Tony Judt begann seine Arbeit an diesem Buch, gemeinsam mit Timothy Snyder, Ende 2008 – kurz nachdem die tödliche Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) bei ihm diagnostiziert worden war. Im Juli 2010 redigierte er das Nachwort. Nur vier Wochen später starb er. Es lohnt sich, neben dem Buch selbst den Bericht von Jennifer Homans zu lesen, Judts letzter Frau, die diese knapp zwei Jahre der Arbeit an „Thinking the Twentieth Century“ geschildert hat.1 Sie macht die Umstände klarer, unter denen das Buch entstand, und gibt Einblicke in Judts Bemühen, sein plurales und immer auch widersprüchliches Denken darin weder abschließend zu harmonisieren noch zu revidieren, sondern es auf den Punkt zu bringen.
Seit Platon ist das Gespräch dafür eine etablierte Form. Hier ist es meist Snyder, der die Hebammen-Rolle übernimmt und Judt durch steile Thesen, grobe Überblicke und kategoriale Vereinfachungen dazu bringt, seine größte Stärke zu entwickeln: das differenzierende, abwägende und multiperspektivische Argument, das dennoch Position bezieht. Zu Beginn erscheinen Snyders Ausführungen, die nur etwa 20 Prozent des Buches ausmachen und kursiv vom Judt-Text abgesetzt sind, etwas irritierend journalistisch – bevor man merkt, dass sie Judts Korrekturen und Differenzierungen gerade hervorrufen sollen. Dennoch macht dieses Vorgehen den Dialog sehr asymmetrisch. Des Öfteren wünscht man sich, der 20 Jahre jüngere Snyder hätte mehr widersprochen und die eigene Position deutlicher gemacht – es hätte ein sehr interessantes Gespräch zwischen zwei Historikergenerationen (Jahrgang 1948 und Jahrgang 1969) sein können. Doch das ist dieses Buch, bedingt durch die Umstände seiner Entstehung, nicht. Es bleibt Judts letztes Buch, und Snyder ist weniger Ko-Autor als Anstifter.
Der Band folgt einer groben Chronologie, und jedes Kapitel beginnt mit autobiographischen Berichten Judts zu verschiedenen Lebensabschnitten: von der Familien- und Kindheitsgeschichte bis zu seiner Zeit als Direktor des Remarque-Instituts in New York. Erst nach diesen biographischen Skizzen schaltet sich Snyder ein und gibt Themen und Schlagworte vor. Es beginnt bei der Frage nach der Rolle des Judentums im Leben und Denken des prominenten Israel-Kritikers. Mit Spannung liest man von der vierjährigen zionistischen Phase in Judts Biographie, die ihn während seines Studiums nicht nur mehrfach in israelische Kibbuzim führte, sondern auch zur freiwilligen Teilnahme am Sechs-Tage-Krieg. Am Ende aber steht die bittere Enttäuschung, als er im Kontext der Armee mit den chauvinistischen und reaktionären Elementen der damaligen israelischen Politik konfrontiert wird.
Daneben spielt vor allem familiengeschichtlich die jüdische Kultur und Erfahrung eine zentrale Rolle, auch wenn es Judt zeitlebens vermeidet, den Holocaust, dem ein großer Teil seiner weiteren Verwandtschaft zum Opfer fiel, in seinen Arbeiten direkt zu thematisieren. Allein in der deutlichen Sonderrolle, die Judt dem Nationalsozialismus innerhalb der europäischen Totalitarismen und ihrer Ideengeschichte zuspricht, sowie in einer auffallenden Distanziertheit gegenüber Deutschland, das im Buch eher am Rande vorkommt, mag sich das zentrale Ereignis seines Geburtsjahrzehnts widerspiegeln. Judts eigentliche Arbeitsgebiete waren die französische, die osteuropäische, die englische und amerikanische sowie schließlich die gesamteuropäische Geschichte.
