P. Hübner: Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989

Cover
Titel
Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution


Autor(en)
Hübner, Peter
Reihe
Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 15
Erschienen
Anzahl Seiten
743 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Wagner-Kyora, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

In der traditionsreichen Reihe des Dietz Verlages zur Arbeitergeschichtsschreibung liegt nun der chronologische Abschluss der DDR-Geschichte vor. In geringerem Umfang als der Vorläufer von Christoph Kleßmann für die Anfangsjahrzehnte1 nimmt er Bezug auf die reale Machtgeschichte von Diktatur und Klassenlage. Denn Peter Hübner argumentiert vorderhand strukturgeschichtlich, indem er die Antwort auf den historischen Wandel des „Arbeiter-Seins“ vorzugsweise in der staatlichen Sozialpolitik sucht. Eine gewisse interpretative Rolle spielt auch die Leitfrage, ob sich infolge des Anpassungsdrucks an die Automatisierung im Arbeitsprozess ein Prozess der Entpolitisierung vollzogen habe. Damit habe der Wandel der Arbeitswelt im Spät-Fordismus zur weitgehenden politischen Orientierungslosigkeit der Arbeiterschaft beigetragen. Sie habe immobil an der ihr einmal zugewiesenen Stelle im Gesellschaftskonzept der Staatspartei verharrt. Das erkläre dann auch, so Hübner, ihre weitgehend inaktive Rolle in der Friedlichen Revolution.

Zu bemängeln ist ohne Umschweife, dass diese recht global formulierte These von Hübner ausschließlich mit Blick auf die DDR-Führungsebene überprüft wird, während die Reaktionen der Arbeiter auf die staatliche Politik nahezu vollständig unterbelichtet bleiben. Wer jedoch an den programmatischen Inhalten der DDR-Industriepolitik im Rahmen ihres sozialpolitischen Befriedungskurses während der 1970er- und 1980er-Jahre umfassend Anteil nehmen will und deren Niederschlag in der Statistik nachverfolgen möchte, der ist mit der Lektüre dieses doch recht dick ausgefallenen Überblickswerkes gut beraten.

Nach einer etwas schwerfällig formulierten Einleitung entfaltet der Verfasser in vier aufeinander folgenden Kapiteln die Chronologie der DDR-Arbeitspolitik aus Sicht der Staatspartei und der Staatsgewerkschaft. Er referiert ausführlich die Kennziffern der Sozialgeschichte und ordnet diese punktuell, aber wenig innovativ, den durch die Forschungsliteratur weitgehend abgestützten Interpretationsangeboten von Arbeiterkultur, Herrschaftsgeschichte und Arbeiterbewegung zu. Anschließend referiert Hübner, erneut sehr ausführlich, das Arbeits- und Sozialrecht. Es folgen zwei abschließende Kapitel zum DDR-Technologieproblem, hier weitgehend auf die „Jagd nach dem Mikrochip“ eingegrenzt, wobei fraglich bleibt, welche sozialen Gruppen von dieser „Jagd“ eigentlich erreicht wurden. Ein wenig ergiebiges Resümee trägt wenig dazu bei, die in den Kapiteln zuvor referierten, recht disparaten programmatischen und soziologischen Erklärungsangebote zu verknüpfen.

Noch erweitert wird das Werk durch einen langen Essay von Ilko-Sascha Kowalczuk über „Revolution ohne Arbeiter? Die Ereignisse 1989/90“ (S 537–610). Hier geht Kowalczuk nun ausschnittweise der Frage nach, wie, mit Blick auf die Arbeiterschichten der DDR, die sozialgeschichtlichen Veränderungen mit der politischen Dynamik im Revolutionsgeschehen verknüpft waren, was man auch von dem Ansatz Hübners erwartet hätte. Prägnant etwa leitet die Kapiteleinleitung ab S. 561 eine klassenspezifisch ausdifferenzierte gesellschaftsgeschichtliche Politikfeldanalyse ein, wobei aber auch an dieser Stelle die quellenspezifische Unschärfe gerade zur Arbeiterschaft betont werden musste. Im Folgenden beschränkt sich dann auch Kowalczuk weitgehend auf ein gewerkschaftsoffizielles Verlautbarungsspektrum von Quellen, die lediglich das Verschwinden der alten Autorität anzeigen und das Aufkommen der neuen recht unterschiedslos aufzeichnen.

