Wer sich daran gewöhnt hat, die Geschichte der Bundesrepublik in erster Linie von der Innenpolitik, den sozialen Bewegungen, der Alltagskultur oder auch der europäischen Einigung her zu betrachten, den kann bei der Lektüre dieser beiden Bücher mitunter das mulmige Gefühl überkommen, dass das Ausblenden der stets präsenten Bedrohung durch die Atomwaffen ein Stück Verdrängung enthält. Besonders für Jüngere, die die Ängste und quälenden Grübeleien des Kalten Krieges nicht mehr kennen, stellt sich die Bundesrepublik in ihren ersten Jahrzehnten oft wie eine allzu gemütliche, ja muffige Wohnstube dar, während sie in den Zukunftsperspektiven vieler Zeitgenossen vom atomaren Abgrund umgeben war. Und Geschichte verstehen bedeutet ganz zentral, einstige Zukünfte zu rekonstruieren und sich die Offenheit vieler Situationen für die Mitlebenden bewusst zu machen.
Aus einer besonnenen Rückschau erscheint es evident, dass ein Atomkrieg zwischen Ost und West niemals wirklich drohte: Beide Seiten fürchteten einen solchen Krieg und hätten dabei nur zu verlieren gehabt. Der sowjetische Block, seit 1960 obendrein mit einem feindseligen China im Rücken, war dem Westen hoffnungslos unterlegen und konnte unmöglich an einen Angriff denken; aber auch die Bundesrepublik besaß im eigenen Überlebensinteresse ein brennendes Bedürfnis nach einem stabilen Frieden. War das nicht alles ganz offenkundig? Eben nicht: Daran wird man durch die Lektüre der vorliegenden Bücher erinnert.
Beide sind als Dissertation entstanden, beide 2013 erschienen, und beide überschneiden sich, wenn auch bei unterschiedlicher Struktur, streckenweise in ihrer Thematik; insofern hat es Sinn, sie teilweise im Nebeneinander zu besprechen. Die Mannheimer Dissertation von Michael Knoll entstand am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr; Stephan Geier, der in Erlangen promoviert wurde, arbeitet an der Europäischen Südsternwarte in Garching bei München, jenem Ort, wo 1955 der erste bundesdeutsche Atomreaktor errichtet wurde. Das Hauptverdienst beider Dissertationen besteht in der Erschließung umfangreicher, hier und da brisanter Quellenbestände – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in den USA.
Knoll, von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt, hat ausgiebig Nachlässe von CDU-Politikern ausgewertet, aber auch Bestände der Degussa, deren Uranzentrifuge in der nuklearen Frühzeit von bundesdeutscher Seite das größte Aufsehen erregte, sowie Bestände des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (die jedoch, wie es scheint, hier kaum große Geheimnisse enthalten). Geiers großes Opus beeindruckt besonders durch seine extensive Quellenbasis, zu der auch elektronische Quellen wie das Portal „The Nuclear Weapon Archive“ gehören und mit der das Buch in zeithistorisches Neuland vordringt. War es bislang eine gängige Vorstellung, dass zumindest für die Bundesrepublik das nukleare Proliferationsproblem mit dem endgültigen Beitritt zum „NV-Vertrag“ (Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen) 1975 erledigt gewesen sei – noch Knoll ist dieser Auffassung (S. 336) –, wird man von Geier ausführlich eines anderen belehrt und daran erinnert, dass man mit Willy Brandts „neuer Ostpolitik“ keine übertriebenen Vorstellungen einer Großen Wende verbinden darf. Und dabei bleibt der neue nukleare Rüstungswettlauf im Zeichen der „Nachrüstung“ in Geiers Darstellung noch außen vor.
Der in Archivalien stöbernde Historiker – und dieser Spezies sind beide Autoren zuzuordnen – recherchiert aus dem Grundgefühl heraus, dass das Wichtigste geheim sei und im innersten Kreis der Macht eine Klarheit entstehe, die aus dem in der Öffentlichkeit betriebenen Verwirrspiel herausführe. Das mag für Bismarcks Emser Depesche und Rückversicherungsvertrag zutreffen – aber nicht selten muss der detektivische Historiker entdecken, dass unter den Insidern eine kaum geringere Konfusion herrscht als in der Öffentlichkeit. Das hat im Laufe des 20. Jahrhunderts sogar noch zugenommen: Informationen gibt es jede Menge; aber welche sind zuverlässig, welche sind wichtig, und was folgt daraus? Es scheint, dass in dieser Hinsicht die Kerntechnik einen qualitativen Sprung bedeutete: Noch nie zuvor war eine derart komplexe, schwer zu durchschauende Technik zum Gegenstand der „Großen Politik“ geworden.
