Im Gegensatz zu seinem 1992 veröffentlichten Buch „Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland“1 wurde Christopher Brownings letzte Monographie „Remembering Survival“ in Deutschland kaum rezipiert. Das Desinteresse für dieses Buch kann nicht mit seiner Qualität oder seinem Inhalt erklärt werden, weil „Remembering Survival“ ebenso bahnbrechende Ergebnisse wie „Ordinary Men“ präsentiert und nicht weniger interessant geschrieben ist.
Der Ausgangspunkt für Brownings Studie ist das Verhalten des Richters Wolf-Dietrich Erhard in einem Gerichtsverfahren 1972 in Hamburg gegenüber Walther Becker, der zwischen 1941 und 1945 der Chef der Sicherheitspolizei in den Orten Starachowice und Wierzbnik im Distrikt Lublin war, sowie gegenüber den Überlebenden, die gegen Becker in diesem Verfahren ausgesagt haben. Obwohl Becker im Zweiten Weltkrieg mehrere Kriegsverbrechen angeleitet und beaufsichtigt hatte (S. 1), wurde er von Erhard, der die Aussagen der Zeugen durch systematisches Anzweifeln und verworrenes Argumentieren diskreditierte, freigesprochen. Sein Verhalten rechtfertigte der Richter mit der Idee, dass die Erinnerungen der Überlebenden die „am wenigsten verlässliche Form des Beweises“ seien. Browning dagegen nennt dieses Verhalten „egregious miscarriage of justice“ und schickt Erhard in „his appropriate place in historians’ hell“ (S. 2, 5). Er macht dies auf Basis des beinahe identischen Materials (Berichten, Aussagen und Memoiren der Überlebenden), auf Grund dessen Erhard Becker 1972 aus dem Gerichtssaal entließ.
Diese Aufgabe wird Browning dadurch erleichtert, dass die Überlebenden des Zwangsarbeitslagers Starachowice relativ viele – insgesamt 292 – Berichte und Aussagen hinterlassen haben. Der Autor lehnt den Standpunkt ab, dass die Berichte und Erinnerungen der Überlebenden zur Rekonstruktion der Geschichte wegen ihrer vermeintlichen Subjektivität oder politisch-feindlichen Untertöne nicht berücksichtigt werden sollten. Stattdessen entwickelt er ein einsichtiges und nützliches methodologisches Instrumentarium – das zuvor schon in Arbeiten von Saul Friedländer, Jan Tomasz Gross und Omer Bartov in ähnlicher Form herausgearbeitet wurde – und schreibt anhand der Berichte der Überlebenden eine feinfühlige, vielfältige und komplexe Geschichte der jüdischen Gemeinde von Starachowice und Wierzbnik während des Holocaust.
Das Schicksal der Juden von Starachowice und Wierzbnik ist in 29 kurzen Kapiteln dargestellt, die in sechs Teile gegliedert sind. Browning beginnt mit der Darstellung des Lebens jüdischer Bewohner von Starachowice und Wierzbnik vor dem Zweiten Weltkrieg. Dabei erläutert er, wie jüdische Parteien, verschiedene religiöse Organisationen und kulturelle Vereine dort funktioniert haben, welche politische Ideen und heroische Gestalten die lokalen Zionisten und Sozialisten begeisterten und wie der Besuch des Priesters in der Schule jede Woche am Mittwoch zur Steigerung der antisemitischen Gewalt führte (S. 22). Als der Zweite Weltkrieg begann, versuchten einige Juden, sich durch Flucht in die von der Sowjetunion okkupierten polnischen Gebiete zu retten, was jedoch nur wenigen gelang (S. 25–29). Die Deutschen stellten einen Judenrat auf, den sie sogleich mit der Sammlung von hohen Bußgeldern beauftragten. Aus verschiedenen Gründen machte sich diese zur Ausführung deutscher Befehle verpflichtete Institution sowie die jüdische Polizei bei relativ vielen Juden unbeliebt und wurde von einigen Überlebenden als „unehrlich“ bezeichnet. Die in Starachowice und Wierzbnik stationierten Deutschen wurden von den Überlebenden unterschiedlich, obwohl deutlich negativer als der Judenrat und die jüdische Polizei wahrgenommen. Wenn auch einige Wehrmachtsoldaten als „keine schlechten Leute“ in Erinnerung der Überleben geblieben sind, so erinnerten sich die Überleben noch nach Jahren sehr gut an die deutschen Polizisten und ihre Folter- und Terrormethoden. Die von Becker erhängten Soldaten der polnischen Heimatarmee waren laut einem Überlebenden mehr antisemitisch als antideutsch und die Gefühle über ihren Tod deshalb gemischt (S. 37–50). Obwohl die Einzelheiten der Massenvernichtungsmethoden, die in den Vernichtungslagern angewendet wurden, den meisten Juden unbekannt waren, vermuteten bereits bei den ersten Deportationen viele Opfer, wohin sie gefahren wurden und was die Deutschen mit ihnen dort vorhatten, so dass das Einsteigen in die Züge Richtung Treblinka keine Fahrt ins vollkommen Unbekannte war (S. 70–71).
