Saul Friedländer formulierte 1997, eine der zentralen Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft sei die Darstellung des Holocaust als „integrated history“, in der die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure – „the policies of the perpetrators, the attitudes of the surrounding society, and the world of the victims“ – gemeinsam in den Blick genommen würden.1 Nur wenn man die gesellschaftlichen Konstellationen ebenso wie die Interaktionen nachvollziehe, könnte man das Verhalten der Einzelnen und die historischen Entwicklungen begreifen.
Mit ihrem Buch „Die Dynamik des Tötens“ stellt sich Michaela Christ dieser Herausforderung. In ihrer Mikrogeschichte der Stadt Berditschew in der Ukraine, in der zwischen 1941 und 1944 mindestens 18.000 Jüdinnen und Juden umgebracht wurden, rekonstruiert sie die unterschiedlichen Perspektiven der jüdischen Verfolgten, der deutschen Täter wie auch der nicht-jüdischen Zivilbevölkerung. Ausgehend von der Frage: „Was geschieht in einer überschaubaren städtischen Gesellschaft, wenn innerhalb weniger Monate knapp ein Drittel der Einwohner/innen ermordet wird?“ (S. 32), verwebt sie Gerichtsaussagen, Dokumente und Erinnerungserzählungen zu einem komplexen Bild. Dabei gelingt es ihr auf eindrucksvolle Weise darzustellen, welche unterschiedlichen Funktionen und Wirkungen die Maßnahmen und Gewalttaten der deutschen Besatzer situativ entfalteten – einerseits im Einklang mit den Motivationen der unterschiedlichen Akteure, andererseits aber auch unabhängig oder gar entgegen ihrer Intentionen.
Christ gliedert ihre Darstellung der drei Jahre der deutschen Besatzung in acht Abschnitte: Grenzüberschreitungen, Eroberung, Inbesitznahme, Zurichtung, Ghetto, Vernichtung, Institutionalisierung, Überleben. Ihre Untersuchung basiert auf den Kategorien Körper und Raum, die sie als gesellschaftlich geschaffene Perspektiven auf die Welt begreift (und nicht als Gegebenheiten, die aus sich selbst heraus kausale Wirkung entfalten). Die Art und Weise etwa, in der Körper und Gesten wahrgenommen werden, hängt von den sozialen Bedeutungen ab, mit denen sie in einem bestimmten Raum aufgeladen werden. Körper und Raum erscheinen bei Christ als Produkt wie auch Produzent von Gesellschaft, als bestimmende Elemente in den Prozessen sozialer Umwälzung und topographischer Neuordnung in Berdicev/Berditschew vor, während und nach dem Massenmord.
Berdicev war Mitte des 19. Jahrhunderts ein religiöses, kulturelles und intellektuelles Zentrum jüdischen Lebens in der Ukraine, mehr als 90 Prozent der rund 50.00 Einwohner waren Jüdinnen und Juden. Antisemitische Pogrome, der größer werdende Säkularisierungsdruck im Zuge der Oktoberrevolution 1917 sowie die stalinistischen „Säuberungen“ von 1937/38 führten allerdings zu immer massiveren Auswanderungswellen. Gleichzeitig hatte die Hungersnot in den 1930er-Jahren den Zuzug nicht-jüdischer Landbewohner in die Stadt zur Folge. Die Sozialstruktur Berditschews veränderte sich also bereits vor dem Einmarsch der Deutschen erheblich.
Die deutsche Militärverwaltung konnte bei der Durchsetzung ihrer Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung Europas – in deren Zentrum die Deklassierung der Juden und die Aufwertung der Volksdeutschen standen – insofern an eine bereits bestehende Binnendifferenzierung anknüpfen. Überzeugend zeigt Christ, dass die gezielt hohe Geschwindigkeit und die entschlossene Brutalität, mit der die deutschen Besatzer ihre Verfügungen (die in zentrale Lebensbereiche wie Versorgung, Mobilität und körperliche Integrität eingriffen) durchzusetzen suchten, der einheimischen Bevölkerung keinen Raum ließen, um die Situation zu erfassen und überlegte Entscheidungen zu treffen.
