„Für alle Zeiten, für alle Völker.“ Mit diesem Anspruch wurde im Dezember 1799 das metrische System der Maße und Gewichte durch das französische Parlament endgültig festgelegt. Auch wenn diese Endgültigkeit 1960 endete und das metrische System durch das SI (Système International d’Unités) abgelöst wurde, so bilden doch die 1799 definierten Grundeinheiten Meter, Kilogramm und Liter bis heute die Basis der meisten gebräuchlichen Maße und Gewichte. Diese Maßeinheiten dienen in weiten Teilen der Welt als Standard für das Vermessen und Abwägen von Dingen des alltäglichen Lebens und sie schaffen die Grundlage für die mit höchster Genauigkeit durchgeführten Messverfahren der Naturwissenschaften. Die Geschichte des Meters und der aus ihm abgeleiteten Maße ist die Geschichte des Aufstiegs eines französischen Revolutionsmaßes zum „Maß der Welt“1, inklusive Rückschlägen und Misserfolgen.
Der Darstellung und Interpretation dieser Geschichte widmet der amerikanische Philosoph und Wissenschaftshistoriker Robert P. Crease sein Buch „World in the Balance“. Die Tatsache, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die meisten Menschen der metrischen Maße bedienen, ist für Crease Grund zum Staunen und führt ihn zu der Frage: „How did it happen?“ (S. 33). Zur Beantwortung dieser Frage betrachtet Crease die Maße als Teil einer kulturell gestalteten Umwelt, von der sie beeinflusst werden, die sie selbst aber auch beeinflussen – ganz im Sinne des deutschen Historikers Harald Witthöft, der schreibt, die historische Untersuchung von Maßen und Gewichten ermögliche „Einsichten in historisch gewordene und sich ändernde Wert- und Ordnungsvorstellungen, Denk- und Lebensweisen“ der Menschen.2
Crease beginnt seine Geschichte mit der Beschreibung von zwei historischen Beispielen für Maßsysteme, welche heute nicht mehr existieren. Das eine Beispiel reicht zurück in das Kaiserreich China, wo Musikinstrumente die Grundlage für die Maße des Kaiserhofes bildeten. Das andere Beispiel stammt von der afrikanischen Westküste und geht zurück auf die Zeit vor der britischen Kolonialisierung, in der kunstvoll gearbeitete Figuren als Gewichte zum Wägen von Goldstaub dienten. In beiden Fällen ist neben der Funktion der Maße als Vergleichsgröße im Akt des Messens besonders ihre Symbolik interessant. Der Gebrauch der Maße informierte die Menschen über weit mehr als den bloßen Gehalt eines gemessenen Gegenstandes. Mit diesen Maßeinheiten wurde auch eine Ordnung der Welt geschaffen. Beide Beispiele zeigen auf, wie eng die jeweiligen Maßsysteme mit der lokalen Kultur verwoben waren.
An diese beiden Exempel schließt eine Beschreibung der Entwicklung des metrischen Systems in Frankreich an, beginnend bei den Überlegungen von Gabriel Mouton, Jean Picard, Giacomo Cassini und Charles Marie de la Condamine. Die Ideen der genannten Wissenschaftler gipfelten zwischen 1790 und 1799 in den Bemühungen der Académie des Sciences, in der Natur ein universelles Maß zu finden. Ursprünglich wollten die Wissenschaftler die Länge der Grundeinheit mittels eines Pendels auf dem 45. Breitengrad ermitteln. Sie änderten diesen Plan allerdings zugunsten der Vermessung des Pariser Meridians, welcher schließlich von Pierre Méchain und Jean Baptiste Delambre genauestens vermessen wurde. Als Grundeinheit für das neue System wurde ein Teil der Erde selbst, der 40-millionste Teil ihres Umfangs, angenommen.
