetona-Regime vor allem Denkstil der rechtsradikalen Opposition gewesen, hätten aber auch größere Teile der Mittelschicht erfasst. So hätten litauische Emigranten um Antanas Maceina in Berlin bereits vor dem Krieg ethnische Säuberungen diskutiert und propagiert. Gleichwohl reicht Antisemitismus als alleiniger Grund für die Kooperation von Litauern beim Judenmord für Dieckmann nicht aus, allerding bietet er auch keine alternativen Erklärungsmodelle an. Die Auswirkungen der sowjetischen Besatzung, die auch in Litauen eine Fremdherrschaft darstellte, und des Terrors – von 1940 bis 1941 wurden über 20.000 Menschen verschleppt, im Juni 1941 allein 17.000 – sind nach seinem Dafürhalten zu wenig erforscht.
Wolfram Wette befasst sich ebenfalls mit dem Mord an den litauischen Juden, wobei er eine andere Herangehensweise als Dieckmann wählt: die Biographie eines nationalsozialistischen Täters, Karl Jäger. Dieser war 1941 Leiter des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A und bekleidete das Amt des „Kommandeurs der Sicherheitspolizei Litauen“ bis 1943. Aus seinen eigenen Berichten geht hervor, dass er für die Ermordung von nicht weniger als 184.000 Menschen verantwortlich war. Er erklärte Litauen um Dezember 1941 für „judenfrei“ und bemängelte, dass ihm untersagt wurde, auch die verbliebenen „Arbeitsjuden“ zu „erledigen“. Wette will der Person und dem Täter Jäger nachspüren und erzählt Jägers Biographie in drei Abschnitten, von seiner Kindheit im Schwarzwald bis zum Eintritt in die Einsatzgruppe A, seiner Dienstzeit in Litauen bis 1943, seinem weiteren Lebenslauf nach 1943, bis hin zu seinem Selbstmord in Untersuchungshaft im Jahr 1959 in Hohenasperg bei Ludwigsburg. Darüberhinaus beschreibt Wette den Holocaust in Litauen und geht abschließend auf die „Verdrängung und späte Erinnerung“ in Litauen und Deutschland ein. Jäger war bei weitem kein „ganz normaler“ Mann, sondern ein Überzeugungstäter, und seine Biographie entspricht eher dem typischen Lebenslauf eines nationalsozialistischen Weltanschauungskriegers. Als hochdekorierter Veteran kehrte er dreißigjährig aus dem Ersten Weltkrieg heim und schloss sich bald einer der vielen illegalen Gruppierungen innerhalb der Schwarzen Reichswehr an. Er wurde 1923 einer der ersten nationalsozialistischen Aktivisten in Südbaden, erhielt den Spitzmanen „Waldkircher Hitler“ und gründete die örtliche SS. Nach längerer Arbeitslosigkeit wurde er aufgrund seiner „Verdienste“ 1936 hauptamtlich in die SS aufgenommen und kam 1938 zum Sicherheitsdienst. Nach einer kurzen Dienstzeit in Holland wurde Jäger im Sommer 1941 Mitglied der Einsatzgruppe A. Im Baltikum wurde er dann einer der besonders effizienten Massenmörder, fiel dabei jedoch psychisch auf. Da Jäger weitaus älter als seine Kameraden war, musste er sich in der Konkurrenz mit den jüngeren SS-Offizieren behaupten – ein Grund für den vorauseilenden Gehorsam Jägers, wie Wette meint. Jäger war kein Schreibtischtäter, sondern schoss selber an den Gruben – was er im Übrigen auch von seinen Mitarbeitern einforderte. Offensichtlich war er aber mental nicht für den Massenmord geschaffen, zumindest verfolgten ihn Alpträume und Schlaflosigkeit – was keinesfalls dem Idealbild des Himmlerschen SS-Mannes entsprach. Tatsächlich stagnierte seine Karriere bis zum Ende des Krieges. Danach lebte er unter seinem richtigen Namen im Odenwald, bis er 1959 von der Staatsanwaltschaft Ludwigsburg verhaftet wurde. Im Verhör gab er seine Dienststellung zu, bestritt aber, für die Morde verantwortlich gewesen zu sein. Einer Verurteilung entzog er sich durch Selbstmord. Insgesamt überrascht das Bild nicht, das vom Überzeugungstäter Jäger entsteht. Besonders verdienstvoll an Wettes Arbeit sind die Ausführungen zur Nachkriegszeit und dem Prozess der (Nicht-)Aufarbeitung und Reflexion der Verbrechen Jägers in seiner Heimat, die eigentlich erst in den letzten Jahren begann. Problematisch dagegen sind seine Darstellungen der Ereignisse in Litauen und deren Interpretation. Es mag unfair sein, das schmale Bändchen von Wette dem fulminanten Band von Dieckmann gegenüberzustellen, zumal Wette auch keine litauischen Quellen und Forschungsliteratur nutzen konnte. Doch werden die Unterschiede rasch klar: Wette vertritt die Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre, die vom Historikerstreit und der stark politisierten Geschichtsschreibung geprägt war. So folgt Wette noch der Theorie der „spontanen Pogrome“ durch Litauer, die die Deutschen einfach nur hätten fortsetzen müssen, und impliziert so eine litauische Kollektivschuld. Zudem arbeitet er viel mit Episoden und Einzelschicksalen, die zwar veranschaulichen, die wissenschaftliche Erkenntnis aber nicht immer fördern. Die Tätergeschichte von Jäger ist lesenswert; will man sich aber über den Holocaust in Litauen informieren, kann man die Arbeit von Wette sicher nicht empfehlen.