Beide Autoren haben sich in Details der Kerntechnik eingearbeitet (Geier ist auch promovierter Physiker), zuweilen sogar übertrieben ausführlich; demgegenüber hätte es sich gelohnt, gerade aus der eigenen Erfahrung mit dieser Mühsal heraus der Frage nachzugehen, was von alledem die beteiligten Politiker jener Zeit begriffen haben mögen. Technische Experten konstruieren mit Vorliebe technologische Sachzwänge; wo konnten damalige Politiker Entscheidungssituationen erkennen? Was konnten sie darüber wissen, was die Schaffung der „Option“ zum Bau von Atomwaffen konkret bedeutete, in welcher Weise sich atomare Sprengköpfe zu „taktischen“ Atomwaffen miniaturisieren ließen und inwieweit man eine „friedliche“ Kerntechnik von der militärischen abkoppeln konnte?
Zugegeben: Solche Fragen sind in vielen Fällen nicht leicht zu beantworten, zumal Politiker ungern ein Nichtverstehen zugeben. Knoll widmet „Adenauers ‚Artillerie-Fauxpas‘ am 4. April 1957“ ein ganzes Kapitel (S. 146ff.): jenem Kanzlerwort, dass „die taktischen Atomwaffen […] im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie“ seien – was den Anstoß zum Göttinger Manifest der Atomphysiker gab. Ein Zeichen hanebüchener Ignoranz? Adenauer war über neue Entwicklungen der atomaren Waffentechnik eigentlich „stets bestens informiert“ (S. 326) – und doch besaßen die „taktischen Kernwaffen“ schon damals „eine um ein Vielfaches höhere Sprengkraft als die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben“ (S. 149). Zwischen dem Grauen vor den Atomwaffen und der Überzeugung, dass die Bundesrepublik diese Waffen gerade deshalb in ihre militärische Planung einbeziehen müsse, schwankte Adenauer offenbar hin und her. Und damit stand er nicht allein.
In beiden Büchern erkennt man deutlich, was sich schärfer hätte herausbringen lassen: Es gab nicht die eine Bonner Atompolitik, sondern – wie Knoll (S. 26) treffend vorausschickt – mehrere, zueinander in Spannung stehende Handlungslinien, ohne intensive Diskussion, wie mit den diversen Optionen umzugehen sei. Da hatte man, wie es scheint, selbst intern Hemmungen, Klartext zu reden. Franz Josef Strauß hat in seinen Memoiren einen Zusammenstoß vom Juli 1962 zwischen ihm und Adenauer berichtet, der so unglaublich klingt, dass er bislang nur zögernd dem bundesdeutschen Geschichtsbild einverleibt wurde: Von Bundespräsident Lübke hatte Strauß vertraulich erfahren, dass Adenauer ihn in Kürze entlassen wolle, da er, Strauß, einen Präventivkrieg plane. Darauf sei Strauß mit anderen CDU/CSU-Oberen zum Kanzler gestürmt und habe ihn als Lügner beschimpft. Auch Knoll hält diesen Krach für glaubwürdig (S. 25), erwähnt die Episode jedoch nur nebenbei, obwohl sie reichlichen Anlass zum Grübeln gäbe.
Hatte Adenauer Grund, seinem Verteidigungsminister derartige Pläne zuzutrauen? Bisweilen hatte der Kanzler selbst Zustände, wo er von Präventivschlagsgedanken nicht weit entfernt war; da kippte die Angst vor einem sowjetischen Atomangriff in eine herausfordernde Haltung um. In der Öffentlichkeit wurde dem „Alten“ üblicherweise Starrsinn unterstellt; in Wahrheit unterlag er gerade in Atomfragen heftig wechselnden Stimmungen. Adenauer und Strauß waren in ihrer Atomstrategie voneinander wohl nicht so weit entfernt, wie man von dem Zusammenstoß her glauben sollte – und doch fehlte es anscheinend an einer vertraulichen Aussprache: Selbst intern war die Atompolitik von einer Atmosphäre des Misstrauens und der Verschleierung umgeben, Verschleierung auch eigener Unsicherheit. Wie Knoll abschließend bemerkt (S. 325f.), hat Adenauers „Verschleierungspolitik“ bis heute auf das Bild von der bundesdeutschen Geschichte eingewirkt. Durch die Akten gewinnt man keine volle Klarheit; womöglich gab es sie gar nicht.
