„Auch Reden sind Taten oder können es sein“, schreibt Dolf Sternberger in einer Sammlung von Reden der Bundespräsidenten, die er 1979 herausgab und einleitend kommentierte.1 Politik vollzieht sich in Sprache (Erhard Eppler) – Geschichtspolitik nicht nur, aber erst recht. Insofern liegt es nahe, gerade die – im Wortsinne – staatstragenden Reden der Bundespräsidenten für eine Untersuchung über die Aufarbeitung der NS-Zeit heranzuziehen. Dies wurde in der Vergangenheit auch bereits mehrfach gewinnbringend getan2, nun hat mit Dirk Schmaler ein studierter Politikwissenschaftler und Journalist eine neue Studie dazu vorgelegt. Der Titel: „Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ erweist sich allerdings als irreführend, konzentriert sich der Autor doch wesentlich auf die Reden zum 8. Mai. Die Bundespräsidenten Carstens, Rau und Wulff behandelt er deshalb nur kursorisch (Carstens und Rau sind jeweils nicht einmal zwei Seiten gewidmet), weil in deren Amtszeiten kein runder Jahrestag des Kriegsendes fiel (S. 15). Das mag aus arbeitsökonomischen Gründen einleuchten, mit Blick auf den Titel der Arbeit überzeugt das aber nicht, zumal Schmaler auch bei den analysierten Amtsträgern sehr wohl Reden abseits des 8.-Mai-Gedenktages heranzieht, etwa Ansprachen in Konzentrationslagern. Weil Schmaler seine einleitend skizzierte Vorgehensweise nicht konsequent beibehält, bleibt der Eindruck einer eher willkürlichen Betonung einzelner Amtszeiten gegenüber anderen.
Schmaler stellt den Einzelbetrachtungen der Bundespräsidenten einen kurzen einleitenden Abschnitt zum „8. Mai und die Schuldfrage nach 1945“ voran (S. 13–25). Darin liefert er Anhaltspunkte zu den Kategorien der nachfolgenden Reden-Analysen, indem er die philosophisch-wissenschaftlichen Debatten um die Schuldfrage, das Beschweigen und Verdrängen skizziert und, mit Blick auf die Aufgabe des Bundespräsidenten, auf die Problematik eines gebrochenen Geschichtsbewusstseins für die nationale Identität verweist. Die Stichworte liefern ihm dazu neben Hannah Arendt und Karl Jaspers auch Hermann Lübbe und Gesine Schwan.
Die Kapitel zu den einzelnen Reden folgen in ihrem Aufbau dem gleichen Schema: sie liefern zunächst einen kursorischen Überblick zum gesellschaftlichen Stand der Aufarbeitung nebst einer knapp gehaltenen Biografie des jeweiligen Bundespräsidenten und einem Schlaglicht auf den situativen Kontext der Rede. Die einzelnen Kapitel umfassen dabei kaum mehr als zehn Seiten, so dass letztlich wenig Raum für die eigentliche Darstellung der Redeinhalte bleibt. Die werden meist in wenigen Zitaten skizziert. Dafür fällt die Bewertung stellenweise umso deutlicher aus. Mit voranschreitender Lektüre setzt sich dabei der Eindruck durch, dass hier weniger der Beitrag des jeweiligen Bundespräsidenten zur Entwicklungsgeschichte der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur diskursiv bestimmt werden soll. Der Autor beurteilt die Reden vielmehr von einer normativ als „richtig“ aufgeladenen Betrachtungsweise des 8. Mai. Die aber hat sich, wie er bereits im Vorwort selbst schreibt, erst in einem „widerspruchsreiche[n] Prozess der Erinnerung“ (S. 7) über sechs Jahrzehnte herausgebildet und ist auch heute sicher nicht abgeschlossen, sondern unterliegt einer steten Wandlung, muss immer wieder gesellschaftlich verhandelt werden. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass sich der Autor von einzelnen Redepassagen, die dem Bild einer heute erwartbaren Gedenkrede widersprechen, geradezu „erschreckt“ zeigt (S. 7). Geht man hingegen von einem prozessualen Charakter im Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft aus, sieht man die Wiederkehr bestimmter, früher bereits einmal prägender Erinnerungsmotive, die nach Latenzphasen wieder bemüht werden, etwa – in abgewandelter Form allerdings – der Diskurs über die Deutschen als Opfer. Die dezidierten Urteile über das vermeintliche Geschichtsbild der jeweiligen Bundespräsidenten würde sich zudem sicher nicht selten relativiert haben, hätte der Autor konsequent auch die Reden zu anderen Gedenktagen der NS-Vergangenheit herangezogen (27./30. Januar, 9. November, 1. September, 20. Juli).
Die Studie macht deutlich, wie neben der NS-Vergangenheit selbst auch deren Aufarbeitung in den vergangenen Jahrzehnten zum Gegenstand der Gedenkrhetorik geworden ist. Schmaler meint gar den Versuch zu erkennen, „die […] vielfach problematische Aufarbeitung der Vergangenheit zu überhöhen“ und „das Bestreben, die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch den vorgeblich erfolgreichen Umgang mit ihr zu ersetzen“ (S. 130). Interessanter ist – wenn auch nicht wirklich neu – der Hinweis darauf, dass bereits Walter Scheel den Gedanken vom 8. Mai als Tag der Befreiung prägte, 1975, also ein Jahrzehnt vor der längst zum bundesrepublikanischen Mythos geronnenen Rede Richard von Weizsäckers (S. 72). Gerade an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Wirkung einer Rede von der Person des Redners, dem Zeitpunkt und vor allem ihrer medialen Begleitung beeinflusst wird. Hier macht sich jedoch auch bemerkbar, dass in der Studie die Rezeption der Reden in einer medialen Öffentlichkeit leider viel zu selten berücksichtigt wird. Ausgespart bleibt damit der gesellschaftliche Resonanzkörper, der den Reden des Bundespräsidenten überhaupt erst die Bedeutung verleiht, die ihnen der Autor eingangs der Arbeit für das Geschichtsbewusstsein völlig zu Recht beimisst. Dies erstaunt umso mehr, als es sich beim Autor um einen Politikredakteur einer Tageszeitung handelt. Gänzlich ausgeblendet bleibt zudem das direkte Umfeld des jeweiligen Bundespräsidenten, also seine Entourage bzw. der Stab im Bundespräsidialamt, der an der Erarbeitung der Reden beteiligt gewesen war, inklusive externer Fachleute, die sicher mit zu Rate gezogen wurden.
Die Arbeit erscheint als erster Band einer von Joachim Perels herausgegebenen Reihe: „Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft“. Unklar bleibt allerdings die Funktion dieser Studie innerhalb dieser Publikationsreihe, in der es, so ist dem Editorial zu entnehmen, um eine „Justizgeschichte der Bundesrepublik“ gehen soll (S. 5f.). Naheliegend erscheint allenfalls, dass dieser – dann allerdings eher schmale Band – eine Art mentalitätsgeschichtlichen Überbau für das liefern soll, was in den weiteren Bänden folgt: die rechtsstaatliche Analyse der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Umgang der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz mit den NS-Gewaltverbrechen.
Anmerkungen:
1 Dolf Sternberger (Hrsg.), Reden der Deutschen Bundespräsidenten. Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, München 1979, S. X.
2 Etwa Ulrich Baumgärtner, Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe; 4), München 2001; Matthias Rensing, Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949–1984, Münster 1996.