Hand- oder Lehrbücher, die sich der Bildungsentwicklung der arabischen, lateinamerikanischen, karibischen oder subsaharischen Weltregion widmen, sind in der europäischen Forschungsliteratur selten zu finden. Erziehungswissenschaftliche Überblickswerke zur gesamten sogenannten „nicht-westlichen“ Welt sind, zumindest in deutscher Sprache, so gut wie nicht vorhanden. Der vorliegende, höchst anregende Sammelband trägt in grundlegender Weise dazu bei, diese Lücke zu füllen, indem die Bildungsentwicklungen und Schulsysteme des, wie Christel Adick, die Herausgeberin des Bandes in der Einführung darlegt, „(nicht westlichen) Restes der Welt“ examiniert werden (S. 12). Mit dieser durchaus ambitionierten Zielsetzung wird ein fundamentaler Perspektivenwechsel angestrebt, der, so Adick, dazu verhelfen soll, eurozentrisch angehauchte Forschungssichtweisen „auszubalancieren“ (S. 8). Das Buch setzt sich damit nicht nur von Ansätzen wie dem des britischen Historikers Niall Ferguson ab, der in seinem im Jahre 2011 erschienenen Werk „Civilization: The West and the Rest“ den Siegeszug westlicher Zivilisation postuliert und damit die Idee westlicher Überlegenheit aktualisiert, sondern auch von dem weitverbreiteten World-Polity-Ansatz der Stanford-Schule, der von einer weltweiten Diffusion „westlicher Rationalitätsstandards und Modelle“ ausgeht und eine daraus resultierende ansteigende strukturelle Isomorphie feststellt (S. 7).
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Während der erste Teil regionalen Bildungsentwicklungen (arabische Staaten, Karibik, Lateinamerika, ostasiatische Staaten, Pazifikregion, subsaharisches Afrika sowie Süd- und Westasien) gewidmet ist, enthält der zweite Teil Länderstudien zu Brasilien (Claudia Richter), China (Caroline Glöckner), Indien (Gregor Lang-Wojtasik), Japan (Sabine Meiser und Volker Schubert), Mexiko (Laura Patricia Cruz Ruiz und Esther Hahn), Nigeria (Ina Gankam Tambo) und Südafrika (Christine Rehklau). Für die Auswahl der im ersten Teil bearbeiteten Regionen, die als „mehrere Staaten umfassende geographische Räume“ definiert werden, wurde der regionalen Klassifikation der UNESCO1 gefolgt (S. 10). Das Auswahlkriterium für die Länderstudien stellte die Zugehörigkeit zu Ländergruppen wie den BRICS-Staaten2 und BRICSAM-Staaten3 dar, gewählt wurden also als wirtschaftlich und politisch aufstrebend gewertete Nationen, die gegenwärtig oder zukünftig in einem Konkurrenzverhältnis zu den OECD-Staaten4 stehen würden und/oder Länder, die als federführend innerhalb ihrer Region angesehen wurden. Grundsätzlich strebt der Sammelband keinen systematischen Vergleich der behandelten Weltregionen bzw. Länder an, vielmehr werden bewusst „Überblicksdarstellungen“ angeboten, in denen Aspekte wie historisch-politische Entwicklungen, Geschichte und aktuelle Situation, insbesondere Probleme des Bildungswesens sowie Besonderheiten des betreffenden Länderbeispiels bzw. der Region, thematisiert werden. Dennoch werden für Vergleichszwecke im Einleitungsanhang „basale Daten“ zur Bildungssituation der untersuchten Regionen bzw. Länder vorgestellt (S. 11–12).