Die Einblicke in das Innenleben der „Großen Politik“ führen nicht selten drastisch vor Augen, wie dringend der Politiker-Alltag in seiner Betriebsblindheit der kritischen Öffentlichkeit und der Reflexion aus der Distanz bedarf. Betroffen liest man bei Geier über die Teststoppverhandlungen der Jahre 1958 bis 1962 (S. 153): „Das eigentliche Problem, nämlich die weltweit steigende Belastung durch radioaktiven Fallout, trat sehr schnell in den Hintergrund.“ Stattdessen das gewohnte Powerplay. Oder in der Schlussbilanz (S. 392): „In der Bundesrepublik existierte zunächst kein und später nur wenig Problembewusstsein, was die NV anging. In den Akten taucht die NV-Frage oft als eine Art Steckenpferd der Amerikaner auf und die Unterstützung von NV-Maßnahmen galt im Wesentlichen als Zugeständnis an die USA. Das eigens geschaffene Amt des Abrüstungsbeauftragten wurde lange Jahre von Swidbert Schnippenkötter bekleidet, einem der schärfsten Kritiker der NV-Politik.“ Über einen solchen Hauptakteur mit biographischen Prägungen aus der Wehrmacht, dessen Horizont und Beweggründe würde man gerne mehr erfahren; da ist Geiers Arbeit zu sehr von der für die moderne akademische Historiographie leider typischen Menschenscheu infiziert.
Man muss solche Darstellungen quer lesen, um die Legitimität der Bürgerbewegungen in Nuklearfragen parallel zur Fragwürdigkeit der Expertise in den „inner circles“ der Politik in voller Schärfe zu begreifen. Beide hier vorliegenden Arbeiten sind ein Stück weit selber von den Scheuklappen ihrer Politiksparten angesteckt: In Geiers Buch ist die öffentliche Kernenergie-Kontroverse gar kein Thema, und bei Knoll wird die Anti-Atomtod-Bewegung der 1950er-Jahre separat behandelt. Innerhalb der Darstellung von Adenauers Atompolitik scheint er sie zu vergessen; da findet sich der absurde Satz (S. 151f.): „Die deutsche Bevölkerung war sich zu keiner Zeit während des Untersuchungszeitraums der Gefahren eines Atomkrieges auf dem Bundesgebiet bewusst.“ Als Beleg ein Schriftstück aus dem Nachlass Strauß! Knoll ist so sehr von der Sprache seiner Akten angesteckt, dass er wie ein Angehöriger des Kanzleramtes durchgängig von „Bundeskanzler Adenauer“ spricht, als ob der Leser fortwährend an die Stellung Adenauers erinnert werden müsste.
Aber seien wir nicht ungerecht: Beide Arbeiten sind weit entfernt von jener leichtfüßig- modischen Art „Diskursgeschichte“, die auf der Basis einer Handvoll Publikationen in die Geschehnisse eine Logik projiziert, die es realiter nicht gab. Die Autoren haben sich durch spröde Aktenmassen hindurchgeackert und vermitteln ein plastisches Bild vom Hin und Her des politischen Alltags. Aber eben deshalb unterliegen sie über weite Strecken dem typischen Dilemma des Historikers, der in den Quellen ertrinkt und darüber die Grundfragen vergisst. So etwa in diesem Fall die fundamentale Frage: Was war die Bonner Atompolitik überhaupt für eine Art von Politik; worum ging es in erster Linie? Um die Abschreckung eines von der Sowjetunion befürchteten Angriffs? Um die Kompensation der über geraume Zeit relativ geringen konventionellen Rüstung? Um die Gleichberechtigung innerhalb des westlichen Bündnisses? Um die (west)europäische Einigung? Um die Entwicklung deutscher Atomwaffen? Um die Zukunft der bundesdeutschen Energieversorgung? Oder weit mehr um die Förderung künftiger Kernkraft-Exporte? Siegfried Balke (CSU), von 1956 bis 1962 Bundesminister für „Atomfragen“ bzw. für „Atomkernenergie“, hat mir glaubwürdig versichert, für ihn sei die Atompolitik an erster Stelle Wissenschaftspolitik gewesen; aber selbst innerhalb seines Ministeriums gab es durchaus andere Ambitionen. Merkwürdigerweise kommt Balke in beiden Darstellungen kaum vor: Hat die Perspektive Adenauers, der seinen Atomminister anscheinend wegen dessen Sympathie für das Göttinger Manifest zu schneiden pflegte, auf die Autoren abgefärbt?
