Ein kleiner Junge, mühsam das Banner bei einer SED-Demonstration tragend, hinter ihm, mit Schlips und Militärmantel, ein Mann, der dem Jungen mehr bedrohend als beschützend die Hand auf die Schulter legt – ebenso plakativ wie der Titel „Stasi-Kinder“ führt das Titelbild in das Thema des Buches von Ruth Hoffmann ein. Die Journalistin widmet sich in ihrer Darstellung den Kindern von hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Diese seien bislang, so Hoffmann, sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend vernachlässigt worden.
Die Grundlage für Hoffmanns Buch, das sich an eine breitere, nicht primär fachwissenschaftliche Leserschaft richtet, bilden Interviews mit über 20 „Stasi-Kindern“. In zwölf Kapiteln stellt Hoffmann Ausschnitte aus den Leben ihrer Gesprächspartner vor, welche sie durch Kapitelüberschriften wie „Gehorchen“, „Zweifeln“ und „Funktionieren“ zu systematisieren versucht. Knappe Exkurse zur Tätigkeit und Lebensrealität der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter, hauptsächlich basierend auf den Untersuchungen von Jens Gieseke1, liefern Informationen zur Einordnung der biographischen Kapitel in den Kontext der Geschichte des MfS. Darüber hinaus nutzt Hoffmann auch einige Unterlagen des MfS, beispielsweise Akten der Hauptabteilung Kader und Schulung, doch werden diese im Buch bedauerlicherweise nicht nachgewiesen.
Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Schicksale der Kinder, die zumeist in den 1970er-/1980er-Jahren aufgewachsen sind. Besonders überzeugen jene Abschnitte, mit denen Hoffmann erschütternde Einblicke in den durch das MfS geprägten Alltag der Familien liefert. Im Vordergrund stehen dabei meist die unterschiedlichen Formen von Gewalterfahrungen wie Schläge, massiver Leistungsdruck und Anpassungszwang. Eine zentrale Rolle spielen auch die Reglementierungen sozialer Beziehungen und nicht konformer Verhaltensweisen. Für die Angehörigen der MfS-Mitarbeiter galten ähnlich strikte Vorgaben wie für die Hauptamtlichen selbst: Westfernsehen war verboten, neue Freunde bzw. Freundinnen mussten zwecks Überprüfung gemeldet werden, Westreisen blieben selbst in den späten 1980er-Jahren undenkbar. „Wer hauptamtlich beim MfS arbeitete“, so fasst Hoffmann die Rolle der Väter zusammen, „war gezwungen, die eigene Familie auf Linie zu halten – oder es zumindest so aussehen zu lassen.“ (S. 9)
Wie der Alltag unter diesen Vorzeichen in den MfS-Familien aussah und welche Spuren dies bei den Heranwachsenden hinterließ, schildert Hoffmann sehr eindringlich. So liest man etwa von einem Vater, der die „Befragungen“ seiner Kinder nach unerlaubten Handlungen „handschriftlich protokollierte“ (S. 226) oder von einem Mädchen, das besonders unter den fehlenden Zärtlichkeiten gelitten hat: „Keine Umarmung, kein Streicheln. Nicht einmal einen Gute-Nacht-Kuss.“ (S. 203) Besonders tragisch erscheinen diejenigen Erinnerungsberichte, in denen die (damaligen) Kinder dem – nicht selten – verhassten Vater ähnlich zu werden scheinen, etwa wenn ein Zwölfjähriger seiner Mutter, die ihn wegen einer zerrissenen Hose schlägt, droht: „Wenn du weitermachst, sag ich dem Alten, dass Du Westen guckst!“ (S. 29)
Erstaunliche Geschichte fördert Hoffmann in ihrer Darstellung zutage – zum Beispiel den Fall eines Offiziers der MfS-Hauptabteilung VI, in dessen angeheirateter Familie Besuch aus Kanada erwartet wird: „Genosse D. wird für die Zeit des Aufenthaltes der Kanadier in der DDR mit Ehefrau und Kind im Naherholungsobjekt der HA VII […] untergebracht“, zitiert Hoffmann aus MfS-Akten und kommentiert treffend: „Vierzehn Tage Verwandtschaftsquarantäne.“ (S. 13)
Dem Reportagecharakter des Buches (und vielleicht auch dem zu geringen Hinterfragen der Zeitzeugenaussagen) ist wohl geschuldet, dass die Autorin bei manchen Themen eher oberflächlich bleibt, etwa mit Blick auf die Frage, wie weit der Alkoholkonsum im MfS verbreitet war: „Alle Stasileute, die ich kennengelernt habe, waren Alkoholiker. Anders war der Job wohl nicht auszuhalten“ (S. 180) – so wird etwa die recht schlichte Analyse einer Zeitzeugin zitiert, ohne diese anhand von weiteren Quellen näher einzuordnen.