Ein überaus umfangreicher Tabellenanhang, der gleichsam als Referenz für die sozialwissenschaftliche Dimension des Buches dient, und der wissenschaftliche Apparat schließen das Werk dann ab.

Die recht eigenwillige Entscheidung zugunsten einer DDR-Arbeitergeschichte „von oben“ (S. 35), also aus der Perspektive der damals diktatorisch Herrschenden, rechtfertigt der Verfasser zu Beginn als alternativlos: Allein den offiziellen Verlautbarungen misst Hübner ein Quellenpotenzial bei, auch wenn dies eine Eingrenzung der analytischen Ansprüche bedingt. Offenkundig misstraut er jedwedem anderen Quellenzugang als dem eigenen. Aber die erzählerische Symbiose aus umfänglich wiedergegebenen Verlautbarungstexten von SED-Reden und FDGB-Protokollen sowie einer quasi enzyklopädisch aufgetakelten Reihenstatistik auf denkbar hohem Aggregationsniveau überzeugt ebenfalls nicht. Zudem wendet er sich damit explizit gegen eine innovative Geschichtsschreibung, die er pauschal als den Erklärungszugang „subjektiver Eindrücke und Befindlichkeiten“ (S. 36) abqualifiziert, also jene kulturwissenschaftlich verbreiterte Suche nach dem Selbst in der Geschichte, die solche Engführungen konzeptionell und auch empirisch nahezu elegant zu überspringen vermag.2 Auch aus Gründen der Multiperspektivität verbietet sich jedoch ein zu stark auf die Herrschaftsebene der Diktatur eingeschränkter Blickwinkel. Hübners Buch präsentiert sich demgegenüber als eines jener Historiker, die dazu neigen, Verlautbarungen aus der Akteursebene von Staat und Partei und Gewerkschaft unkritisch zu adaptieren.

Dieser erkenntnistheoretische Vorwurf mangelnder hermeneutischer Konsistenz ist Hübners dickleibigem Buch leider nicht zu ersparen. Das tut angesichts der vorangegangenen Präsenz des Verfassers in der DDR-Arbeitergeschichte nicht gut zur Sache. Schon das begriffliche Durcheinander in der missglückten definitorischen Auseinandersetzung mit dem Leitbegriff der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ bestätigt in der Einleitung (S. 24–28), dass ihm das Ziel seiner angestrebten Synthese nicht vor Augen stand.

Inhaltlich fasert die Faktenpräsentation in oftmals unnötig präsentierte Details aus. Zur „Hauptaufgabe“, dem sozialpolitischen Umarmungsangebot der frühen Honecker-Ära, referiert der Verfasser Dankadressen aus der DDR-Arbeiterschaft zu ihrer eigenen Lebenszufriedenheit, die er „Gewöhnungseffekten“ (S. 134) zuschreibt. Darauf gibt er nacheinander die entsprechenden Referate des FDGB-Chefs von 1972 und anschließend die ZK-Reden von Honecker wieder, letztere ausführlich und aus verschiedenen Jahren. In diesem wenig ergiebigen Kapitel wird dann auch die „Qualität des Mittagessens“ erwähnt und kommentiert und, wohlgemerkt seitens des Verfassers, geschlussfolgert: „Dieser Katalog überzeugte durch seine Anlehnung an die ‚Hauptaufgabe’.“ (S. 137) Abgesehen von dieser unwillkürlichen stilistischen Adaption des Quellenduktus, die im 21. Jahrhundert doch recht schwer zu verdauen ist, bleibt aber genau das recht fraglich, wenn nicht nachgewiesen wird, wann und wo diese Akzeptanz auch tatsächlich erfolgt sein mag. Die Antwort darauf bleibt Hübner jedoch komplett schuldig.

