Das Themenfeld der Wissenskulturen oder der Wissenschaft und Bildung in der Vormoderne hat sich in der Forschung der letzten zwei Dekaden als äußerst produktiv erwiesen, nicht zuletzt, was das europäische Mittelalter betrifft. Gerade der Blick auf die Verbindungen von Wissen und Macht – oder von Wissen und religiöser Autorität, von Wissen und kulturellem Transfer etc. – kann dabei nicht nur das Bildungswesen erhellen, sondern auch die Schnittstellen aufzeigen, die in der Vormoderne etwa zwischen Politik, Religion, Literatur, Wissenschaft und Recht bestanden.1
Nach wie vor ist das Themenfeld allerdings gerade in der Lehre schwer zu vermitteln: Es fehlt vor allem an aktuellen Überblicksdarstellungen, die Studierenden einen ersten Einstieg in die durchaus komplexe Materie vermitteln könnten. Ein neuer Band, der sich nicht nur einen Überblick über Bildung und Wissenschaft im gesamten Mittelalter vorgenommen hat, sondern seinen Stoff noch für Studierende wie für eine breitere Öffentlichkeit verständlich darbietet, ist von daher nur zu begrüßen. Es dürfte auch unmittelbar einsichtig sein, dass Ulrich Nonn für den vergleichsweise kompakten Band von 200 Seiten eine Auswahl aus dem breiten Material treffen und bestimmte Schwerpunkte setzen musste.
Der von Nonn gewählten Darstellungsweise gelingt es dennoch, einen kenntnisreichen, breiten Überblick über Schultypen und ‚Schulfächer‘ in den verschiedenen Epochen des Mittelalters von den karolingischen Bildungsreformen bis zum Humanismus zu geben. Besonders gut gelingt dem Alltagshistoriker Nonn die überaus anschauliche, vielfach direkt aus den Quellen gegriffene Darstellung, die man kaum anders als farbenfroh nennen kann. Dieser Eindruck wird von den über fünfzig teils farbigen Abbildungen des Bandes verstärkt, die mittelalterliche Schulszenen und Wissensideale sehr einprägsam illustrieren.
Der Aufbau des Buches folgt größtenteils der Chronologie, baut aber mehrere thematische Schwerpunkte ein, die teilweise typische Forschungsfelder zu Wissen, Bildung und Wissenschaft im Mittelalter abdecken. Der mit drei Seiten recht knappen Einleitung folgen zunächst mehrere thematische Kapitel zum Frühmittelalter. Nach kurzen Überlegungen zum ‚Verfall des römischen Bildungswesens?‘ (S. 10–15) werden die karolingischen Bildungsreformen (S. 16–26) geschildert, bevor ausführlich das Bildungsideal der artes liberales diskutiert (S. 27–56) und das Schulwesen der Kloster- und Domschulen innerhalb der früh- und hochmittelalterlichen Kirche dargestellt wird (S. 57–79). Ein Übergangskapitel widmet sich dann der Entwicklung der Scholastik (S. 80–96) und schlägt den Bogen zum nächsten größeren Kapitel, zu den mittelalterlichen Universitäten (S. 96–137). Darauf folgt ein eigenes Kapitel zu städtischen Schulen des Spätmittelalters (S. 137–149) und ein erneut recht ausführlich gehaltenes Kapitel zum Humanismus als ‚neuer Bildungsbewegung‘ (S. 150–190). Knapp gehaltene Schlussüberlegungen zu Bildung im Mittelalter und heute (S. 190–192) beschließen den Band. Ein Verzeichnis ausgewählter Quellen und Literatur und ein Personenregister schließen sich an.
Innerhalb der einzelnen Kapitel kombiniert Nonn Zugriffe und Darstellungsweisen, die das Gerüst der schulischen Institutionengeschichte mit nuancierenden Einzeldiskussionen und beispielhaft illustrierenden Gelehrtenbiographien mischt. Im Rahmen der Kapitel zum Früh- und Hochmittelalter werden so nicht nur die karolingischen Bildungsreformen angesprochen, sondern es wird auch diskutiert, welche Variationen und Sinngebungen des Bildungsideals der artes liberales sich auffinden lassen, noch untermischt mit einer Diskussion diverser mittelalterlicher Bilddarstellungen der artes liberales und mechanicae. Zusätzliche Anschaulichkeit gewinnt dieser Teil aus einer exemplarischen Diskussion der Biographie des Hrabanus Maurus (gestorben 856) und des Grundlagenwerkes der Etymologiae Isidors von Sevilla. In ähnlicher Weise treten in der knappen, exemplarischen Behandlung verschiedener Universitätstypen die wichtigsten institutionellen Unterschiede und Besonderheiten mittelalterlicher Universitäten hervor: Paris als Magisteruniversität wird gegen Bologna als Scholarenuniversität gestellt. Unterschiedliche organisatorisch-politische Kontexte werden an verschiedenen Gründungs- oder Organisationsformen verdeutlicht, etwa an der Universität Neapel als ‚staatlicher‘ Gründung, Salerno als nur locker organisierter ‚medizinischer Hochschule‘ und schließlich an Prag, Wien und Leipzig als frühen Gründungen im komplizierten politischen Geflecht des Reichs nördlich der Alpen. Auch in den Kapiteln zu Stadtschulen und Humanismus werden immer wieder Vignetten aus dem schulischen Alltag eingebaut und Persönlichkeiten wie Conrad Celtis und Erasmus vorgestellt. Mit Hilfe reichlicher Zitate aus übersetzten Quellen (die dann allerdings oft nur sehr verkürzt nachgewiesen werden) entsteht so ein lebendiger Eindruck der komplexen mittelalterlichen Bildungswelt. Der Band stellt die verschiedenen Schultypen des Mittelalters vor und macht mit verschiedenen Gelehrten und wichtigen zeitgenössischen Konzeptionen von Schulwissen bekannt.
