Michael Becker, der über das System der aristotelischen Theologie an der Universität Wien promoviert hat und heute als Gymnasiallehrer tätig ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Teilbereich des philosophisch-theologischen Systems des Thomas von Aquin zu erhellen, nämlich die Rezeption der aristotelischen Substanzlehre sowie die daraus erwachsenden Überlegungen zum Menschen. Darüber hinaus will er „unter Beiziehung des großen Lehrers Thomas von Aquin“ (S. 20) grundlegende philosophische Fragen danach beantworten, worin die Wirklichkeit eines individuellen Geschöpfes bestehe, das zwar legitimer Weise einem Allgemeinbegriff zugewiesen werde, dadurch aber nicht von anderen Repräsentanten seiner Art ununterscheidbar werde, sondern als Individuum aufgefasst werden könne. Wie genau sich die philosophiehistorische Perspektive und die an Thomas, aber auch an Kant, Leibniz und Erich Heintel sowie zahlreiche ad-hoc herangezogene Denker anschließenden eigenen philosophischen Thesenbildungen zueinander verhalten, wird leider nicht expliziert. Teilkapitel mit Überschriften wie „Anmerkung“ und „Exkurs“ signalisieren bereits, dass die beiden gewählten Herangehensweisen nicht bruchlos zu integrieren waren. Das Fehlen von Zusammenfassungen der Kapitel sowie die Neigung Beckers, seine Ausführungen medias in res ohne einleitende, strukturierende Vorbemerkungen zu beginnen, erschweren es dem Leser zusätzlich, mit den Zugriffsweisen und Argumentationsgängen Schritt zu halten.
Im programmatischen Anschluss an Richard Schenk formuliert Becker einleitend Thesen zur Deutung thomasischer Texte: Thomas sei von heute aus zu lesen, das Verstehen seiner wie aller historischen Texte sei als grundsätzliche Übersetzbarkeit im gemeinsamen Menschsein begründet. Dabei könne ein Philosoph, der einen bestimmten Text lese, das Prinzip entdecken, das dessen Autor leitete; so vermöge er, das ganze Werk nachzudenken. Die historisch-kritische Erforschung philosophischer und theologischer Texte solle von einem Philosophen nicht ignoriert werden, da sie für ihn ein wertvolles Hilfsmittel darstellen könnte – in welcher Weise, bleibt ungeklärt. Das Denken des Aquinaten müsse in seiner Ganzheit als ein Entwurf erfasst werden. Gegen die Neuscholastik sei einzuwenden, dass sie das Werk des Thomas absolut setze und folglich die Werke seiner Epoche lediglich als geistiges Umfeld zu lesen vermöge. Eine systematische Hermeneutik erlaube es, sich das thomasische Gedankengut anzueignen und „in den Kontext der Heutigkeit“ (S. 12f.) einzubringen.
So gerüstet, durchmisst Becker das thomasische Denken, indem er die Ontologie und insbesondere das Substanzdenken zum Maßstab nimmt. Zunächst wird die Rezeption der aristotelischen Substanztheorie vor Thomas beschrieben, wobei neben den aristotelischen Vorstellungen selbst die arabischen Philosophen Avicenna und Averroes im Mittelpunkt stehen. Ob ein solches, mehr als vierzigseitiges, stark referierendes philosophiehistorisches Überblickskapitel zu einem Thema, das Beckers Leserschaft bekannt sein dürfte, notwendig ist, darf bezweifelt werden. Das nächste umfangreiche Kapitel widmet sich dem Wesensbegriff bei Thomas, wobei einschlägige Schriften einer genauen Lektüre unterzogen werden: Der Bogen spannt sich von „De ente et essentia“ über Passagen aus „De veritate“ bis zu Fragen des ersten Teils der „Summa theologiae“. Becker ist bemüht, einerseits das in seinen Augen offenbar keinen nicht systematisch einholbaren Veränderungen unterworfene Substanzdenken des Aquinaten zu rekonstruieren, andererseits die in den Texten vorfindlichen Überlegungen in eigene weiterführende Deutungen zu überführen, die sich bei anderen Philosophen rückversichern. Als zentrale Leistung von Thomas müsse gelten, gleichermaßen die Individualität jedes einzelnen Geschöpfes und die ontologische Relevanz des Allgemeinen abgesichert zu haben. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass eine klare Trennung zwischen einem rein philosophischen und einem theologisch motivierten Substanzbegriff bei Thomas nicht möglich ist: Die aristotelische Substanzlehre kann er nur neu gestalten, indem er im Sinne des Christentums einen aktiv wirkenden Gott postuliert und die möglichen Relationen zu seiner Schöpfung spekulativ einholt.
