H. Junginger: Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage‘

Titel
Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage‘ im Nationalsozialismus.


Autor(en)
Junginger, Horst
Reihe
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 19
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Adams, Universität Bielefeld

Die Rolle, die die wissenschaftliche Erforschung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus spielte, wurde bereits 1946 von Max Weinreich untersucht und ist in den letzten Jahren Thema einer Reihe von Publikationen gewesen.1 Horst Jungingers Buch „Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage‘ im Nationalsozialismus“ trägt zu diesem Themengebiet bei, in dem es die Geschichte der religionswissenschaftlichen Judenforschung und das Verhältnis von Religion, Wissenschaft und Antisemitismus vor und während des Nationalsozialismus behandelt. Die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden habe der NS-Staat als modernen Staat legitimieren und „seine antijüdische Politik auf vorgeblich objektive Sachverhalte zurückzuführen“ wollen (S. 6). Judenforschung im Nationalsozialismus sollte „die so genannte ‚Judenfrage‘ mit Hilfe der Wissenschaft grundsätzlich und auf Dauer“ lösen (S. 6). Wie religiöse und nichtreligiöse Elemente des Antisemitismus verknüpft sind, ist Thema von Jungingers Untersuchung. Im Fokus liegt dabei die Religion, die als zentraler Teil auch des modernen Antisemitismus noch nicht genügend berücksichtigt worden sei.

‚Religion matters‘ ist demnach auch der einleitende Gedanke des Buches. Zunächst geht Junginger auf die bekannte Tatsache ein, dass es dem nationalsozialistischen Staat nicht möglich war, eine Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ zweifelsfrei festzustellen. Aus Mangel an rassenbiologisch eindeutigen Kriterien für eine Definition, wer Jude sei, musste auf die Konfessionszugehörigkeit zurückgriffen werden. Junginger beschreibt die häufig absurden Entscheidungen, die bei diesen Zuordnungen zutage traten, besonders bei Ehescheidungen oder Konfessionswechseln. In diesem Kontext betont er die Rolle, die die Kirche beim Ausschluss von Menschen spielte, die zur „jüdischen Rasse“ zugeordnet wurden: Schließlich war allein durch die Kirchenbücher ein Nachweis über christliche Vorfahren und damit die Bescheinigung „arischer Rassenzugehörigkeit“ zu erlangen. In einem anschließenden Kapitel führt Junginger aus, wie sich religiöse antisemitische Vorurteile trotz zunehmender Säkularisierung weiter behaupten konnten. So seien die Mythen blutrünstiger jüdischer Rituale, wie der von der rituellen Ermordung christlicher Kinder, auf die große Bedeutung des Blutes im Christentum, die Verwandlung von Wein und Brot in Blut und Leib Jesu, zurückzuführen.

In den Kapiteln, die den Hauptteil der Untersuchung bilden, zeichnet der Autor den Zusammenhang von Religion, Wissenschaft und (christlicher) Judenfeindschaft anhand der Geschichte der Universität Tübingen und der dortigen Religionswissenschaft nach. Warum der Autor die Herangehensweise einer Lokalstudie für die Beantwortung seiner Forschungsfrage gewählt hat, bleibt leider unbeantwortet. Auch die Auswahl seines Fallbeispiels – der Universität Tübingen – wird vom Autor nur kurz angerissen und bleibt insgesamt vage. Er führt zwar an, dass die Universität Tübingen sich auf dem Gebiet religionswissenschaftlich basierter Judenforschung besonders hervorgetan habe, unter anderem durch einen ersten Lehrauftrag für das Studium des Judentums mit eindeutig antisemitischen Charakter. Für den Leser und die Leserin wäre dieses Argument überzeugender, wenn die Situation des Faches an anderen Universitäten zumindest kursorisch dargestellt worden wäre.