Den größten Raum des Bandes aber nehmen Überlegungen zur Entwicklung des Marxismus, Kommunismus, Sozialismus und der Sozialdemokratie ein – kurz: es geht vor allem um die Möglichkeiten, Wirklichkeiten und wechselvollen Geschichten der politischen Linken im 20. Jahrhundert. Hier wird am meisten deutlich, welches geistige Erdbeben die Wende von 1989/90 für Intellektuelle der Generation Tony Judts darstellte. Obgleich er nie ein klassischer „68er“ gewesen war, hat die laufende Auseinandersetzung mit den Versprechen und den Verbrechen des Sozialismus über Jahrzehnte sein Denken bewegt; dies aber immer schon in einer so differenzierten Form, dass Judt auch das merkwürdige Konglomerat von Ideen und Ideologien, wie es sich nach 1989 entwickelte, mit historischer Tiefenschärfe durchleuchten kann. Dennoch fällt dem Leser vor allem in den Passagen, die sich auf die Jahrzehnte des Kalten Kriegs und davor beziehen, die Unnachgiebigkeit auf, mit der jedes Phänomen des 20. Jahrhunderts dem Links-Rechts-Schema unterworfen wird – und welches auch identitäre Investment damit verbunden war. Nicht zuletzt darin zeigt sich der unterschiedliche Erfahrungshorizont der Gesprächspartner: Für Snyder sind all die verschiedenen linken Positionen und Theorien historisches Material – faszinierend, aber vor allem dazu da, rückblickend geordnet zu werden. Für Judt waren und sind es auch retrospektiv Lebensmodelle, manchmal erfüllte und viel öfter enttäuschte Erwartungen eines Zeitgenossen, der gerade in seiner durchgehenden intellektuellen Unabhängigkeit von vorgegebenen Positionen hier dennoch eine teilnehmende, betroffene Bilanz zieht.
Weitere große Themen der Gespräche sind Judts Faszination für die Geschichte Osteuropas (hier findet er in dem Spezialisten Snyder einen kongenialen Gesprächspartner) und sein kritisches, doch wiederum auch teilnehmendes Verhältnis zu Amerika. So sehr Judt gegenüber seiner Wahlheimat eine stets distanzierte Haltung bewahrt hat, bis hin zur bewussten Selbstinszenierung als europäisch-intellektueller ‚Know-it-all‘, spürt man zugleich eine weitgehende politisch-moralische Verpflichtung gegenüber diesem Land, dessen Fähigkeit zur Selbstverbesserung Judt prinzipiell voraussetzt.
Vielleicht das merkwürdigste Kapitel des Buches beschäftigt sich unter dem sprechenden Titel „Einheit und Fragmente“ mit der Geschichtstheorie und mit den generellen Aufgaben des Historikers. Auch wenn sich Judt und Snyder hier bisweilen in skurrilen Metaphern verlieren, wie etwa derjenigen vom Historiker als einer Art Inneneinrichter, der die Möbel (Fakten) der Vergangenheit nicht erfinden könne, aber sie zurechtrücken müsse, liefert dieses Kapitel einige grandiose anekdotische Schlaglichter auf Judts Leitmaxime, dass geschichtliche Erinnerung niemals historische Erfahrung ersetzen könne, sondern auf deren immer neue Deutung angewiesen bleibe. Von seiner ersten Frau, einer Volksschullehrerin, eingeladen, in ihrer Klasse als ‚echter Historiker‘ etwas über die Französische Revolution zu erzählen, verwandelte Judt jene Maxime in eine denkbar direkte Didaktik: „Nach reiflicher Überlegung brachte ich eine Guillotine mit ins Klassenzimmer. Wir begannen die Stunde, indem wir Marie Antoinette den Kopf abschlugen.“ (S. 284f.) Was jedem deutschen Referendar wohl reichlich Ärger einhandeln würde, war für Judt die einzig mögliche Form didaktischer Reduktion: zurück zu den Fakten – um ein neues Nachdenken über sie einzuleiten.
Es ist nicht zuletzt diese Bereitschaft, Positionen mit der gleichen Leidenschaft zu vertreten wie auch in Frage zu stellen, die Tony Judt zu einem herausragenden Historiker des 20. Jahrhunderts machte, der gerade deshalb lesenswert ist, weil er immer am Rande der ‚Zunft‘ stand, ohne je etwas anderes als Historiographie betreiben zu wollen. Sein nun auf Deutsch vorliegendes und mit der Hilfe Timothy Snyders verwirklichtes letztes Buch, von der Krankheit und der Nähe des eigenen Todes geprägt, ist sicher kein resümierendes Vermächtnis; vielmehr zeugt es von dem genau gegenteiligen und beeindruckenden Willen, sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts am Ende, aller Umstände zum Trotz, noch einmal vorzunehmen: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.
Anmerkung:
1 Jennifer Homans, Tony Judt: A Final Victory, in: The New York Review of Books, 22.03.2012, URL: <http://www.nybooks.com/articles/archives/2012/mar/22/tony-judt-final-victory/?pagination=false> (27.03.2013).