Beide Monografien entstanden im Rahmen von Qualifizierungsarbeiten. Joseph Garncarz’ Buch ist seine überarbeitete und gekürzte Habilitationsschrift, die Publikation von Anna Sarah Vielhaber wurde in Köln als Promotionsschrift erfolgreich verteidigt. Die beiden sehr lesenswerten Bücher verbindet – im Gegensatz zur etablierten Filmgeschichtsschreibung –, dass sie dezidiert aus der Zuschauerperspektive mit einem ausführlichen Blick die Produktion, die Filmschaffenden und die Spielfilme selbst in den Blick nehmen. Sie zeichnen sich jeweils durch eine klare, sehr gut lesbare Sprache und eine leicht nachvollziehbare, in sich konsistente gedankliche und methodische Herangehensweise aus. Schließlich sind als Gemeinsamkeit die jeweiligen Anhänge hervorzuheben, die – wie die Texte selbst – zu weiteren Forschungen auf dem Gebiet des populären Kinos einladen. Das bisher in Deutschland vernachlässigte Nachdenken über diesen alles dominierenden Zweig der Filmwirtschaft erhält hier exzellente Impulse, die hoffentlich bald aufgegriffen werden.
„Hollywood in Deutschland“ ist das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung des Autors mit diesem Thema. Erste Ergebnisse stellte Garncarz bereits Anfang der 1990er-Jahre in einer von Uli Jung publizierten Vortragsreihe in Luxemburg vor.1 Zuvor hatte er mit verschiedenen Veröffentlichungen nachgewiesen, dass er auch inhaltlich über populäre Strukturen im einzelnen Film sehr bemerkenswerte Erkenntnisse erarbeiten kann. Diese analytischen Fähigkeiten des Autors bilden in der vorliegenden Publikation eine Einheit. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die weit verbreitete angebotsorientierte These, dass der US-amerikanische Film seit Mitte der 1920er-Jahre das deutsche Kino dominierte. Im Ergebnis des Perspektivenwechsels von einer angebots- zu einer nachfrageorientierten Betrachtung der Filmgeschichte offeriert uns der Autor ein noch nicht abgeschlossenes Drei-Phasen-Modell. Die erste Phase umfasst den Zeitraum zwischen 1925 bis zum Beginn der 1960er-Jahre. In ihm dominiert der deutsche Spielfilm die Nachfrage, was anhand der Top-Ten-Liste eines jeden Jahres nachgewiesen wird. Die zweite Phase zwischen 1964 und 1979 wird von westeuropäischen Filmen geprägt und in der dritten seit 1980 sind es fast ausschließlich US-amerikanische Spielfilme, die vom Publikum vor allem präferiert werden. Auch diese Phasen werden mit der Top-Ten-Liste belegt. Im Gegensatz zu den Kinohits erlebte der deutsche Film im Fernsehen in den 1990er-Jahren und danach eine neue Blüte. Ein kursorischer Blick auf die Spielfilmnachfrage in Italien und Frankreich zeigt eine ähnliche, wenn auch etwas zeitversetzte Entwicklung.
Mit seinem filmwissenschaftlich und vor allem soziologischen Forschungsansatz erklärt Garncarz, dass die Gründe für das Ende der ersten Phase mit dem Ende des deutschen Erzählfilms sowie dem generellen gesellschaftlichen Wertewandel zusammenfallen. Den Erfolg des US-amerikanischen Films führt er letztlich auf die konsequente Marktorientierung Hollywoods sowie auf die kleinteilige deutsche Filmproduktion und den Förderdschungel der zuständigen Anstalten zurück. Insgesamt sind die Argumente des Autors stringent und präzise und stimmen auch mit den ökonomischen Entwicklungen der Filmwirtschaft völlig überein.
