Das oben angezeigte Handbuch hält zum Teil mehr als es verspricht. Denn über die im Titel angegebene zeitliche und topographische Begrenzung hinaus finden sich zahlreiche, weit über eine bloße Randnotiz hinausreichende Informationen und Überlegungen. Die instruktive Einleitung enthält zum Beispiel eine ausgreifende Reflexion „Deutsche und internationale Reformpädagogik – Austausch, Beeinflussung, Abgrenzung?“ (S. 16–26). Der Abschnitt liefert eine bündige Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsstandes zu dieser Frage – und widerspricht der von den Herausgebern selbst vertretenen Ansicht, dass der Forschungsstand hier „sehr lückenhaft“ sei (S. 17). Freilich ist „lückenhaft“ ein relativer Begriff, Lücken wird es auf jedem Forschungsgebiet, zumal in den Sozialwissenschaften, immer geben. Ferner finden sich viele Hinweise in den einzelnen Textbeiträgen, häufig verpackt in ausführlichen Anmerkungen, zum internationalen, auch anglo-amerikanischen „Personal“ der Reformpädagogik, so dass sich über das Personen- und Sachregister Wichtiges zu Leben und Werk einzelner Protagonisten und Protagonistinnen der Reformpädagogik erschließen lässt. Auch die zeitliche Limitierung wird – zum Glück für den Gegenstand und durchaus im Sinne der Herausgeber – immer wieder in die Vorgeschichte zurück und über das Jahr 1933 hinaus, häufig bis in die Gegenwart hinein, überschritten. So zeigt sich, dass die „Leitideen und Diskurse“ (Abschnitt B des Werkes), ebenso wie die „Praxisfelder“ (Abschnitt C) und „pädagogischen Handlungssituationen“ (Abschnitt D) in Bezug auf die Reformpädagogik nicht nur in historischer Sicht interessant, sondern vielmehr für das heutige Verständnis von Schule und Unterricht von zentraler Bedeutung sind. Das muss durchaus nicht einer „Enthistorisierung“ (S. 10) der Reformpädagogik Vorschub leisten, die die Herausgeber als einen „Zeittrend“ erkannt zu haben glauben. Diesem angeblichen Zeittrend sowie der Reduktion der Geschichte auf „aktualistische Perspektiven“ (S. 10) entgegenzuwirken, ist das dezidierte Anliegen der Herausgeber, dem gegenüber der „Versuch unternommen [wird], die Reformpädagogik in ihrem einmaligen zeitgeschichtlichen Kontext sichtbar werden zu lassen“ (ebd.).
Das gegenüber anderen Darstellungen der Reformpädagogik spezifisch Neue sehen die Herausgeber „vor allem“ darin, dass „sich die Bearbeitung weder an den bekannten Richtungen (Kunsterziehung, Landerziehungsheime, Erziehung ‚vom Kinde aus‘, Arbeitsschule etc.), noch an zentralen Repräsentanten orientiert bzw. die Geschichte auf aktualistische Perspektiven reduziert“. Stattdessen sind aus ihrer Sicht „vier Gesichtspunkte maßgeblich, mit deren Hilfe die historische Reformpädagogik systematisch erschlossen wird:
– die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie entstand und auf die sie zurückwirkte;
– die pädagogischen Diskurse, in deren Verlauf spezifische Leitideen entwickelt und Kontroversen ausgetragen wurden;
– die Praxisfelder, auf denen sie ihre pädagogischen Neuerungen erprobte;
– die pädagogischen Handlungssituationen, in denen ein reformpädagogisches Selbstverständnis in besonderer Weise wirksam werden konnte.“ (S. 9f.)