Im Rahmen der Regionalbeiträge widmet sich Jonathan Kriener der Bildungsentwicklung in den arabischen Staaten mit Fokus auf Ägypten und den Libanon. Zwar würden die Länder in dieser Region eine „dramatische Expansion ihrer Schulsysteme“ verzeichnen, doch als problematisch wertet Kriener die in den Schulsystemen bestehende Spannung zwischen islamischen und westlichen Leitbildern (S. 39). Der Beitrag von Christel Adick beschäftigt sich mit der Bildung in der englisch-, französisch-, und niederländisch-sprachigen Karibik und diskutiert, wie eine sogenannte „karibische Identität“ und ein „karibik-typisches koloniales Erbe“ aktuelle Bildungsprozesse weiterbestimmen würden. Ferner weist die Autorin auf die Formierung karibischer Bildungsräume hin, die zum Beispiel durch die regionale University of West Indies (UWI) und die übernationale Prüfungs- und Curriculumsbehörde Caribean Examination Council (CXC) gefördert würden. Ebenso sei in der Region, so Adick, ein steigender US-Amerikanisierungsprozess zu verzeichnen, der sich in Form überregionaler Studentenmobilität, sowie Ausbreitung US-amerikanischer Testagenturen und Verlagsunternehmen manifestiere (S. 53). Claudia Richter widmet sich den Verhältnissen in Lateinamerika und vertritt die Auffassung, dass trotz historisch-kulturell bedingter Gemeinsamkeiten in den letzten Jahrzehnten sowohl eine politische als auch eine wirtschaftliche Differenzierung des Kontinents erkennbar sei. Richter versteht hierunter nicht nur die Asymmetrien zwischen den lateinamerikanischen Ländern, sondern auch die ungleiche Wohlstandsverteilung innerhalb dieser Länder, die sich wiederum auf die Bildungssysteme niederschlage. Neben einem gewinnbringenden Einblick zur lateinamerikanischen Lehrerbildung identifiziert die Autorin regionale Errungenschaften wie die Erzielung „quasi-universeller“ Grundschulbildung sowie hoher Schulbesuchs- und Alphabetisierungsraten (S. 79). Diese würden jedoch einhergehen mit unzureichender „Bildungsqualität“, welche sich in Form von niedrigen Schülerleistungen und prekärer schulischer Infrastruktur manifestiert. Volker Schubert liefert, mit Verweis auf die Länder Indonesien und Laos, einen systematischen Überblick über die Bildungsentwicklung in den ostasiatischen Staaten. Anders als zum Beispiel in Lateinamerika habe der Kolonialismus in dieser Region, so Schubert, keine „neo-europäischen Ablegergesellschaften“ erzeugt, weshalb Ost- und Südostasien „kulturell vergleichsweise eigenständig“ geblieben seien, zumal einige Länder wie Südkorea zu führenden Industrienationen aufsteigen konnten (S. 86). Weiterhin diskutiert Schubert die regionale Heterogenität der Schulsituationen, sowie die Inklusion von ethnisch/religiösen Minderheiten und Mädchen/Frauen in die jeweiligen Bildungssysteme. Gerade diese Problemlagen werden in der Mehrheit der Regionalbeiträge thematisiert. Die Bildungsentwicklung in der Pazifikregion, mit einem besonderen Verweis auf Samoa, wird von Schubert in einem zweiten Beitrag behandelt. Hier arbeitet er regionale Entwicklungen wie die späte Kolonialisierung, das Dominieren von Subsistenzwirtschaft und das Bestehen verschiedener protestantischer Glaubensgemeinschaften heraus und zeigt deren Verknüpfung zur heterogenen Schulexpansion. Ausgehend von der sprachlich-kulturellen Fragmentierung der Region diskutiert Schubert mit Blick auf das Schulwesen das nicht nur in dieser Region gegebene Dilemma „zwischen berechtigtem Anspruch auf eine umfassende Bildung“ und der damit einhergehenden Möglichkeit zu politischer, kultureller und sozialer Teilhabe und den „berechtigten Ansprüchen auf Anerkennung und Förderung der eigenen Sprache, Kultur und Lebensweise“ (S. 116–117). Im Beitrag über die Bildung im subsaharischen Afrika kommt Christel Adick zu erkenntnisreichen Schlüssen hinsichtlich der aktuellen Bildungssituation der Region, die zugleich von einem afrikanischen, islamischen und westlichen Erbe geprägt sei. Ferner diskutiert Adick gegenwärtige Konfliktlagen wie Kinderarbeit und Kindersoldaten und die speziell für diese Region gravierenden Auswirkungen von Aids auf das Bildungswesen. Darüber hinaus problematisiert Adick, wie sehr die „nationalen Bildungsentwicklungen“ dieser Region von internationalen Organisationen gesteuert würden und von diesen abhängig seien (S. 143). Gregor Lang-Wojtasik widmet sich in seinem Beitrag der Bildung in Süd- und Westasien, einer Region, die „in Folge des (Post-)Kolonialismus von Konflikten oder Krisen betroffen“ sei (S. 149). Lang-Wojtasik verweist auf den heterogenen Charakter der Region und formuliert hinsichtlich der islamischen Länder die Grundfrage, wie der „Spagat zwischen religiöser und säkular-expansiver Bildungspolitik einer globalisierten Moderne“ gestaltet werden könne (S. 164).