Vielhaber baut auf grundlegenden Ergebnissen der Habilitationsschrift von Garncarz auf. Diese Tatsache verrät bereits die Überschrift des Buches, die inhaltlich weitgehend auf die erste Phase von Garncarz verweist. Für den Ausgangspunkt ihrer Fragestellung nutzt sie dessen Hitlisten als Quellen. Sie ergänzt sie mit den deutschen Filmhitlisten zwischen 1933 und 1945, die Garncarz infolge der rigiden staatlichen Importregulierung des nationalsozialistischen Regimes außen vor gelassen hat. Darüber hinaus fügt sie den deutschen Filmhitlisten jene aus den USA in ihrem Untersuchungszeitraum an. Ihre zentrale Fragestellung konzentriert sich auf die Gründe für die signifikante Publikumsnachfrage nach deutschen Spielfilmen bis in die 1960er-Jahre. Sie behandelt also jenen Zeitraum, in dem die Nachfrage vor allem nach deutschen Filmen an den einheimischen Kinokassen dominierte, während die Hollywood-Produktionen nur in Ausnahmefällen unter den Top Ten deutscher Kinokassenschlager zu finden waren.
Auf der Basis von mehreren hundert Filmen arbeitet die Autorin typische Merkmale der erfolgreichen deutschen Filme heraus, die anschließend von ihr mit den einspielstarken Hollywood-Filmen verglichen werden. Im Ergebnis ihrer film- und partiell auch medienwissenschaftlichen Analyse kann sie drei Merkmale für den Erfolg deutscher Filme herausarbeiten. Als erstes nennt sie die wiederkehrenden Topoi nationaler Themen und Meinungsbilder, die in den Filmen reflektiert werden. Ein weiterer Punkt sei das Aufgreifen der jeweils zeitgenössischen populärkulturellen Strömungen. Drittens stellt sie den inhaltlichen Netzwerkcharakter der Filmstoffe heraus. Das bedeutet, dass populäre literarische Stoffe, erfolgreiche Theaterstücke, Hörspiele und nicht zuletzt musikalische Hits besonders häufig als Grundlage für die Drehbücher der Spitzenfilme dienten. Der bereits erzielte Erfolg in einem Medium wiederholte sich damit auf der Leinwand noch einmal. Mit diesen drei charakteristischen Merkmalen kann Vielhaber auch die Verfilmung christlicher Stoffe wie in den beiden Ben Hur-Verfilmungen oder in „Die zehn Gebote“ (OT: „The Ten Commandments“) als entscheidenden Grund benennen, die den Erfolg einzelner US-amerikanischen Produktionen auf dem deutschen Filmmarkt ausmachte. Die Bibel oder etwa das Klosterleben („Geschichte einer Nonne“, OT: „The Nun’s Story“) waren in der Regel den Zuschauern aller Altersgruppen in Umrissen bekannt und damit auch zur für die Erfolgsfilme durchgehend erkennbaren Anschlusskommunikation mit den Lebensumständen der deutschen Rezipienten kompatibel. Ein aufgrund der Datenlage und fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen nur kursorischer Vergleich mit der Nachfrage nach eigenen und US-amerikanischen Spielfilmen in Großbritannien und Frankreich deutet darauf hin, dass die Nachfrage in beiden Ländern sich zeitlich mit geringen Abweichungen analog der deutschen verhielt.
Das sehr anspruchsvolle Vorhaben der Autorin, deutsche Filmgeschichte aus der Perspektive der Nachfrage zu betrachten, ist zweifelsfrei geglückt und stellt einen erheblichen wissenschaftlichen Mehrwert dar. Dennoch bleibt eine Reihe von Fragen offen. In Bezug auf ihre Beschreibung der Rolle der Stars in den deutschen und US-amerikanischen Filmen argumentiert aus meiner Sicht die Autorin etwas oberflächlich, wenn sie auf der Basis von drei Umfragen feststellt, dass Stars für die Filmauswahl nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dagegen spricht meines Erachtens, dass Filme ohne Stars in der Regel in der Vergangenheit und Gegenwart wenig nachgefragt wurden bzw. werden. Darüber hinaus unterscheiden sich die Stars in den USA und Deutschland grundsätzlich. Während der Großteil der US-amerikanischen Stars auf bestimmte Rollen fixiert war und ist, verstanden sich die deutschen Schauspieler in ihrer überwiegenden Mehrheit als Theaterschauspieler, die auch für den Film arbeiteten. Das Theater mit seinem unmittelbareren Publikumskontakt hatte damit für die Herausbildung und der Popularität von Stars eine erhebliche zusätzliche Bedeutung. Vor dem Hintergrund des sehr unterschiedlichen Selbstverständnisses der Schauspieler, die letztlich auch in ihrer Ausbildung begründet war und ist, waren die Rollenzuweisungen der deutschen Schauspieler wesentlich differenzierter als in Hollywood. In der US-amerikanischen Filmgeschichte sorgten fast ausschließlich die Presseerzeugnisse für die Popularität der Stars. Dieser Aspekt spielte in Deutschland nur eine nachgeordnete Rolle. Aufgrund dieser signifikanten Unterschiede scheint es mir notwendig, diesem Aspekt eine höhere Aufmerksamkeit in der Forschung zu geben, als es die Autorin hier für nötig erachtete.