Ermüdend wirkt auf längere Sicht ebenfalls das unentschiedene Lavieren des Verfassers zwischen diesen bemerkenswert spröden Detailbefunden, welche Kontextualisierungen auf niedriger Ebene nach sich ziehen, etwa wenn zum Thema Krankenstand 1972 die Information einer „auffälligen Erhöhung der Zahl der infektiösen Darmerkrankungen“ (S. 163) beigefügt wird. Hübners übergreifender Erklärungswunsch nach Lokalisierung des technologischen Wandels in der „Arbeiterexistenz“ des späten Fordismus’ kann auf diesem Wege nicht gelingen.

Im Fortgang der Lektüre verfestigt sich dann der Eindruck, einen doch recht spröden Katalog ungreifbarer und disparater Ergebnisse zur irgendwie politisch ausgedeuteten Situation in der DDR-Arbeitswelt vor sich liegen zu haben. Sie werden in ein recht holzschnittartig wirkendes „tripolitische[s] Arrangement“ (S. 140) zwischen SED/FDGB auf der einen Seite sowie Arbeiterschaft und Technikern auf der anderen Seite zugeordnet. Dieses Geflecht wird jedoch machtpolitisch nicht näher untersucht. Und das ist für eine Geschichtsschreibung auf mehr als 700 Seiten schade, weil einfach zu wenig. Schließlich konzediert der Verfasser, dass er „allenfalls Indizien“ (S. 530) protokolliert hat.

Hübner treibt sein Understatement so weit, dass er die von ihm untersuchten Jahrzehnte „von Arbeit und Arbeitern in der späten DDR“ ausnehmend unattraktiv charakterisiert und erklärt, „dass da erstaunlich wenig passiert“ (S. 529) sei. Das mag aus der Perspektive der Herrschenden ja möglicherweise auch richtig gewesen sein, da diese bekanntlich über einen ziemlich eingeschränkten Blickwinkel verfügten. Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass solche Befunde eher unkritisch von Hübner konstatiert, also bloß aus den Quellen reproduziert werden. Denn mit dem oft harten und auf lange Strecken unerfreulichen, weil nicht zuletzt auch sehr gefährlichen Arbeitsalltag der Industriearbeiter, so wie ihn beispielsweise der Rezensent aus den Stasi-Quellen zur Chemiearbeit in den 1970er- und 1980er-Jahren kennengelernt hat3, hat dieser Befund nichts zu tun.

Hübner konstatiert, dass der Forschungsstand in der Arbeitergeschichtsschreibung zwischen den Theoremen der „Verarbeiterlichung“ und „Entbürgerlichung“ „bis heute nicht viel weiter gediehen ist“ (S. 356), aber damit nimmt er ihn als rudimentärer wahr, als er ist. Tatsächlich blendet er zahlreiche innovativere Ansätze aus. Hübners Werk mag kaum dazu beizutragen, unser Wissen über das Arbeiter-Sein in der DDR zu erweitern, weil seine eher protokollierende Leistung nur die sozialstatistisch relevanten Umrisse preisgibt. Auch die politische Programmatik der kommunistischen Entscheidungsebenen in der Arbeiterpolitik, die vom Autor dezidiert als eine eigenständige Sozial- und Technologiepolitik zugespitzt wird, analysiert er nicht, weil deren zu umfassend geratene Darlegung eine kritische Dekonstruktion nicht mehr zulässt. Als Eindruck bleiben bloße Versatzstücke künftiger Konzeptualisierungen.

Anmerkungen:
1 Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat“ DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld 1945 bis 1971, Bonn 2007.
2 Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hrsg.), Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013.
3 Georg Wagner-Kyora, „Wenn man die Ohren in der Masse aufmacht und in ihr Bewusstsein blickt...“ – Fragen nach dem Selbstverständnis von Generationen in IM-Berichten über die Karbidarbeiter der Buna-Werke Schkopau, in: Hermann-Josef Rupieper / Friederike Sattler / Georg Wagner-Kyora (Hrsg.), Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle 2005, S. 341–377.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension