1863 wurde in Leipzig unter Führung Ferdinand Lassalles der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet. In der Erinnerungskultur der SPD wurde dieses Ereignis als ihre eigentliche Geburtsstunde verankert. So mag nicht überraschen, dass im Jubiläumsjahr 2013 jene zwei Persönlichkeiten, die – neben Lassalle – als die eigentlichen Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie gelten mögen, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, jeweils mit biographischen Studien bedacht worden sind. Der Berliner Historiker Jürgen Schmidt hat mit seiner Bebel-Biographie einen flott geschriebenen und gut zu lesenden Essay vorgelegt, der auch Nicht-Historikern einen leichten Einblick in Persönlichkeit und Umfeld eines schillernden Parteiführers bietet. Das Liebknecht-Buch des 2010 verstorbenen Historikers Wolfgang Schröder, aus nachgelassenen Papieren zusammengestellt, ist ein Fragment der geplanten großen Liebknecht-Biographie geblieben. Dennoch führt es die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungsarbeit zusammen und wird daher – bei allen den Umständen geschuldeten Redundanzen und Sprüngen – aus den Literaturlisten zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein.
Der Gründung des ADAV stand der 24-jährige Leipziger Drechslermeister Bebel, dessen Aufstieg aus dem Prekariat in die unternehmerische Selbständigkeit Schmidt in Beziehung setzt zum Emanzipationsprozess des vierten Standes überhaupt, 1863 feindlich gegenüber. Erst die Bekanntschaft des 14 Jahre älteren Liebknecht, der 1865 von Berlin nach Leipzig kam, leitete die entscheidende Wende hin zum „wissenschaftlichen“ Marxismus ein. Folgt man Schmidt, so war es „Freundschaft auf den ersten Blick“ (Schmidt, S. 71). Herkommen und Temperament der beiden Männer konnten dabei unterschiedlicher kaum sein: Während uns Bebel von Schmidt – im Sinne Max Webers – als „Macher“ geschildert wird: „Netzwerke knüpfen, Reden halten, Kongresse organisieren, das Geld der Partei renditeträchtig in Wertpapieren anlegen, Wahlkämpfe vorbereiten und bestreiten, politische Ziele und Ideen entwerfen“ (Schmidt, S. 10f.), so war Liebknecht ein Träumer, ein Feuerkopf, ein idealistischer, vorwärtsgetriebener Freiheitsenthusiast von der Pieke auf. 1826 in eine verarmte großherzoglich-hessische Honoratiorenfamilie hineingeboren, früh verwaist und von einem gefühlskalten Theologen in Gießen aufgezogen, hatte er sich als Student der republikanisch-revolutionären Sache angeschlossen. 1848 kämpfte er in Paris und nahm als Leutnant der Volkswehr am badischen Aufstand teil. Nach der Niederschlagung der Revolte fand er, einer von 11.000 deutschen Emigranten, Zuflucht in der Schweiz. Die Zeit des Exils – erst in Genf, dann in London –, die Richtungs- und Flügelkämpfe innerhalb der deutschen Exilantengemeinde schildert Schröder lebendig und dicht.
In Genf lernte Liebknecht 1849 Friedrich Engels kennen, den er („He was a man“) als Mentor anerkannte – eine wohl ebenso entscheidende Begegnung für Liebknecht, wie es die Bekanntschaft Liebknechts für Bebel werden sollte. Durch Engels fand er Aufnahme in den Kreis um Karl Marx, der sich, der Bösartigkeit fähig, in abfälligsten und drastischsten Bemerkungen über den Novizen erging, dem Liebknecht aber in Treue bis ins Grab verbunden blieb. In ihm hatte er seinen Meister gefunden, und durch ihn wurde der Marxismus zur tragenden Ideologie der deutschen Arbeiterbewegung. Zutreffend schreibt Schröder, dass Marx und Engels, die „Londoner“, ihre Berührungen mit Liebknecht als eine „Herr-Knecht-Beziehung“ begriffen und in die politischen Fähigkeiten ihres Adepten kaum Vertrauen hatten (Schröder, S. 349). Selbstbewusster gegenüber den „Londonern“ trat Bebel auf, der sich in das politische Tagesgeschäft ungern hineinreden ließ, der eher ein Mann der Tat als der Ideen war und der auf dem Magdeburger SPD-Parteitag von 1910 freimütig bekannte, niemals zu den Marx-, Engels- oder Lassalle-Anbetern gehört zu haben: „Wenn ich an die anderen Götter nicht glaube, so glaube ich auch nicht an die unseren.“ (Schmidt, S. 161)
In der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre begründeten Liebknecht und Bebel die „Bebel-Liebknechtsche Richtung“ als politische Entität – erst in Form der 1866 gegründeten Sächsischen Volkspartei (SVP), nach deren drei Jahre später erfolgten Vereinigung mit Teilen des ADAV in Form der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die sich 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nannte. Der Eisenacher Vereinigungsprozess wird von Schröder ausführlich gewürdigt, wobei er Liebknecht gegen die Kritik der DDR-Schulgeschichtsschreibung, zu kompromissbereit gegenüber den Lassalleanern gewesen zu sein, vehement verteidigt. 1867 zogen Bebel und Liebknecht als zwei von drei Sozialdemokraten erstmals in den Reichstag, diesmal noch des Norddeutschen Bundes, ein. Erst jetzt wurden sie, wie Schröder schreibt, „Arbeiterführer im nationalen Maßstab“ (Schröder, S. 166). Diese Rolle füllten sie aus, und am 26. November 1870 kam es im Plenum zum Showdown: An diesem Tag unterzogen Bebel und Liebknecht Bismarcks Kriegszielpolitik gegenüber Frankreich einer Fundamentalkritik, traten gegen die Annexion Elsass-Lothringens als zukünftigem Kriegsherd auf und verweigerten die Kriegskredite. Schmidt scheut sich nicht, die Parallele von Bebels Friedensrede zu Joschka Fischers „I am not convinced“ zu ziehen, was der historischen Vergleiche sicherlich einer der schiefsten ist (vgl. Schmidt, S. 111).