Zum Teststoppvertrag, der „nach den Krisen um Berlin und Kuba als großer Wurf in der Entspannungspolitik“ gegolten habe, bemerkt Geier (S. 159): „Da es in der Bundesrepublik weder ein militärisches Atomprogramm gab und entgegen mancher Äußerungen von Adenauer oder Strauß auch kein solches erwogen wurde, bestand eigentlich keinerlei Veranlassung, den Vertrag inhaltlich abzulehnen.“ Woher ist sich der Autor dessen so sicher? Warum dennoch die Bonner Bedenken und dann dieser teils offene, teils untergründige Widerstand gegen den NV-Vertrag? Ging es nur um symbolische Werte: um die Gleichberechtigung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis? Warum legte Adenauer solches Gewicht darauf, dass er den Verzicht auf eine bundesdeutsche Produktion von Atomwaffen im Einvernehmen mit dem US-Außenminister Dulles nur „rebus sic stantibus“ ausgesprochen habe (Knoll, S. 131f.; Geier, S. 37-41)?
Wie wir seit der großen Adenauer-Biographie von Hans-Peter Schwarz wissen1 und wie es auch Knoll und Geier unter die Lupe nehmen, hat Adenauer Ende 1956, als er dem atomaren Schutzschirm der USA nicht mehr traute, eine deutsche Atomwaffenproduktion geplant. Offenbar folgten dieser Absicht – die, wäre sie damals publik geworden, für Bonn eine außenpolitische Katastrophe bedeutet hätte – keine entsprechenden Taten, jedenfalls nicht in großem Stil; da hätten in ihrer Mehrheit weder die Atomforscher noch die an Kerntechnik interessierten Wirtschaftskreise mitgespielt. Ein atomarer Militärisch-Industrieller Komplex, der demjenigen der Atommächte vergleichbar gewesen wäre, konnte unter bundesdeutschen Bedingungen nicht entstehen. Und doch wurde im Kernforschungszentrum Karlsruhe das „Transuran-Institut“ eingerichtet, das zuerst unter dem Namen „Plutonium-Institut“ firmierte; und auch die „mehreren Zwecke“ des dort errichteten „Mehrzweck-Forschungsreaktors“ (MZFR), der weder für die Forschung noch für die Industrie zu gebrauchen war, würden eine Prüfung verdienen: Diese vermisst man in beiden Büchern – wie überhaupt eine intensivere Beschäftigung mit der dazugehörigen Schwerwasser-Reaktorlinie, die aus dem Bombenprojekt des Zweiten Weltkriegs stammte, im Zentrum der frühen bundesdeutschen Atomplanung stand und überall in der Welt für solche Staaten attraktiv war, die mit minimalem Aufwand an waffenfähiges Plutonium herankommen wollten.
Die unter Willy Brandt vollzogene konstruktive Mitwirkung der Bundesrepublik an einer Ausgestaltung des NV-Vertrags, der die zivile Kernenergie-Entwicklung nicht behinderte und auch für führende Länder der „Dritten Welt“ akzeptabel war, galt bisher vielfach als ein Ruhmesblatt der bundesdeutschen Außenpolitik. Von Insidern konnte man freilich schon vor Jahrzehnten hören, dass die trickreiche Bonner Erfindung der „instrumentierten Spaltstoffflusskontrolle“, die einer Industriespionage unter dem Deckmantel der NV-Kontrollen vorbeugen sollte, damals eher ein Luftballon war: eine Kompromissformel mit wenig Substanz. Geiers Pointe geht denn auch dahin, dass Bonn in Wahrheit dazu beigetragen habe, eine effektive NV-Politik bis heute zu verhindern. Dabei spricht allerdings einiges dafür, dass die Proliferationsgefahr der Kerntechnik so oder so inhärent ist. Leider kommen die Atomwirtschaft, ihre Entwicklung und ihre Protagonisten in beiden Büchern nur undeutlich vor. Geier glaubt schon 1965 einen „rasanten Aufstieg der deutschen Atomwirtschaft“ zu erkennen (S. 188); das ist für jene Zeit weit übertrieben.