Die in dem Programm avisierte Negativbestimmung, sich weder an den „bekannten Richtungen […] noch an zentralen Repräsentanten“ orientieren zu wollen, wird, wie bereits oben sichtbar wurde, nicht konsequent eingehalten. So gibt es in den einzelnen Beiträgen eben doch umfangreiche Teile, die sich mit dem Leben und Werk einzelner Protagonisten und mit spezifischen Strömungen auseinandersetzen, wenn auch fokussiert auf bestimmte Begriffe. Im Kapitel über „Schule“ (Bd. II, S. 657ff.) finden sich denn auch instruktive Hinweise zu den „bekannten Richtungen“; und der „‚Hauslehrerschule‘ Berthold Ottos“ ist ein eigener eben so überschriebener fünfseitiger bzw. zehnspaltiger Abschnitt gewidmet. Berthold Otto setzt so auch in diesem Buch seine schon früh einsetzende Karriere in der Sekundärliteratur fort, von Hohmann (1911) und Hilker (1924), Petersen (1926) und Nohl (1933/1949), über Scheibe (1969) und Röhrs (1980) sowie Kemper/Benner (2003).1 – Die „Nichtorientierung“ erweist sich als nicht durchführbar. Sie ist meines Erachtens weder notwendig, noch sinnvoll.
Der zweite, positiv formulierte Anspruch („Kontextualisierung“) wird dagegen durchweg eingelöst, vor allem im Abschnitt „A. Reformpädagogik und gesellschaftliche Kontexte“. Hier kommen neben den gleichsam traditionellen Themen wie Arbeiterbewegung, Konservative Revolution, Jugendbewegung (und anderen) auch solche zur Sprache, die bisher im thematischen Zusammenhang (besonders in den Gesamtdarstellungen zur Reformpädagogik) eher beiläufig oder gar nicht behandelt wurden, etwa: Politische Parteien, Frauenbewegung, Psychologie (unter Einschluss auch tiefenpsychologischer Ansätze). Hier zeigt sich überzeugend, dass es den Herausgebern und Autoren nicht nur um die Erschließung bereits intensiv behandelter Themenkomplexe geht, sondern um eine neue Gewichtung oder sogar um eine systematische Neuvermessung. Beispielhaft seien aus den Abschnitten B und C nur genannt: (B) Religiosität/Spiritualität, Pädagogischer Eros (neben den traditionellen Themen wie Entwicklung, Kindorientierung, Selbsttätigkeit und vielen anderen); (C) Berufsbildung, Heilpädagogik (sehr verdienstvoll – unter Einschluss der Ansätze von Montessori und dem Belgier Ovide Décroly), Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Gefängnispädagogik; fügen wir noch „Vorschulerziehung“ und „Schule“ hinzu, dann sind die Themen dieses Abschnitts vollständig genannt. Im letzten Abschnitt (D) finden sich dann jene Themen, die je zum traditionellen Kanon der Reformpädagogik gehören, wie Unterricht, Arbeit, Spiel, Feste und Feiern, Fahrten und Lager sowie einschlägige Lernbereiche wie Kunstunterricht, Musik, Sprache und Literatur, Leibesübungen.
Bei allem Verdienst hinsichtlich der Bemühung um Kontextualisierung ist dann aber nicht verständlich, warum doch ein entscheidendes historisches Moment, nämlich der Zusammenhang der Reformpädagogik zur Lebensreform, nicht in einem eigenen Beitrag gewürdigt wird. „[D]ie facettenreichen Bezüge der Lebensreform zur Reformpädagogik“ seien „bis heute nur punktuell aufgearbeitet worden […] so dass ein eigener Beitrag dazu hier“ fehle – so die Herausgeber. An dieser Stelle gibt es denn auch, anders als zur Frage der Internationalität, kaum weiterführende Hinweise, die allerdings über das Sachregister bei einzelnen Fragen teilweise wieder eingeholt werden können. Der Forschungsstand mag zwar „punktuell“ erscheinen, die „Punkte“ ergeben aber bereits einen deutlichen Umriss, mit dem man durchaus die These vertreten kann, dass die Reformpädagogik nicht nur in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang zu einzelnen Bewegungen der Lebensreform steht, sondern ohne den gesellschaftlichen Impuls der diversen Lebensreformbewegungen in der historisch vorliegenden Gestalt nicht denkbar ist und vielleicht selbst auch als Lebensreform begriffen werden muss.2