Der Autor beginnt mit der Darstellung einer langen Kette christlich-antijüdischer Haltungen und Praxen von der Gründung der Universität bis zum Vorabend des Nationalsozialismus. Eine antijüdische Tradition war der Universität quasi in die Wiege gelegt worden: So hatte Graf Eberhard im Bart 1477 im Stiftungsbrief gleichzeitig mit der Gründung der Universität die Vertreibung der Juden aus der Stadt angeordnet, angeblich um die Studenten vor jüdischen Wucherern zu schützen. Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass die Universität Tübingen über die Jahrhunderte hinweg „mit wenigen Ausnahmen eine durchgängig negative Rolle“ gespielt habe, was das christlich-jüdische Verhältnis betrifft (S. 79). Für diese „antijüdische Einstellung der Universität [sei] ihre dezidiert christlich-protestantische Ausrichtung“ verantwortlich zu machen (ebd.). Auch in der Weimarer Republik änderte sich trotz faktischer rechtlicher Gleichstellung der Juden durch die Verfassung wenig. Die damalige Berufungspolitik, die Juden ausgrenzte, der Umgang mit jüdischen Habilitanden und die weite Verbreitung des Antisemitismus unter Studierenden und Professoren erklärt er mit der „ablehnenden Haltung allem Jüdischen gegenüber“, die auf dem „nationalprotestantischen Grundkonsens“ der Universität basiert habe (S. 129).

An den biographischen Beispielen von wissenschaftlichen Akteuren möchte der Autor die Entwicklung zur versuchten Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ anhand des Wirkens der Tübinger Religionswissenschaftler Adolf Schlatter (1852–1938), Gerhard Kittel (1888–1948) und Karl-Georg Kuhn (1906–1976) aufzeigen. Ging es Schlatter noch darum, die Vorrangstellung der christlichen Religion durch das Studium rabbinischer Texte und der Literatur des Judentums zu belegen, verwandelte sich die Beschäftigung mit dem Judentum unter seinem Nachfolger Kittel in eine wissenschaftliche „Antijudaistik“ oder „Antisemitistik“ (S. 175), die aufgrund einer fundierten Kenntnis jüdischer religiöser Schriften und des Hebräischen den Antisemitismus wissenschaftlich legitimieren sollte. Ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre versuchten die Universitäten, die Lehre zur „Judenfrage“ zu institutionalisieren: Auch die Universität Tübingen war an einem Lehrstuhl zur Erforschung der „Judenfrage“ interessiert, da dies zur „neuen rassenkundlichen Profilbildung“ (S. 203) der Uni passte. Diese Professur zum Studium der „Judenfrage“ sollte zwar die religiöse Dimension einschließen, jedoch aus dem Kontext der theologischen Fakultät, an denen die Lehrstühle von Schlatter und Kittel noch angesiedelt waren, herausgelöst werden. Auch wenn statt eines Lehrstuhls nach langem Hin und Her 1942 nur eine außerordentliche Professur durchgesetzt worden konnte, die mit dem Talmudspezialisten Karl-Georg Kuhn besetzt wurde, sieht Junginger dies trotzdem als den ersten Teil „der akademischen Ausdifferenzierung einer nationalsozialistischen Judenwissenschaft“ (S. 220). Bedeutendes Kennzeichen sei gewesen, dass das Lehrgebiet nun nicht mehr theologisch begründet wurde, sondern als „rassenkundliche Religionsforschung“ oder „religionswissenschaftliche Rassenkunde“ betrieben wurde.

Ferner spielten außeruniversitäre Institutionen zur Erforschung der „Judenfrage“ eine große Rolle, da die universitäre Verankerung der „Antijudaistik“ nicht zu einer schnellen Etablierung des Faches führte. Die Kapitel sieben und acht beschäftigen sich mit dem Wirken und der Verankerung religionswissenschaftlicher „Judenforschung“ außerhalb der Universität, an der Kuhn und Kittel ebenfalls beteiligt waren. Junginger legt dar, welchen Beitrag die religionswissenschaftliche Judenforschung zur Popularisierung religiös basierter Vorurteile leistete, beispielsweise durch Hintergrundwissen und Material für die Ausstellung und den Film „Der ewige Jude“. So wurden zum Beispiel aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus dem Talmud verwendet, um die angebliche Minderwertigkeit und Gefährlichkeit der Juden vermeintlich wissenschaftlich zu untermauern. Die angebliche Wissenschaftlichkeit war durch Religionsforscher wie Kuhn garantiert, der die Expertise besaß, bekräftigen zu können, dass die Übersetzungen korrekt waren.