Ein zweiter Punkt betrifft die Rolle des Genres in deutschen und US-amerikanischen Spielfilmen, die die Autorin weitgehend gleichsetzt. Hier ist meines Erachtens die entscheidende Frage, ob man in Deutschland im Untersuchungszeitraum überhaupt von einem mit Hollywood vergleichbaren Genrekino sprechen kann? Aus meinem Blickwinkel auf die Filmgeschichte ist dies zu verneinen, denn die Filmhandlungen der deutschen Produktionen sind in ihrer Mehrheit weit weniger reduziert als die der US-amerikanischen. Diese Frage berührt jedoch eine sehr grundsätzliche in der Filmwissenschaft, die auch in den kommenden Jahren immer wieder Anlass für Diskussionen geben dürfte.
Ein dritter Punkt bezieht sich schließlich auf die Remakes, also die Wiederverfilmung von bereits verfilmten Stoffen, und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Rolle der Remakes ist in den 1950er-Jahren kaum zu unterschätzen. Einige dieser Filme sind auch unter den genannten Top Ten zu finden. Dazu zählen etwa „Der Hauptmann von Köpenick“ oder „Rose Bernd“. Eine Auseinandersetzung mit diesem Sachverhalt bleibt in der Monografie deutlich unterbelichtet. Man muss der Autorin hier allerdings zugutehalten, dass zu diesem Thema die erste grundlegende Studie im Rahmen einer Dissertation an der Berliner Humboldt-Universität erst im Entstehen ist. Insofern konnte sie hier nicht auf vorhandene Literatur zurückgreifen. Unterbelichtet blieb schließlich auch die Auseinandersetzung mit Filmen über die deutsche Vergangenheit. Auch hier finden sich nur eher kursorische Hinweise zur Thematik. Im Unterschied zu dem Thema der Remakes bliebt hier unverständlich, weshalb etwa die Ergebnisse der Monografie von Wolfgang Becker und Norbert Schöll2, die diesbezüglich wichtige Vorarbeiten geleistet hat, nicht in die Arbeit eingeflossen sind.
Trotz der kritischen Bemerkungen zur Publikation von Vielhaber gilt es abschließend noch einmal zu betonen, dass von beiden Autoren Monografien vorgelegt wurden, die für eine weitere nachfrageorientierte Filmgeschichtsschreibung von grundsätzlicher Bedeutung sind. Die wissenschaftlich überzeugende Darstellung dieses Ansatzes hat bereits jetzt wesentlich dazu beigetragen, die Perspektiven filmwissenschaftlicher Forschung zu erweitern. In den vielen Arbeiten zum frühen Kino mit denen Garncarz sich neben Martin Loiperdinger in den letzten Jahren bereits erhebliche Verdienste erworben hat, ist die Einbeziehung diese Perspektive in die Forschung bereits heute zum Standard geworden.
Anmerkungen:
1 Joseph Garncarz, Hollywood in Germany. Die Rolle des amerikanischen Films in Deutschland 1925–1990, in: Uli Jung (Hrsg.), Der deutsche Film, Trier 1993, S. 167–213.
2 Wolfgang Becker / Norbert Schöll, In jenen Tagen… Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995.