Der von Marc Fabian Buck und Marcel Kabaum herausgegebene Band Ideen und Realitäten von Universitäten versammelt die Beiträge einer gleichnamigen Ringvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin aus dem Wintersemester 2011/12. Die Beiträgerinnen und Beiträger beschäftigen sich in verschiedenen Perspektiven und Herangehensweisen mit der Frage, was die Differenzen zwischen Idee und Realität von Universitäten sind und wie damit umzugehen sei. Dabei nähern sich die Autorinnen und Autoren dem Thema sowohl in historischen als auch zeitgenössischen Betrachtungen, beleuchten sowohl deutsche wie auch internationale Gegebenheiten, bringen Überblicksdarstellungen oder widmen sich einzelnen besonderen Aspekten, anhand derer die Spannweite zwischen Vorstellungen, Mythen und Wirklichkeiten der Universität als Institution, Bildungsanstalt oder Kulturträger ausgemessen werden. Kabaum und Buck benennen dabei zwei zentrale Dimensionen. Zum einen die „Folgebeziehung von Plan und Umsetzung“ (S. 4) in der alltäglichen universitären Praxis. Zum anderen werden (historisch) diskursiv konstruierte (Selbst)Bilder der Wahrnehmung von gelebter Realität an Hochschulen gegenüber gestellt.
Eröffnet wird der Band mit dem Beitrag „Mythos Universität. Die erstaunliche Aktualität einer Idee und die resistente Realität von Universitäten“ von Heinz-Elmar Tenorth. In historischer Perspektive diskutiert der Autor, in welchen Bereichen die Idee(n) der Universität von der universitären Realität abweicht und so Mythen kreiert werden. Drei Aspekte stellt Tenorth heraus: dem Mythos einer funktionalen Konstanz stellt er gegenüber, dass die universitäre Kontinuität sich eher im Wandel finden ließe, historisch ausgehend von der mittelalterlichen Scholastik hin zum wissenschaftlichen Großbetrieb der Gegenwart. Auch das Humboldtsche Ideal ist für Tenorth ein Mythos. Zwar spreche es für die Qualität der von Humboldt formulierten Idee, denn sie stehe – auch als deutscher „Exportschlager“ – bis heute paradigmatisch für ein universitäres Ideal, das sich jedoch, wie Tenorth mit Verweis auf Langewiesche1 argumentiert, in der deutschen Wirklichkeit, auch historisch gesehen, kaum finden ließe. Schließlich demontiert Tenorth die Mythen der Zweckfreiheit sowie der Einheit von Forschung und Lehre, indem er auf machtpolitische Verstrickungen von Universitäten sowie die ernüchternde Praxis der universitären Lehre verweist. Dass dennoch so sehr am Humboldtschen Mythos festgehalten werde, begründet Tenorth mit einem Mangel an Alternativen, „die zugleich realisierbar und überzeugend“ (S. 33) wären.
Im darauf folgenden Beitrag „‚Universidad para el pueblo‘. Politisierung lateinamerikanischer Akademiker im langen 20. Jahrhundert“ stellt Marcelo Caruso die Geschichte öffentlicher Universitäten in Lateinamerika anhand des sich darin spiegelnden Verhältnisses zwischen Politik und Universität dar. Der Autor argumentiert, dass sich im Zuge der seit 1918 vorangetriebenen Reformen im universitären Sektor ein „Ethos akademischer Tätigkeit“ (S. 36) in der Arbeit an lateinamerikanischen Universitäten etabliert habe, der mit den Stichwörtern „Engagement“ sowie „Politisierung universitärer Tätigkeit“ charakterisiert werden könne. Während er zu Beginn skizziert, wie sich die Universitätslandschaft in Lateinamerika bis 1918 etabliert hat, erörtert Caruso im Folgenden die Auswirkungen der „reforma universitaria“ bis hin zu deren Radikalisierung ab den 1960er-Jahren. In umfangreichen Protesten forderte man um 1918 eine Neuausrichtung der Universität, weg von einer elitären Einrichtung, hin zu einer Gemeinschaftserfahrung mit dezidiert sozialer und anti-imperialistischer Prägung. Ziel der „reforma“ war die „Universidad para el pueblo“ (Universität für das Volk), in der beispielsweise Studierende aller Fachrichtungen ihr Wissen mit Arbeitern und Bauern teilen sollten. In den späten 1960er-Jahren gaben linke Bewegungen mit ihren radikaleren Forderungen den Anstoß, universitäre Forschung unter anderem stärker an soziale Wirklichkeiten rückzubinden und setzten somit einen erneuten Reformprozess in Gang. Caruso resümiert, dass aktuell zwar eine Spannung zwischen den hehren Zielen und der akademischen Realität zu konstatieren sei, dass er aber die Möglichkeit, dass der reformerische Ethos – wenngleich als „Mutation“ – weiterbestehen könne, nicht ausschließt.