Etwas verzerrt wird das Bild, das Hoffmann von den Kindern entwirft, einerseits durch den breiten Raum, den sie Lebensgeschichten von prominenten „Stasi-Kindern“ gibt. Die Schicksale von Töchtern und Söhnen wie Vera Lengsfeld, Pierre Guillaume, Edina Stiller und Nicole Glocke passen nämlich keineswegs zu ihrer Ausgangsthese, nach der die Kinder „schweigen“ würden (S. 8) und ihre Lebensgeschichten dem Vergessen entrissen werden müssten: Die Geschichten dieser Kinder sind durch autobiographische Veröffentlichungen oder Fernsehdokumentationen bereits einem breiten Publikum vertraut.2
Zudem neigt Hoffmann dazu, sich besonders auf spektakuläre Fälle zu konzentrieren. Dazu zählen insbesondere die Kinder der Westspione Guillaume und Glocke, aber auch Thomas Tröbner, der 1985 aus der DDR zu fliehen versuchte und anschließend zweieinhalb Jahre inhaftiert war, oder Stefan Herbrich, der sich in den 1980er-Jahren in der Bürgerrechtsbewegung engagierte. Doch sind solche Fälle, bei denen sich Jugendliche aus „Stasi-Familien“ zu Oppositionellen entwickelten, alles andere als repräsentativ. Aus diesem Grund reicht die Darstellung Hoffmanns nicht weit genug: Eine stärkere Konzentration auf den „gewöhnlichen“ Alltag des Familienlebens im Schatten der Staatssicherheit hätte wichtige Erkenntnisse über Mentalität und Selbstverständnis der MfS-Angehörigen geliefert, aber auch Einblicke in den Wandel in diesem Milieu nach 1989. Darüber hinaus kommen auch diejenigen in Hoffmanns Darstellung zu kurz, die ihren Eltern auf dem beruflichen Weg folgten und ebenfalls zum MfS gingen. „In jeder dritten, mindestens aber jeder vierten Mitarbeiterfamilie entscheiden sich [ab den 1970er-Jahren] die Söhne, seltener die Töchter, ebenfalls für eine Laufbahn ‚bei der Firma‘“ (S. 69). So referiert Hoffmann zwar die Forschung, unterfüttert dies jedoch nur ansatzweise mithilfe ihrer Zeitzeugen – bedauerlicherweise, hätte man doch über die Entwicklung vom „Stasi-Kind“ zum Täter gern mehr gelesen. Gerade diese Selbstrekrutierung des MfS wirft nämlich viele Fragen auf, etwa die, auf welche Weise das Selbstbild als „Elite“ über die Generationsgrenzen weitergegeben wurde und ob das MfS dabei überhaupt erfolgreich war – die „Stasi-Familien“ dürften jedenfalls bei Konstruktion und Weitergabe des Selbstbildes eine zentrale Rolle gespielt haben.
Hoffmanns Buch regt an, die „Stasi-Familien“ auch mit anderen „Elite-Familien“ in der DDR zu vergleichen, also zum Beispiel mit Kindern von Partei-, Kultur- oder Wirtschaftsfunktionären oder Offizieren der Nationalen Volksarmee. Deren Erlebnisse dürften ähnlich gewesen sein, aber sich zum Teil auch gravierend unterschieden haben. Manche Verhaltensweisen der Eltern waren, so ist zu vermuten, generationstypisch und weniger durch die Arbeit im MfS geprägt.
Die Lektüre von Hoffmanns Bericht über die Erlebnisse der „Stasi-Kinder“ führt schließlich zu der zentralen Frage, warum die Eltern so gehandelt haben wie sie gehandelt haben. Die Väter und Mütter tauchen in der Darstellung fast ausschließlich in den Erzählungen ihrer Kinder auf. Dies entspricht Hoffmanns Ansatz, den „Opfern“ Raum zu geben. Doch gibt ihr Bericht Anlass, stärker über eine Mentalitätsgeschichte der MfS-Angehörigen nachzudenken. Eine solche Perspektive könnte einen Beitrag dazu leisten, das Herrschaftssystem der DDR besser zu verstehen. Ruth Hoffmanns Buch liefert dafür anschauliches Material und regt zu weiteren Fragen an – und ist zudem gut lesbar.
Anmerkungen:
1 Vgl. Jens Gieseke, Die Stasi 1945–1990, München 2011; ders., Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000.
2 Vgl. z.B. Nicole Glocke / Edina Stiller, Verratene Kinder. Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland, Berlin 2003; Pierre Boom / Gerhard Haase-Hindenberg, Der fremde Vater. Der Sohn des Kanzlerspions Guillaume erinnert sich, Berlin 2004.