Das folgende Kapitel widmet sich der thomasischen Seelenlehre und Epistemologie. Anhand weniger Fragen der „Summa theologiae“ und aus „De veritate“ referiert Becker die bekannten Überlegungen zur Seele des Menschen und zum Zusammenhang von Sinneserkenntnis und intellektueller Abstraktion sowie die Widerlegung der Averroes zugeschriebenen Annahme eines Intellekts aller Menschen. Thomas wird mit Kant, Hegel und Feuerbach ins Gespräch gebracht, wobei sich die mittelalterliche Lösung, wie menschliches Erkennen des Individuellen und des Allgemeinen gedacht werden kann, als vergessener Vorläufer späterer philosophischer Lösungen erweisen soll – die Philosophie hätte sich hier, so Becker, manchen Umweg erspart, wenn sie ihre eigene Geschichte besser gekannt hätte. Erneut wird nachgewiesen, wie sehr die philosophischen Überlegungen bei Thomas theologisch gerahmt sind: Wahrheitserkenntnis ist überhaupt möglich, weil dem Menschen durch Gott Wahrheitsfähigkeit gegeben und Wahrheit transzendent garantiert ist. In Beckers Darstellung findet die Epistemologie konsequenterweise ihren Abschluss in der Gnadenlehre, den Ausführungen zum Urstand vor dem Sündenfall und zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Das Bindeglied zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit stellt das dem Menschen gegebene Vermögen dar, sich reflexiv als erkennendes Einzelwesen zu erkennen. Die thomasische Theologie ist mithin Resultat eines solchen reflexiven, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition ermöglichten Gewahrwerdens der Individualität des erkennenden Menschen. Ob diese Lehrstücke bei Thomas selbst in Form eines (von Becker wie vielen anderen a priori unterstellten) Systems aufeinander bezogen sind oder ob es sich bei diesen Bezugnahmen eher um das Resultat einer treffenden philosophischen Re-Konstruktion Beckers handelt, bleibt zu überprüfen.
Das abschließende Kapitel erweist Substanz und Freiheit als Grundlagen der Individualität des Menschen. Dessen Freiheit ist gegründet in seiner Verfasstheit als Vereinigung von Natur und Geist. Ihre Verwirklichung findet sie in der Heiligkeit, zu der der Mensch durch den Glauben zu gelangen vermag. Freiheit kann für Becker nie unabhängig von der Hinordnung des Geschöpfes auf Gott verstanden werden. Damit wird aber der neuzeitliche Freiheitsbegriff allzu rasch zugunsten einer konsequent katholischen Deutung verabschiedet. In einer Wirklichkeit, in der der Mensch nicht mehr fraglos als Produkt eines Schöpfungsakt Gottes verstanden werden kann, sondern nach Heidegger vom Geworfensein des Menschen in das Dasein ausgehend zu klären ist, wie sich der Mensch zu seinem Sein wie zum Sein als Ganzem verhält, bedarf es guter Gründe für die Behauptung, menschliche Freiheit könne ohne ein Begründetsein in Gottes Wirken nicht hinreichend erfasst werden. Becker kann stattdessen nur das Menschenbild der katholischen Tradition als Richtmaß anbieten. Eine Auseinandersetzung mit vormodernen Philosophen kann philosophisch nur ertragreich sein, wenn man die moderne Philosophie in ihrer Breite ins Gespräch einbezieht und jene auch mit solchen Konzepten konfrontiert, die sich weder genealogisch noch in Form von Wahlverwandtschaften leicht ineinander fügen lassen. Es kann weder darum gehen, von einer spätmodernen Warte aus schwierig zu adaptierende Denkweisen kaum besehen zu verwerfen, noch darum, bestimmte historisch aufgetretene Lehren zur absoluten Norm zu machen. Dass Becker die in ihrem Kontext plausible Überzeugung von Thomas, Gott sei als Urbild der Wahrheit Ermöglichungsgrund der Erkenntnis des Allgemeinen und habe mit dem intellectus agens jedem Menschen das Vermögen zum individuellen Erkennen durch wesenserschließende Abstraktion gegeben, zum Heilmittel gegen in seinen Augen unzureichende Lösungen des Problems der Erkenntnis des Individuellen und des Allgemeinen im deutschen Idealismus ins Feld führt, wirkt unterkomplex. Denn aus heutiger philosophischer Sicht ist gerade das ungebrochene Vertrauen mittelalterlicher Denker in das menschliche Erkenntnisvermögen, das von der Sinneswahrnehmung hin zur Verstandeserkenntnis konzipiert wird, wozu häufig wenig reflektiert eine stabile, prinzipiell erkennbare und in ihrer Ordnung göttlich begründete Weltordnung vorausgesetzt werden muss, epistemologisch keine befriedigende Lösung, sondern eine Strategie, zentrale epistemische Probleme nicht aufkommen zu lassen. Auch aus der theologischen Diskussion heraus erscheinen einige Ausführungen Beckers wenig differenziert. Die letzte seiner vielen Anmerkungen widmet er dem Autonomiebegriff, ausgehend von der Einsicht des Thomas, dass der Mensch der Liebe zu Gott bedarf, um zur Vollendung zu gelangen. Vor diesem Hintergrund verwirft Becker einen protestantischen Autonomiebegriff, den er, einigermaßen überraschend, bei Hegel und Kant formuliert sieht. Die protestantische Tradition überbetone die Bedeutung des unmittelbaren Gottesbezugs des Einzelnen und vernachlässige die Notwendigkeit des kirchlichen Lehramts als vermittelnder Instanz. Im katholischen Sinne könne der Mensch wahre Autonomie nur durch Gehorsam seinem Schöpfer gegenüber erlangen. Dabei sei die von der Kirche formulierte „Glaubens- und Sittennorm“ (S. 316) unbedingt verpflichtend. Wenn man die protestantische Sicht nicht mit Kant und Hegel gleichsetzte, käme man wohl zur Einsicht, dass der erste Punkt Beckers ganz im Sinne der protestantischen Theologie ist. Die unter Berufung auf Johannes vom Kreuz erhobene Forderung dagegen, jeder müsse sein Gewissen dem Urteil der katholischen Kirche als Manifestation des göttlichen Willens unterwerfen, ist aus protestantischer Sicht wenig plausibel.
