Teilen ist in Mode. Als zeitgemäße Bewältigungsstrategien der Krise gepriesen, haben digitale Tauschplattformen aller Art Konjunktur. Durch Apps zum Teilen, Verkaufen, Verschenken und Tauschen von kurz vor dem Ablauf stehenden Nahrungsmitteln oder gebrauchter Kleidung, scheinen nachbarschaftliche Beziehungen nicht mehr an die engste Umgebung gebunden zu sein. Netzwerke teilen über die Plattform Internet aber auch Güter wie den Beifahrersitz in Mitfahr-Börsen, im Buch als online hitchhiking websites (OHWs) definiert, oder die eigene Wohnung, indem privat Schlafplätze über Gastfreundschaftsnetzwerke wie CouchSurfing.com angeboten werden. Der Austausch solcher privater Räume bringt persönliche, intime Begegnungen mehrerer sich fremder Menschen mit sich. Genau hier befindet sich der Untersuchungsgegenstand von Bialskis Arbeit, welche als Dissertation am Department of Sociology an der Lancaster University vorgelegt wurde.
Das Thema der intimen Mobilität zieht sich durch ihre Forschungsgeschichte: Die Grundlagen der Arbeit bilden eine groß angelegte quantitative Online-Umfrage, eine Auto-Ethnographie als jahrelange Nutzerin von OHWs und CouchSurfing.com sowie qualitative Interviews mit Teilnehmer/innen. In einem Feld, welches von ihr mobil und transnational wahrgenommen wird, verzichtet sie auf die Sichtbarmachung von Kulturunterschieden aufgrund nationaler Grenzen. Sie zeichnet den Begriff der intimen Mobilität anhand eines Vergleichs des CouchSurfing-Netzwerks mit in europäischen OHWs.
Der von Büscher und Urry mitgeprägte mobilities paradigm1 bildet Basis und Ausgangspunkt der Überlegungen von Bialski. Netzwerktheorien wie die der social network analysis lässt sie weniger einfließen, da diese den Wert einer Beziehung nur wenig einbeziehen würden. Daher setzt sie ihren Forschungsfokus auf Co-Präsenz und face-to-face Intimität: Ihr fehlte bis dato Forschung, die vom Aufbau sozialer Beziehungen handelt, welche nicht im lokalen, stabilen, immobilen Umfeld passieren, sondern von Personen aufgebaut werden, welche sich von einem solchen Umfeld getrennt haben. Dieses Netzwerken vollzieht sich in einem Freiraum, in dem sich Individuen neu erschaffen. (S. 64)
Neben dem Begriff der intimen Mobilität skizziert Bialski anhand ihres Forschungsfeldes weitere grundlegende Begriffe: Gastfreundschaftstechnologie ermögliche erst die Kommunikation vor dem ersten Treffen, Online-Profile können eine vertrauensbildende Maßnahme sein und werden zur Risikoabschätzung verwendet. Interaktionen, welche durch solche Gastfreundschaftstechnologien vermittelt wurden, können einerseits zu Nähe, Anziehung und Vertrauen führen. Mögliche Auswirkungen sind aber auch Missverständnisse, Misstrauen oder einfach Verlegenheit. Technologie, welche Menschen eng verbindet, führe nicht unbedingt zu Gastfreundschaft. Es brauche auch einen gewissen Grad an kulturellem Kapital, um mobil und gastfreundschaftlich zu agieren. Während bei CouchSurfing Gastfreundschaft als Motivation explizit genannt wird und von den Teilnehmer/iinnen auch eingefordert wird, spielt bei Mitfahrbörsen die Ökonomie eine grundlegende Rolle. Mobile Intimität findet dort erst statt, wenn diese von beiden Parteien gewollt ist, sie muss erst ausgehandelt werden und führt Bialski zu einem weiteren Begriff:
Freundschaftstechnologie wird eingesetzt, um Vertrauenswürdigkeit und Kompatibilität mit dem zukünftigen Gegenüber im Voraus einzuschätzen. Dies ist bei CouchSurfing mit seinen stark personalisierten Profilen, den Bewertungen Dritter und der Möglichkeit, ganze Fotoalben hochzuladen, stark ausgeprägt. 95 % der CouchSurfer/innen nutzen das Netzwerk explizit, um Freundschaften zu knüpfen. Als wichtigstes Merkmal solcher Technologien stellt sich für sie die Reduzierung der Zufälligkeit heraus: Aus chance-encounters werden geplante choice-encounters. Durch das schnelllebige Setting des Reisens bedingt, müssen solche Freundschaften innerhalb von Tagen entwickelt werden. Hochgradig mobile Menschen würden dadurch das Gefühl von Fremdheit teilweise sogar ablegen. Bialski zitiert dabei Wellmann, der einen Paradigmenwechsel von gruppenzentrierten Beziehungen hin zu networked individualism skizziert. Bindungen werden lokal wie auf Distanz eingegangen und persönliche Netzwerke sind weitmaschig, beinhalten aber sehr enge Gruppen. Dabei werden Verbindungen schnell aufgebaut, ebenso schnell aber wieder aufgegeben.