Ähnlich wie in vielen anderen von Deutschen besetzen Orten, war die Arbeitsstelle in einer Fabrik oder einem Zwangsarbeitslager die beste Chance zu Überleben. Da die Zahl der Stellen gering war, war die Nachfrage nach ihnen trotz sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen sehr groß. Es entstand auch ein Schwarzmarkt, auf dem sie teuer verkauft wurden (S. 71–78). Ein Versteck außerhalb des Ghettos bei polnischen Nachbarn war meist ebenso teuer. Auf der Suche nach einem Versteck kam es auch auf die Hautfarbe an. Kinder mit einer helleren Hautpigmentierung konnten besser untergebracht werden. Ein Teil der Juden, die sich bei ihren polnischen Nachbarn versteckten, wurde jedoch ausgeraubt und an die Besatzer oder die polnische Polizei ausgeliefert (S. 79–80).
Die erste große „Aktion“ fand in Wierzbnik am 27. Oktober 1942, „einem schönen sonnigen Herbsttag“ statt, der für mehrere der letzte und viele einer der letzten war. Ob Becker an diesem Tag Esther Manela mit seiner Pistole auf dem Marktplatz kaltblütig erschoss, lässt sich nicht feststellen, weil verschiedene Überlebende die Exekution dieser Person an verschiedenen Orten gesehen haben wollen und auch verschiedene Täter identifizierten (S. 87). Weniger umstritten ist jedoch, dass Becker an diesem Tag mit einer Peitsche und Pistole herumlief und versammelte Juden prügelte und erschoss. Obwohl man sich nicht sicher sein kann, ob er in jedem einzelnen Bericht richtig identifiziert wurde, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er an diesem Tag sowohl mehrere Menschen selbst ermordete als auch die Durchführung einer Deportation beaufsichtigte. Typisch für die Wahrnehmung von und die Erinnerung an dasselbe Ereignis durch mehrere Personen wurde Beckers Verhalten an diesem Tag unterschiedlich wahrgenommen und in Erinnerung behalten. Ein Überlebender, dessen Aussage den Ablauf des Tages und Beckers Rolle resümierte, nannte ihn den „Mann des Tages“ (S. 87–92).
Die Analyse einer Großzahl von Berichten, Aussagen, Erinnerungen und Memoiren erlaubt Browning ein sehr komplexes Bild auch vieler anderer in dem Buch behandelter Ereignisse und Sachverhalte darzustellen. So erfahren die Leser wie eine Typhusepidemie die Juden dezimierte, wie andere Massaker durchgeführt wurden, wie die Zwangsarbeit erfolgte, wie sich ukrainische Wachen gegenüber den Juden verhielten, wie sich die Beziehungen zwischen Polen und Juden gestalteten, wie Kinder im Lager lebten, wie die Zwangsarbeiter mit Sex und Geburten umgingen, welche Rolle der polnische Untergrund bei der Jagd nach den Flüchtlingen spielte und wie es ausgerechnet in diesem Zwangsarbeitslager so vielen Juden gelang zu überleben.
„Remembering Survival“ ist ein sehr lesenswertes und lehrreiches Buch, in dem ein differenzierter und kritischer Umgang mit den Quellen zum Ausdruck kommt und eine komplexe und vielschichtige Geschichte einer jüdischen Gemeinde während der deutschen Besatzung erzählt wird. Das Buch wurde in Deutschland ganz anders als „Ordinary Men“ rezipiert, weil es anhand anderer Methoden und Quellen geschrieben wurde und auf andere Akteure fokussiert. „Ordinary Men“ wurde fast ausschließlich auf Grundlage der Täterdokumente geschrieben und behandelt vor allem das Handeln deutscher Täter. „Remembering Survival“ dagegen resultierte größtenteils aus der Analyse von Berichten, Aussagen und Memoiren der Opfer und Überlebenden und behandelt an erster Stelle ihre Geschichte. Die deutsche Nationalsozialismusforschung hat lange die Berichte und Memoiren der Überlebenden – ähnlich wie Erhard – ignoriert und verließ sich vor allem auf die Aktendokumente des deutschen Besatzungsapparats. So wurde die Geschichte des Holocaust auf die für die deutsche Identität relevanten Aspekte reduziert, wodurch sie eine verzerrt-deutschzentrierte Perspektive des Genozids an den Juden entwarf, derer es an Komplexität, Vollständigkeit, Empathie gegenüber den Opfern und Präzision mangelt. In „Remembering Survival“ widerspricht Browning dieser geschichtswissenschaftlichen Arbeitsmethode und findet in Deutschland, außer in kleinen akademischen, an der Methodologie der Holocaust-Geschichte interessierten Kreisen, keine Beachtung.2
Anmerkungen:
1 Christopher R. Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992.
2 Norbert Frei / Wulf Kansteiner (Hrsg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Göttingen 2013; vgl. die Rezension von Daniel Siemens in: H-Soz-u-Kult, 13.11.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-121> (03.06.2014).