Man kann argumentieren, dass die bundesdeutsche Atompolitik, nachdem Adenauers Bombenpläne geplatzt waren, im Kern Exportförderungspolitik wurde. Und eben deshalb musste die Reaktortechnik zumindest eine Option auf militärische Nutzung enthalten; denn nicht zuletzt dadurch wurde sie für ehrgeizige Staaten wie Brasilien und Argentinien, Indien und den Iran attraktiv: alles Länder, auf die sich damals hohe Exporthoffnungen richteten. Wer die in den 1970er-Jahren vollzogene radikale Umwertung dessen, was als „links“ galt, nicht mehr kennt, liest bei Geier (S. 239) mit Verblüffung, dass ausgerechnet Erhard Eppler, später der grüne Vordenker der SPD, 1967 Prognosen der Atomlobby übernahm, „welche die bis 1990 zu erwartenden Gewinne aus Nuklearexporten auf 70 Milliarden DM veranschlagten. Eine fantastische Summe, die in etwa dem damaligen Bundeshaushalt entsprach.“ So ist es zu erklären, dass sich Bundeskanzler Schmidt zehn Jahre später im Blick auf das Reaktorgeschäft mit Brasilien, das schließlich „fast vollständig im Sande“ verlief (S. 395), der Mahnung des US-Präsidenten Carter, keine proliferationsträchtige Technik zu exportieren, in einer brüsken Art widersetzte, die aus dem bis dahin üblichen Umgangston zwischen Bonn und Washington eklatant herausfiel (S. 366). Oder ging es doch um mehr als um die Reaktorexporte? Zwei Jahre darauf gehörte Schmidt zu den Initiatoren der „Nachrüstung“, mit der über Jahre ein neues nukleares Wettrüsten begann.
Das Problem der Bewertung ist bei alledem vertrackt; es wird auch von den Autoren dieser Bücher nicht gelöst. Ob Atomwaffen auf bundesdeutschem Boden für Gegner eher abschreckend oder herausfordernd wirkten – diese quälende Dauerfrage ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen nicht zu beantworten. Wenn so oder so amerikanische A-Waffen in Westdeutschland lagerten, war es konsequent, für deren Einsatz eine deutsche Mitsprache zu fordern; und die ewigen Rückschläge bei diesem Bemühen konnten als Indiz dafür gelten, dass am ehesten eine deutsche Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen der Forderung Nachdruck verliehen hätte. Diese Argumentation von Strauß besaß ihre Logik. Aber es war nicht die einzige Logik; bei alledem blieb die Atompolitik ein unheimliches Spiel mit Unbekannten.
Beide Bücher verleiten zu Reflexionen, die über sie hinausführen – etwa zur Dynamik der Angst, die gerade bei Machtmenschen leicht in eine aggressive Stimmung umschlägt. „Wenn ich mir vorstelle, […] man würde uns mit einigen Atombomben beglücken, was würde da von Deutschland übrig bleiben“, zitiert Knoll (S. 32) den Bundeskanzler aus einem seiner „Teegespräche“ mit Journalisten 1952; Knolls Kommentar ist eine Stilblüte von Understatement: „Folglich äußerte sich Adenauer skeptisch gegenüber den Einsatzmöglichkeiten atomarer Waffen auf deutschem Boden.“ Und doch glaubte Adenauer – so 1954 vor dem CDU-Vorstand – einzig in den Atomwaffen, nicht etwa in der Einbindung in eine internationale Gemeinschaft, die Essenz bundesdeutscher Souveränität zu erkennen; wieder mit jener brutalen Offenheit, die den Charme, aber auch das Schockierende der Adenauer-Sprache ausmacht (S. 49, Fn.): „Wenn ich mich überhaupt nicht mehr verteidigen kann gegenüber einem Feind, der da vor den Türen steht, wo ist denn dann die Souveränität? […] Tatsächlich leben wir – nackt heraus gesagt – in unserer Freiheit nur deswegen, weil die Amerikaner ein paar tausend Atombomben haben, und die Russen haben weniger! Das ist unsere Souveränität.“ Ein abgrundtiefer Pessimismus in der Sichtweise der internationalen Politik. Bei Knoll lesen wir (S. 150), dass die Bundeswehrführung 1960 ein „nukleares Golgatha des deutschen Volkes“ befürchtete. Beide Bücher können, quer gelesen, zum Nachdenken darüber anregen, ob ein Nutzen der Geschichte für das Leben nicht zuletzt auch darin liegt, heutige Probleme in historischer Proportion zu sehen und die eigene Gegenwart schätzen zu lernen.
Anmerkung:
1 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Band 2: Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991.