Die Massivität der antisemitischen Maßnahmen deklassierte die Jüdinnen und Juden auf eine zuvor nicht gekannte Weise und schränkte ihre Handlungsmöglichkeiten weitgehend ein. Gleichzeitig sah der Rest der Bevölkerung sich aufgefordert, Position zu beziehen. Menschen, die bis dato Tür an Tür mit jüdischen Nachbarn gelebt hatten, distanzierten sich nun – aus antisemitischer Überzeugung oder aus Angst und Selbstschutz. Direkt nach dem Einmarsch der Deutschen nagelten die meisten nicht-jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Berditschews zum Beispiel Kreuze an ihre Türen, um zu markieren, dass in diesen Häusern keine Juden lebten – und vereinnahmten damit eine Strategie, die Juden im 18. Jahrhundert zum Schutz vor antisemitischen Ausschreitungen entwickelt hatten.
Die Unterscheidung zwischen Nicht-Juden und Juden, die Markierung der Häuser ebenso wie die NS-Kennzeichnungspflicht durch den gelben Stern, analysiert Christ nicht nur als sozialpolitische Maßnahmen, sondern auch „als Mittel der sozialräumlichen und topographischen Neustrukturierung“ (S. 88), die die Stadt in Orte schieden, die Jüdinnen und Juden besuchen durften, und solche, an denen ihnen die bloße Anwesenheit versagt war.
Die Tatsache, dass viele jüdische Menschen ihre Häuser sowieso kaum noch verließen, oder zumindest versuchten, unauffällig zu bleiben, da ihr Habitus und ihre Ausdrucksweise ein Risiko geworden waren, hatte letztlich auch Auswirkungen auf ihre Selbstwahrnehmung. Im Verhalten ihrer nicht-jüdischen Nachbarn wurde die NS-Rassenideologie real, die veränderten Körperbilder und -praxen schrieben sich in ihr soziales Verständnis ein. So interpretiert Christ den in vielen Erinnerungserzählungen Überlebender auftauchenden Verweis auf das „gute Aussehen“ einer Person nicht als Ausdruck eines zeitgenössischen Schönheitsideals. Vielmehr galt jemand als „gut aussehend“, wenn er oder sie „keine Projektionsfläche für antisemitische Körpervorstellungen bot“ (S. 238). Leider geht Christ hier, wie generell in ihrer Analyse körperlicher Praxen, kaum auf geschlechtsspezifische Perspektiven ein. Lediglich in den Passagen zu sexueller Gewalt befasst sie sich mit der Bedeutung von Gender. Letztlich bleiben diese Teile aber kursorisch.
Deutsche Soldaten, die zum ersten Mal in die Region kamen, konnten oft nicht ausmachen, ob jemand jüdisch war. In dieser Situation wurde das Erkennen von Gruppenzugehörigkeit – etwa von Gesten, Körperhaltungen oder soziale Praxen – zu einer Ressource der nicht-jüdischen Bevölkerung gegenüber den Besatzern. Die Entscheidungsgewalt darüber, wer die NS-Anordnungen einhielt, lag „in den Händen der nicht-jüdischen Berditschwer/innen“ (S. 94). Während Christ zwar deutlich macht, dass die Einzelnen in solchen Situationen unterschiedlich reagierten – etwa wenn sie ein jüdisches Kind entdeckten und spontan entscheiden mussten, ob sie es den Deutschen auslieferten, es ignorierten oder ihm zur Flucht verhalfen –, geht sie kaum auf die sozialen und politischen Differenzen zwischen der nicht-jüdischen Bevölkerung ein.
Tatsächlich waren nicht einmal die Einheimischen, die sich von den Deutschen anwerben ließen, alle überzeugte Antisemiten oder Nationalsozialisten. Oft standen soziale Gründe, etwa die materielle Verantwortung für ihre Familie, im Vordergrund. Gerade die Aufteilung der Ermordung in Teilbereiche, so Christ, ermöglichte es den einzelnen, das eigene Tun nicht zu hinterfragen. Das Erkunden des Geländes, das Zusammentreiben der Verfolgten, die Selektionen, das Eskortieren durch die Stadt, das Warten, das Entkleiden, das Abgeben der Wertsachen, das Ausharren an den Gruben, das Töten – all dies wurde von unterschiedlichen Personen überwacht und durchgeführt – der ukrainischen Miliz ebenso wie der Wehrmacht, der deutschen Ordnungspolizei und der SS. Durch diese Aufteilung wurden viele Opfer getäuscht und das eigentliche Ziel der Aktionen verschleiert. Die Täter und ihre Zuarbeiter schienen jeweils nur für einen Teilbereich verantwortlich, nie aber für das Tun der Anderen, geschweige denn den gesamten Prozess.