Dieckmanns Arbeit schafft den Spagat zwischen umfangreicher Grundlagenstudie und strukturierender Analyse. Zudem bietet die Arbeit durch ihre klare Untergliederung Möglichkeiten zur selektiven Studie. Dieckmann hat umfangreiche Quellenbestände in Deutschland, Litauen, Russland und den USA gesichtet, nutzte auch ausführlich litauische Dokumente und bezog die aktuelle historische Forschung aus Litauen mit ein, was besonders verdienstvoll ist. Es ist müßig, in einem solch umfangreichen Werk nach Themen zu suchen, die man hätte noch ergänzen können. Gleichwohl kann man anmerken, dass die Erforschung der litauischen Akteure und deren Motivation – abgesehen von den am Judenmord Beteiligten –, speziell die selbsternannte Regierung von Juni bis August 1941, die „Generalräte“, der Widerstand und das weite Feld der litauischen Gesellschaft durchaus noch ausbaufähig ist und man hier gern mehr erfahren hätte, ohne Dieckmanns Verdienst schmälern zu wollen. Es ist erfreulich, dass Dieckmann ausdrücklich nicht mit dem Begriff der „Kollaboration“ agiert, der stark politisch konnotiert ist. Insgesamt aber stehen die deutschen Akteure im Vordergrund. Dies liegt sicher auch daran, dass die Studie in den 1990er-Jahren konzipiert wurde als es noch üblich war, die deutsche Besatzung isoliert zu betrachten. Inzwischen werden mehr die lokale Bevölkerung und deren Akteure, sowie die Wechselwirkungen mit der sowjetischen Besatzung miteinbezogen.1 Tatsächlich vertritt Wolfram Wette eher die Haltung, die vorangehende sowjetische Besatzung habe das Verhalten der Einheimischen unter der deutschen Besatzung beeinflusst, doch sind Wettes Kenntnisse bezüglich des sowjetischen Systems beschränkt. In der Tat liegt es auf der Hand, die Ereignisse der gesamten Region seit dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang zu sehen, und weniger einzelne Ereignisse isoliert zu betrachten. So existierte im Litauen der Zwischenkriegszeit wie in den anderen baltischen Staaten ein starker staatlich geförderter Antikommunismus. Dieser war durch den im Zuge des Ersten Weltkriegs ausgebrochenen litauischen Bürgerkrieg bedingt, der sich immer stärker zu einem anti-sowjetischen Abwehrkrieg gewandelt hatte. Es war die Angst vor einer Annäherung der sozialdemokratischen Regierung an die Sowjetunion, die Smetona 1926 als Anlass für seinen Putsch nahm. Fruchtbar wären Ansätze wie die von Timothy Snyder, der zuletzt die gesamte Region als Experimentierfeld und Schlachthaus der totalitären Mächte schilderte, als die „Bloodlands“, und die Ereignisse in einen gesamteuropäischen Rahmen bettete.2 Durch das gleichzeitige Erscheinen konnte Dieckmann nicht mehr Bezug auf Snyder nehmen. Dieckmann verzichtet indes auch auf Vergleiche zu den Ereignissen in den anderen baltischen Staaten unter deutscher Besatzung, obwohl nun inzwischen entsprechende Arbeiten vorliegen. Im Grunde bestätigt er die bisherigen Ergebnisse und die bisher erarbeiteten Erkenntnisse zur Besatzungspolitik im „Reichskommissariat Ostland“.
Die enorme Leistung von Christoph Dieckmann kann nicht in Abrede gestellt werden. Er hat ein voluminöses Grundlagenwerk geschaffen, das nun lange die Debatte zur deutschen Besatzung in Litauen prägen wird und aufgrund des Umfangs und der unbestechlichen Analyse hohe Ansprüche an nachfolgende Autoren stellt.
Anmerkungen:
1 Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–46, Paderborn 2009.
2 Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.