Er tut, so könnte man abschließend andererseits auch kritisieren, freilich nicht mehr als das. Der Platz, der den vielfältigen Vignetten aus dem Schulalltag eingeräumt wird, steht nicht mehr zur Verfügung, um zu zeigen, wie eng die Praktiken gelehrter Wissensorganisation mit der sie umgebenden Welt verflochten waren und wie weit sie über bloße Schulen und Pädagogik hinausgriffen. Tatsächlich merkt man dem Band seine strikte Orientierung an der älteren, stark institutionengeschichtlich orientierten Bildungs- und Schulgeschichte an (obwohl hier und da auch von ‚Wissenschaft‘ gesprochen wird – Begriffe werden mit Ausnahme des Begriffs „Renaissance“ [S. 150–151] nicht weiter geklärt).
Obwohl zudem schulgeschichtliche Forschungsliteratur wahrgenommen und öfters geschickt kurz eingeflochten wird, gilt dies leider zunehmend weniger für die internationale und jüngere Forschung. Neuere schulgeschichtliche Forschungen wie die wichtigen Arbeiten Mayke De Jongs oder Stephen Jaegers zu früh- und hochmittelalterlichen Kloster- und Domschulen aus den 1990er-Jahren bleiben so unbeachtet.2 Nur in knappsten Randbemerkungen erfahren wir zudem von der Rolle des Judentums und des Islams für christliche Wissenskulturen. Die Fokussierung auf ‚Schulfächer‘ bewirkt auch sonst, dass zentrale Wissensbereiche wie die Theologie, das Recht oder beispielsweise die überaus wichtige mittelalterliche ars dictaminis und Predigtlehre zugunsten des Bildungsideals der artes liberales und des humanistischen Bildungskanons stark ins Hintertreffen geraten. Es ist zuzugeben, dass diese Problematiken zum Teil der notwendigen Kürze des Buchs geschuldet sind. Als Einführungsliteratur für Studierende dürfte das Werk sich aber aufgrund dieser Problematiken nur unter Zuhilfenahme zahlreicher weiterer Einzelarbeiten eignen.
Doch zeigt Nonn mit seiner gelungenen Mischung aus Überblicksdarstellung, thematischer Diskussion und exemplarischer biographischer Veranschaulichung, die zudem äußerst flüssig geschrieben ist, dass eine ansprechende, auch für Anfänger verständliche Darstellung mittelalterlicher Wissenswelten möglich ist. Es wäre stark zu wünschen, dass sich weitere Arbeiten in dieser Hinsicht von ihm inspirieren lassen. Denn die interessierte Öffentlichkeit oder Studienanfänger könnten noch weit über den mittelalterlichen Schulalltag hinaus davon überzeugt werden, dass der Blick auf das Wissen des europäischen Mittelalters auch heute noch Relevantes zutage fördern kann.
Anmerkungen:
1 Aus einer reichen Forschungsliteratur vgl. beispielhaft Mia Münster-Swendsen, The Model of Scholastic Mastery in Northern Europe c. 970–1200, in: Sally N. Vaughn / Jay Rubenstein (Hrsg.), Teaching and Learning in Northern Europe, 1000–1200, Turnhout 2006, S. 307–342; Andreas Speer / Lydia Wegener (Hrsg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, Berlin 2006; Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und Fürstenhofes, in: Johannes Fried / Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 141–193.
2 Mayke De Jong, In Samuel’s image. Child oblation in the Early Medieval West, Leiden 1996; Mayke De Jong, From Scolastici to Scioli. Alcuin and the Formation of an Intellectual Elite, in: Luuk A.J.R. Houwen / Alasdair A. MacDonald (Hrsg.), Alcuin of York. Scholar at the Carolingian Court – Proceedings of the Third Germania Latina Conference held at the University of Groningen May 1995, Groningen 1998, S. 46–57; C. Stephen Jaeger, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950–1200, Philadelphia 1994.