Becker beansprucht für seine Ausführungen gleichermaßen philosophische wie theologische Relevanz und beruft sich dabei auf Thomas. Gleich einleitend behauptet er, die Gesamtheit unseres Wissens beruhte auf Glauben und Vertrauen, da wir nie all das überprüfen könnten, was wir als Wissen annähmen. Ob man nicht zwischen religiösem und epistemischem Glauben unterscheiden sollte und ob sich diese Auffassung vom Wissen gegenüber aktuellen philosophischen Theorien halten lässt, wird nicht weiter gefragt. Seit der Neuscholastik gehört es zur Leitüberzeugung der Thomasforschung, dass beim Aquinaten eine Harmonie von Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie erreicht sei. Warum Becker diese apologetisch grundierte Behauptung zum Konstitutionsprinzip seiner Studie nimmt, erschließt sich nicht. Dieses Vorgehen führt dazu, dass die Studie in engem Nachvollzug des von Becker angenommenen Vorgehens des Thomas von Aquin von einer vorrangig philosophisch geprägten Argumentation sukzessive zu einer immer stärker theologischen übergeht. Aus der Perspektive des katholischen Glaubens, die in den letzten beiden Kapiteln dominiert, verliert jedoch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition an Komplexität und tendiert dazu, rivalisierende Geltungsansprüche mit einem Bezug auf als richtig gesetzte Prinzipien des katholischen Glaubens (in der Interpretation Beckers) abzuweisen, ohne sie begründet zu widerlegen. Aus historischer Sicht bleibt zu fragen, nach welchen Prämissen die thomasischen Texte behandelt werden: Geht es darum, sie für die heutige philosophische oder theologische Diskussion nutzbar zu machen – dann wäre aber ein mutigerer Umgang mit dem Material wünschenswert gewesen. Die Arbeiten von Alasdair MacIntyre1, die hochkontroversen Aneignungen von Catherine Pickstock und John Milbank2 oder die ganz anders gelagerte, im Entstehen begriffene Archäologie des Subjekts Alain de Liberas3 haben gezeigt, dass eine über den Kreis der Spezialisten für mittelalterliche Philosophie hinausgehende philosophische oder theologische Debatte nur angestoßen werden kann, wenn sich der Autor ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber seinem Material erlaubt und die philosophische Konstruktion die Rekonstruktion der Textinhalte dominiert. Geht es hingegen darum, Thomas in einer historischen Perspektive zu lesen, müsste er sehr viel konsequenter in die zeitgenössischen Diskussionen eingebettet werden, es gälte, die Entstehungskontexte der Texte zu klären, und man dürfte sich nicht auf einige wenige Auszüge aus seinem Werk beschränken, um ein System zu postulieren, sondern müsste es erst einmal in seiner Breite rezipieren, um nach Einflüssen, Entwicklungen und Brüchen fragen zu können, was ein weniger harmonisches, dafür aber für den Historiker und vielleicht auch für den Philosophen spannenderes, weil spannungsreicheres Bild von Thomas hervorbrächte, als Becker es anzubieten vermag. Dem Philosophen ermöglichte dies, die Denkbewegungen des Aquinaten nachzuvollziehen, zu verstehen, wie er sich mit Tradition und Zeitgenossen auseinandersetzte und warum er zu bestimmten Lösungen gelangte, um dann, wenn er sich nicht mit dem historischen Verstehen begnügen will, auf dieser Grundlage eine philosophische Reflexion anzustellen, die Thomas tatsächlich aus dem Klammergriff der Aneignungstraditionen, insbesondere dem Neuthomismus, befreien, wie Becker es zu Recht fordert.
Anmerkungen:
1 Alasdair MacIntyre, After virtue. A study in moral theory, 3. Aufl., Notre Dame 2007 (1. Aufl. 1981).
2 Catherine Pickstock, After writing. On the liturgical consummation of philosophy, Oxford 1998; dies. / John Milbank, Truth in Aquinas, London 2001.
3 Alain de Libera, Archéologie du sujet, Vol. 1: Naissance du sujet, Paris 2007; Vol. 2: La quête de l’identité, Paris 2008.