Als theoretisch wie praktisch bedeutsam für den Antisemitismus im Nationalsozialismus stellt Junginger die Vorstellung von einer „talmudischen Gesinnung“ dar, nach der alle Juden sich auf Normen aus den religiösen Schriften verpflichtet fühlten, die ihnen den Kampf gegen Nichtjuden diktierten. Als ein Beispiel wählt Junginger das Gutachten, das Kittel im geplanten Prozess um die Ermordung des Pariser Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath über die Motive des Attentäters Herschel Grynszpan anfertigte. Das hauptsächliche Ziel des Gutachtens sei der Nachweis gewesen, dass die „Ermordung vom Raths den eigentlichen Beginn des jüdischen Angriffskrieges gegen das Deutsche Reich darstelle“ und Grynszpan ein vom „‚internationalen Weltjudentum‘ gedungener Mörder“ sei (S. 293). Inwiefern diese Vorstellung, sich gegen einen Angriff des „Weltjudentums“ auch mit Gewalt wehren zu müssen, konkrete Folgen hatte, beschreibt Junginger anhand der Biographien einiger Tübinger aus dem NS-Studentenschaftmilieu. Dabei legt er einen Zusammenhang zwischen dem christlich-antisemitischen Milieu Tübingens und dem Willen zum Mitwirken an den Ermordungsaktionen nahe. Ihm ist zuzustimmen, dass es zwar interessant ist, dass die „Gruppe Tübinger Exekutoren der Endlösung mit einem Studienabschluss an der Eberhard Karls Universität“ (S. 343) auffällig groß ist, zukünftige Studien einen eventuellen Zusammenhang jedoch erst noch erhärten müssten (S. 388).

Junginger präsentiert einen einleuchtenden Gesamtüberblick über das Feld der religionswissenschaftlichen Judenforschung und den Zusammenhang religiöser und nichtreligiöser Faktoren im Antisemitismus. Dabei zeigt er die Verbindung von Religion, Wissenschaft und Antisemitismus anhand der Geschichte der Universität Tübingen und ihrer Religionswissenschaft, wie auch anhand von Beispielen des Transfers dieses Wissens in die Ausgrenzungspraxis des NS-Staates überzeugend auf. Auch wenn die Bedeutung religiöser Elemente im modernen Antisemitismus wie auch diejenige wissenschaftlicher Expertise für die Legitimation des NS-Antisemitismus bereits bekannt ist, liefert seine Studie einen detaillierten und kenntnisreichen Nachweis dieser Thesen. Missleitend ist jedoch der Titel des Buches, da er eine allgemeine Behandlung der „Verwissenschaftlichung der Judenfrage im Nationalsozialismus“ verspricht, die Studie jedoch auf den kleineren Teilbereich religionswissenschaftlicher Judenforschung beschränkt ist, die hauptsächlich anhand von Beispielen der Universität Tübingen analysiert wird. Warum die Wahl auf Tübingen als Beispiel gefallen ist, wird nicht hinreichend begründet. Auch inwiefern die Tübinger Religionswissenschaft entweder als Stellvertreter für die gesamte NS-Judenforschung stehen kann oder einen Sonderfall darstellt, bleibt nicht genügend ausgeführt. Auch Klappentext und Inhaltsverzeichnis lassen den Leser und die Leserin über diese inhaltliche Einschränkung im Unklaren.2 Unter dem angekündigten Titel hätte zumindest ein abschließender Vergleich mit anderen disziplinären Zugängen nationalsozialistischer „Judenforschung“ es denn auch ermöglicht, eine eventuelle Spezifik der religionswissenschaftlichen Judenforschung im Prozess der „Verwissenschaftlichung der Judenfrage“ stärker herauszuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Vergleiche u.a. Max Weinreich, Hitler’s Professors. The Part of Scholarship in Germany’s Crimes Against the Jewish People, New Haven 1999 [Erstveröffentlichung 1946], Dirk Rupnow, ‚Judenforschung‘ im ‚Dritten Reich‘. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, vgl. dazu die Rezension von Thomas Etzemüller, in: H-Soz-u-Kult, 20.07.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-048> (27.03.2013), Alan E. Steinweis, Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi-Germany, Cambridge, MA 2006, sowie die Beiträge im Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, Schwerpunkt: ‚Judenforschung‘ – Zwischen Wissenschaft und Ideologie. Band 5 (2006), die verschiedene fachdisziplinäre Zugänge zur antijüdischen Wissenschaft untersuchen.
2 Unverständlich ist die Behauptung im Klappentext, die „nationalsozialistische ‚Judenforschung‘“ sei „in der wissenschaftlichen Aufarbeitung bislang auf wenig Interesse“ gestoßen.

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