Crease beschreibt nicht nur die Ereignisse in Frankreich. Er legt auch dar, wie Großbritannien und die USA auf die Entwicklung des neuen universellen Systems reagierten und weshalb eine Zusammenarbeit mit Frankreich schließlich nicht zustande kam. Trotzdem verbreitete sich das metrische System im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer weiter. Bei der Rekonstruktion dieses Teils der Geschichte des Messens wird deutlich, weshalb sie für Crease eine der „spektakulärsten Manifestationen der Globalisierung“ (S. 33) darstellt. Crease fokussiert nicht darauf, wie sich das metrische System in den einzelnen Nationen durchzusetzen begann, sondern er zeigt auf, welchen Einfluss internationale Konferenzen und Organisationen auf die Verbreitung des Meters hatten. Ob am ersten internationalen Statistikerkongress 1853, an der Weltausstellung in Paris 1855 oder bei der Gründung des Bureau International des Poids et Mesures 1873: Immer wieder wurde anlässlich solcher Veranstaltungen das metrische System als das Universalsystem der Zukunft propagiert.
An den Beispielen Großbritanniens und der USA zeigt Crease, dass der Siegeszug des metrischen Systems nicht überall gleich rasch voranschritt. Besonders die Widerstände in den USA werden ausführlich dargelegt, was besonders aufschlussreich ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika traten zwar der internationalen Meterkonvention bei, konnten das metrische System aber bis heute nicht umfassend einführen. Crease interessieren aber nicht nur die Widerstände, sondern auch die Beiträge von amerikanischen Wissenschaftlern zur Weiterentwicklung des metrischen Systems. So widmet er einen längeren Teil seines Buches Charles Sanders Peirce und dessen Beitrag zur Neudefinition des Meters über eine bestimmte Wellenlänge des Lichts. In Folge der Entdeckung der unregelmäßigen Form der Erde erschien nämlich den Metrologen der Pariser Meridian bald nicht mehr als geeignete Grundlage für ein universelles Maßsystem. In Folge wurde damit begonnen, alle Grundeinheiten auf physikalische Konstanten zurückzuführen. So entspricht beispielsweise der Meter seit 1983 der Distanz, welche das Licht im Vakuum in 1/299 792 459 Sekunden zurücklegt. Als letzte große Herausforderung, so Crease, bleibt den Metrologen das Kilogramm, dessen Masse bis heute nicht auf einer physikalischen Konstante beruht.
Eine der zentralen Thesen von Crease ist, dass alle die von ihm beschriebenen Entwicklungen im Messwesen dazu führten, dass die moderne Welt eine „metroscape“ (S. 227) ausbildete, einen Raum (oder eine Sphäre), in welchem die Wahrnehmung und Interpretation der Welt vornehmlich auf Vermessungen und Zahlenwerten basiert. Diese These bietet einen möglichen Erklärungsansatz für die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass heutzutage Quantifizierungen in so vielen Bereichen eine zentrale Rolle spielen.
Das Buch basiert auf einer Serie von Artikeln in der Zeitschrift „Physics World“. Diese Artikel sollten sowohl informieren, als auch unterhaltsam sein (S. 277f.). Die historische Rekonstruktion der Geschichte des Messens reichert Crease so auch mit allerlei Anekdoten und Beispielen aus dem alltäglichen Leben an. Seine Überlegungen illustriert er beispielsweise anhand eines Kunstwerks von Marcel Duchamps oder der Suche nach dem perfekt sitzenden Büstenhalter.
Das Werk enthält kaum neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Für den Großteil des Buches stützt sich Crease auf (alt-)bekannte Forschungsliteratur aus Frankreich und den USA. Lesenswert wird das Buch durch den großen historischen Überblick, durch philosophische Überlegungen zum Messen und den unterhaltsamen Schreibstil Creases. Für Leserinnen und Leser, welche sich mit der höchst interessanten Geschichte des Messwesens vertraut machen möchten, ist das Buch deshalb vor allem als Einstieg in die Thematik zu empfehlen.
Anmerkungen:
1 So lautet der deutsche Titel eines Buches von Ken Alder über die Entstehung des metrischen Systems. Ken Alder, Das Maß der Welt, München 2003.
2 Harald Witthöft, Metrologische Strukturen und die Entwicklung der alten Maß-Systeme: Handel und Transport – Landmaß und Landwirtschaft – Territorium/Staat und die Politik der Maßvereinheitlichung, in: Harald Witthöft u.a. (Hrsg.), Metrologische Strukturen und die Entwicklung der alten Maß-Systeme, Sankt Katharinen 1988, S. 17.