Mit einem Verfahren, das an klassische Bildanalysen erinnert, nähert sich Christ den wenigen Erinnerungserzählungen an Erschießungsaktionen. So rekonstruiert sie etwa anhand der Nachkriegsaufzeichnungen des Wehrmachtssoldaten und evangelischen Pfarrers Hans Wilhelmy eine der ersten Massenerschießungen bei Berditschew im September 1941: „Die Anordnung der Gruppe auf einer kreisförmigen, also zu umrundenden Fläche schuf eine panoptische Überwachungssituation. […] Angesichts der permanenten Bedrohung durch die Allgegenwart des Gesehenwerdens von außen, suchten die Bewachten selbst den Schutz der Gruppe, um nicht als Einzelne aufzufallen und womöglich die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zu ziehen. […] Während die Täter auf die Opfer herabsahen, mussten die ihnen Ausgelieferten aus der Froschperspektive zu ihren Peinigern hinaufblicken. Die Anordnung garantierte, dass die Beteiligten sich nicht auf Augenhöhe begegneten.“ (S. 105)
Man kann davon ausgehen, dass der ehemalige Wehrmachtssoldat Wilhelmy seine Selbsteinschätzung nicht schönt, wenn er die Täter als die Verantwortlichen, sich und seine Kameraden dagegen als unbeteiligte Zuschauer beschreibt. Demgegenüber sieht Christ auch im „Zuschauen eine Handlung“, im „Nicht-Eingreifen eine Aktivität“ (S. 111). Durch ihre Präsenz waren die Zuschauer unabhängig von ihrer Motivation an den Erschießungen beteiligt: Sie kreisten die Opfer ein, verringerten Fluchtmöglichkeiten, zeigten ihnen – durch ihr Nichteingreifen – dass sie keine Hilfe zu erwarten brauchten.
Christs räumliche Vergegenwärtigungen von Gewaltsituationen sind aufschlussreich. Etwas irritierend ist mitunter höchstens die vermeintliche Evidenz der Handlungsabläufe, denen sie sich in erster Linie mit sozialpsychologischen Erklärungsmustern nähert. Liest man Christs Studie vor dem Hintergrund von Christoph Schneiders These, „dass Menschen über performative Dispositionen verfügen, in denen sich bestimmte Handlungsskripte abgelagert finden, die situativ mobilisierbar sind“, wäre zu spezifizieren, wie das „mimetisch reproduzierbare Repertoire an kulturellem Sinn“ aussieht, nach dem bestimmte Verhaltensweisen in einem (nationalen, religiösen, militärischen) Rahmen als normal erscheinen.2
Michaela Christ hat mit ihrem Buch eine Untersuchung vorgelegt, die in ihrer theoretisch-analytischen Herangehensweise wie auch in der Vielschichtigkeit ihrer Quellen und Perspektiven Neuland betritt und Maßstäbe setzt. Das Geschehen als solches ist bekannt, gleichwohl gelingt es Christ durch ihr Zusammendenken der Perspektiven der unterschiedlichen Akteure auf engstem Raum die Konstellationen, Interaktionen und Bedeutungsverschiebungen zu beleuchten. Durch ihre Darstellung eröffnet sie eine neue Möglichkeit, Situationen und Dynamiken extremer Massengewalt nachvollziehbar zu machen, die bis heute oft als unvorstellbar abgewehrt werden.
Anmerkungen:
1 Saul Friedländer, Nazi Germany and the Jews, Vol. 1: The Years of Persecution, 1933–1939, New York 1997, S. 1.
2 Christoph Schneider, Täter ohne Eigenschaften. Über die Tragweite sozialpsychologischer Modelle in der Holocaust-Forschung, in: Mittelweg 36, 2011, Nr. 5. Online abrufbar unter: <http://www.eurozine.com/articles/2011-10-25-schneider-de.html> (26.10.2012).