Bialski zeigt Strategien auf, wie sich Freundschaften und intimate encounters verhindern lassen können: „Nicht alle mobilen Menschen sind intim-mobil und nicht alle intim-mobilen zielen auf freundschaftliche Verhältnisse mit allen getroffenen Personen ab.“ (S. 122) In einem ganzen Kapitel listet sie die Prozesse von Entfremdung und Distanzierung auf: Als mobile Person habe man viel mehr Wahlfreiheit, man kann sich Treffen aussuchen: Personen on-the-move haben weniger sozial konstruierte Obligationen zu beachten. Die Möglichkeit des gezielten Aussuchens führe auch zu Ausgrenzung: Innerhalb von CouchSurfing und OHWs haben sich eigene Abgrenzungsrituale entwickelt. Interaktionen mit den „falschen“ Menschen erfüllen nicht das Bedürfnis, ‚die Welt zu verstehen‘, die dafür eingesetzte Zeit wird als Enttäuschung empfunden (S. 136). Während langer Autofahrten, auf denen man sich örtlich nicht abgrenzen kann, zählt Bialski das Musikhören, Lesen oder Telefonieren als Beispiele solcher Abgrenzungsstrategien auf.
Ein eigenes Kapitel ist den Ritualen des mobilen ‚Sich Zuhause Fühlens‘ (home-making) gewidmet. Die Aneignung von Raum, das Gefühl von Häuslichkeit und Gemeinschaft ist für intim-mobile Menschen nicht selbstverständlich: Rituale können hier helfen. Die These dahinter soll laut Bialski nicht sein, dass der Verzehr standardisierten Kaffees oder Hamburgers Abhilfe schafft. Dieses Gefühl werde vielmehr durch Rituale des Kochens, des Wohnens und der Konversation reproduziert. So bekommen CouchSurfer/innen als Gäste im Normalfall Schlüssel ausgehändigt. Diese Geste hat eine große Bedeutung: Der Schlüssel symbolisiert Sicherheit und den Zugang zu einem Zufluchtsort. Wichtig werden auch Rituale rund um Körperpflege, denn Bad, Dusche und Toilette sind sehr intime Orte, welche geteilt werden müssen. CouchSurfer/innen ‚erkämpfen‘ sich diese Intimität, indem sie eigene Pflegeprodukte platzieren und so rituell Besitz nehmen.
Auch Emotionen spielen in den von ihr skizzierten Begegnungen eine zentrale Rolle. Während Bezugspunkte wie „Freund“ oder „Ehemann“ als Personenbeschreibung wenig Gebrauch finden, werden mobile Menschen eher anhand von Emotionen beschrieben. In den Umfragedaten werden durch Freundschaftstechnologie zustande gekommene Interaktionen als hyper-emotional gegenüber dem Leben zuhause beschrieben.
Bialski verwahrt sich gegenüber der Meinung, durch neue Technologien komme es zu einer ‚Supermarketization of friendship‘ (Urry). Vielmehr zeigt sie: Intime Mobilität kann Solidarität und Freundschaft über weite Distanzen aufbauen. Wo Intimität oder Freundschaft lokal nicht möglich oder unerwünscht sind, bieten Gastfreundschaftstechnologien neue Wege an. Sie argumentiert klar gegen ein individualistisches, isoliertes und selbstbezogenes Modell von Online-Networking und zeigt, dass soziale Bindungen und Solidarität nicht mehr nur lokal möglich sind. Das Buch bietet eine umfangreiche Beschreibung des ‚intim-mobil-Werdens‘, Bialski wird dem Buchtitel („how to become intimately mobile“) also gerecht. Dabei entstand eine umfangreiche Abhandlung über moderne Beziehungen, die Probleme aufzeigt und einbezieht, ohne dabei in Kulturpessimismus zu verfallen.
Anmerkung:
1 John Urry, Mobilities, Cambrigde 2007.