Ein dermaßen umfangreiches Werk sowie dessen methodischer Zuschnitt bieten selbstverständlich viele Angriffsflächen. Ist es bei einem Handbuch nicht doch unverzichtbar, einzelne Persönlichkeiten und didaktische Konzepte der Reformpädagogik deutlicher herauszuarbeiten und so dem Leser das Zusammensuchen der einzelnen Facetten zu ersparen? Das pädagogisch Neue an der Reformpädagogik lässt sich nach meiner Ansicht nicht hinreichend durch Kontextualisierung erschließen. Hier ist gleichsam ein pädagogisches sur plus zu konstatieren, das – ähnlich wie in der Kunstgeschichte – nur durch die ausführliche Darstellung und Analyse einzelner „Kunstwerke“ (sprich: didaktischer Konzepte und singulärer Schulgestalten) und „Künstler“ (sprich: Analyse von Leben und Werk einzelner Autoren) hinreichend erschlossen werden kann. Es gibt in der Sekundärliteratur viele Beispiele dafür, dass eine solche Vorgehensweise die Kontextualisierung der Reformpädagogik nicht ausschließt, so auch nicht zur „Enthistorisierung“ führt, ferner auch nicht zu hagiographischen Verirrungen führen muss. Ein weiterer Grund spricht für die dezidierte Einbeziehung der abgewiesenen Perspektive. Eine fundierte kritische Analyse einzelner wichtiger Konzeptionen in ihrer Gänze kann hinreichend nur durch eine historisch-systematische Aufarbeitung gelingen. Der systematisch eingeschriebene Autoritarismus und weltanschauliche Totalitarismus – und deren deutliche Spuren in der Praxis selbst! – etwa der Konzeptionen von Rudolf Steiner und Maria Montessori kann hinreichend nur erkannt und beschrieben werden, wenn im ersten Fall (unter anderen Aspekten) der jedes kritische Maß hinter sich lassende Wahrheitsanspruch der Anthroposophie zur Sprache gebracht und im zweiten der von Maria Montessori verlangte „unbedingte Gehorsam“ gegenüber den inneren Entwicklungsgesetzen des Kindes (deren Kenntnis die Gottesstellvertreterschaft und Autorität der Lehrerin begründet) herausgearbeitet wird.
So ergibt sich zusammenfassend ein widersprüchlich scheinender Befund. Trotz des nicht überzeugenden Gesamtzuschnittes des Handbuches und einiger Lücken im systematischen Zugriff handelt es sich gleichwohl um eine herausragende Leistung. Systematisch und umfassend wird im Sinne der beabsichtigten Kontextualisierung informiert und diskutiert. Und einmal mehr hat dieses Werk eine Absage erteilt an das unselige „pour et contre l’éducation nouvelle“3, das die Debatte doch lange Zeit auf nationaler Ebene und international mitbestimmt hat. Dem Werk ist eine breite Rezeption zu wünschen. Bei einer hoffentlich bald notwendigen Neuauflage sollten die Herausgeber und der Verlag darauf achten, den vollständigen Text zu liefern. In dem mir vorliegenden Exemplar fehlen im Band I 16 der 620 Druckseiten.
Anmerkungen:
1 Dietrich Benner / Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Weinheim 2003; Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924; Ludwig Hohmann, Die pädagogische Reformbewegung der Gegenwart, Breslau 1911; Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt am Main 1949 (erstmals erschienen 1933, 2. Auflage 1935); Peter Petersen, Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926; Hermann Röhrs, Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, Hannover 1980; Wolfgang Scheibe, Die reformpädagogische Bewegung 1900–1932, Weinheim 1969/1978.
2 Ehrenhard Skiera / András Németh / György Mikonya (Hrsg.), Reformpädagogik und Lebensreform in Mitteleuropa, Budapest 2006.
3 André Berge, Pour L’Education Nouvelle, Nancy 1968; Gilbert Robin, Contre L’Education Nouvelle, Nancy 1986 (beide in einem Band).