Obwohl es nicht allen Beiträgen gelingt von deskriptiven und reproduzierenden Analysen abzusehen und einen vollends systematischen, differenzierten und problemgeleiteten Überblick zu den Regionen bzw. Ländern zu liefern, löst der Sammelband sein Versprechen ein, die in der europäischen und vor allem deutschen Forschungswelt noch zum Teil im Schatten stehenden Bildungsentwicklungen sogenannter „nicht-westlicher“ Weltregionen und Länder zu beleuchten, sowie eine fundierte und ansprechende Übersicht zu den historischen, politischen und kulturellen Voraussetzungen dieser Entwicklungen zu liefern. Insgesamt ist in den Beiträgen allerdings die Tendenz erkennbar, die Bildungsentwicklungen zu sehr durch die normative Brille der internationalen Organisationen zu analysieren, deren Programmatik dabei nicht genügend reflektiert wird. Diese Tendenz gerät in Konflikt mit dem angestrebten Perspektivwechsel, der auf dem Grundsatz basieren sollte, die „nicht westliche“ Welt nicht so sehr entsprechend ihrer Angleichung an westliche Standards und Ordnungsmuster werten zu wollen. Doch gerade weil historisch-politische Konfliktlagen wie zum Beispiel Kolonialismus und Dekolonisation nahezu durchgängig berücksichtigt werden, lässt sich der Mehrwert des Sammelbandes, speziell im Vergleich zu herkömmlichen Berichten von internationalen Organisationen, nicht leugnen. Geradezu erfrischend war der Verweis auf Kooperationen zwischen den „nicht-westlichen“ Weltregionen, etwa zwischen Subsahara-Afrika und Kuba, Brasilien und China (zum Beispiel S. 143). Aufschlussreich war außerdem der in einigen Beiträgen gelieferte Einblick in regionale Lernkulturen und Unterrichtstraditionen und die damit verbundene Problematisierung des „westlichen“, zum Teil karikaturesken, einseitigen Außenblicks auf diese Lernkulturen (zum Beispiel S. 93–96). Auch wenn der Sammelband keinen systematischen Vergleich intendierte, hätte jedoch ein übergreifendes Schlusskapitel nicht nur überregionale Pfadabhängigkeiten, sondern auch divergente und gemeinsame Bildungstendenzen der Weltregionen, wie zum Beispiel das Wachstum des privaten Bildungssektors und die steigende Bedeutung von output-orientierter Evaluation, aufzeigen können. Dadurch hätte der prekäre gemeinsame Nenner des „Restes der Welt“ bzw. des „Nicht-Westlichen“ deutlicher benannt werden können. Ebenso wäre es im Falle von Überblickswerken, die sich in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft verorten, gewinnbringender, wenn Kategorien, die zum Beispiel aus den Politikwissenschaften stammen, in reflektierter Weise übernommen würden. So ist es durchaus fragwürdig, dass Argentinien, Mexiko und Uruguay unkommentiert zu den „Entwicklungsländern“ gezählt werden (S. 75). Nicht unproblematisch ist außerdem angesichts der postkolonialen Debatte innerhalb der Sozialwissenschaften die zum Teil undifferenzierte Benutzung von Ausdrücken wie „reinblütige Indianer“ (S. 73) oder „indianisch“ (S. 72).
Ungeachtet dieser Kritikpunkte handelt es sich um einen sehr gelungenen Sammelband, der sowohl als Inspiration für zukünftige Forschungsarbeiten und Bildungskooperationen als auch als nützliche Informationsquelle für den Journalismus dienen kann.
Anmerkungen:
1 UNESCO: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization.
2 BRICS für: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
3 BRICSAM für: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand und Mexiko.
4 OECD: Organisation for Economic Co-operation and Development.