Der anschließende Leipziger Hochverratsprozess, in dem sie zu jeweils zwei Jahren Festungshaft verurteilt wurden, sicherte ihnen in den Reihen ihrer Anhänger einen Märtyrerstatus, der ihre Autorität festigte. Auch die „Londoner“, Engels und Marx, waren beeindruckt. Die Zeit des Sozialistengesetzes 1878 bis 1890 sah Bebel als unumstrittenen Führer der deutschen Sozialdemokratie, den die Fähigkeit, die Flügel auszutarieren, das rechte Maß zwischen Prinzipien- und Opportunitätspolitik zu halten, zur Integrationsfigur machte. Daran sollte sich bis zu seinem Tod 1913 nichts ändern. Widerspruchsfrei war der Politiker Bebel indes nicht: Über 40 Jahre Mitglied des Reichstags war er vor antiparlamentarischen Schüben nicht gefeit; immer die Gesetzlichkeit seiner Partei betonend, malte er den großen „Kladderadatsch“ regelmäßig an die Wand und schürte so die tatsächlichen oder vorgeschobenen Ängste seiner Gegner; als „Parteidictator“ hatte er sich dem Kampf für die Demokratie verpflichtet, und auf dem Dresdener Parteitag 1903 bekannte er sich stolz als „Todfeind“ der bürgerlichen Gesellschaft, nur um wenige Jahre später zu Protokoll zu geben, dass, wenn es gegen Russland ginge, er selbst noch die Flinte auf den Buckel schnallen werde, um das Vaterland zu schützen. Auf Fußnoten verzichtend, hat Schmidt eine das Paradoxe der Persönlichkeit nicht aussparende Überblickdarstellung zu Bebels Leben vorgelegt; ohne theoretische Überfütterung und langwierige Exkurse rechnet sie auf ein breiteres Publikum, und es sei ihr gegönnt.
Liebknecht, der wie kaum ein anderer die 1848er-Tradition verkörperte, auf die sich die Partei berief, diente ihr als Parlamentarier und Journalist und galt – wegen seiner im Exil erlangten Sprachkenntnisse – als ihr informeller „Außenminister“. Tatsächlich konnte er aber eher symbolische als tatsächliche Autorität für sich reklamieren. Die Spottworte Engels’, Marx’, Bebels, Victor Adlers und Karl Kautskys sind Legion. Und auch nach der Lektüre des von Schröder mit großer Sympathie nachgezeichneten Lebensbildes, das mit Liebknechts USA-Reise 1886 abbricht, kommt der Leser nicht umhin, in den häufig überschießenden Lästereien der Parteifreunde das Körnchen Wahrheit zu vermuten. Ein politischer Führer vom Format August Bebels war Liebknecht sicherlich nicht. Schröders Verehrung seines biographischen Subjekts, mit dessen Persönlichkeit er sich intensiv befasst, in die er sich regelrecht versenkt zu haben scheint und der er in allen Verästelungen nachzuspüren sucht, muss der Leser nicht folgen. An seinem Liebknecht-Buch wird, wer zur Frühgeschichte der deutschen Sozialdemokratie forscht, gleichwohl nicht mehr herumkommen können. Es ist den Editoren zu danken, dass diese Leistung nicht vergebens war und dass sie im Druck erscheinen konnte. Doch hätte eine Zusammenfügung der einzelnen Teile durch einen mit dem Thema vertrauten Ko-Autor und ein gründliches Lektorat der Lesbarkeit des Buches nur förderlich sein können.