Jürgen Henze, Jiani Zhu und Binyan Xu beleuchten in ihrem Aufsatz „Perspektiven der Entwicklungsdynamik im chinesischen Hochschulwesen“ die jüngsten Auswirkungen des Wandels der Universitäten seit der Kulturrevolution. Sie zeigen, dass der regional und institutionell sehr unterschiedlich ausfallende Umbruch im Großen und Ganzen zu einer erhöhten Marktorientierung bei gleichzeitig eingeschränkter Akteursfreiheit geführt habe. Sie nehmen gleichzeitig eine Verortung Chinas im „Weltgefüge der Wissensproduktion“ vor und verweisen kritisch auf möglicherweise durch westliche Selbsterhöhung eingeschränkte Sichtweisen auf China.
Die wechselvolle Geschichte des afghanischen Hochschulwesens stellen Anthony Welch und Attaullah Wahidyar in dem Aufsatz „Evolution, Revolution, Reconstruction: The interrupted Development of Higher Education in Afghanistan“ differenziert und ausführlich dar. Dafür setzen die Autoren in der vorislamischen Zeit an und erwähnen als erste Formen höherer Bildung in Afghanistan Schulen brahmanischer Mönche und buddhistischer Zentren. Nach der Islamisierung der Region ab ca. 650 entstanden Madrassahs in mehreren afghanischen Städten, wo vornehmlich Recht, Theologie und Naturwissenschaften betrieben wurden. Als erste moderne höhere Bildungseinrichtung in Afghanistan nennen die Autoren die Makhtab-al-Habibiyah (gegründet 1901), die sich am Modell der muslimischen Hochschule im von den Briten kolonisierten Indien orientierte und die in internationale Bildungsnetzwerke eingebunden war. In dieser Periode der Modernisierung gingen muslimische Reformen Hand in Hand mit Frauenemanzipation, Säkularisierungstendenzen und Forderungen nach einer Schulpflicht für alle. Die Zeit zwischen 1950 und 1978 bezeichnen die Autoren als erfolgreich hinsichtlich des afghanischen Bildungssektors: Während grundständige Bildung zunehmend gesichert wurde, konnten Studierende an den gut funktionierenden Universitäten des Landes teils erfolgreich gegen Bildungsbeschränkungen für Frauen und für administrative Reformen protestierten. Den Ausgangspunkt des Verfalls des Bildungswesen sehen die Autoren in der sowjetischen Besatzung, seinen Tiefpunkt habe er infolge der Machtübernahme der Taliban erreicht. In der bis heute andauernden Prekarität der afghanischen Hochschulen erkennen die Autoren das bittere Resultat andauernd vernachlässigter Bildungsinvestitionen. Die Herausforderungen, vor denen das Land steht, seien enorm, so Welch und Wahidyar, das Bedürfnis nach höherer Bildung in der Bevölkerung jedoch ungebrochen.
Alexander Graeff widmet sich in „Der Kindskraft den Garaus machen – Wassily Kandinskys Akademiekritik im Spiegel seiner Zeit“ einer typisch lebensreformerischen, anti-akademischen Haltung. Kandinsky, der vor allem für sein Mitwirken beim „Blauen Reiter“ bekannt ist, wird vom Autor der reformpädagogischen Kunstschulreform zugeordnet, deren Prinzipien – Überwindung der Trennung von freier Kunst und Kunstgewerbe sowie der Akademie als lebensferner Bildungswelt, Vereinigung von Schule und Werkstatt etc. – er ab 1922 als Hochschullehrer am Dessauer Bauhaus selber umzusetzen versuchte.2 Spezielles Augenmerk richtet Graeff auf Kandinskys Nähe zu esoterischen Lehren, insbesondere der Theosophie. Auf das esoterische Interesse einiger Bauhaus-Angehöriger hat bereits C. Wagner hingewiesen.3 Graeff erweitert dieses Bild, indem er die Zusammenhänge des sozialutopisch-idealistischen, reformerischen Bildungsverständnisses am Bauhaus mit den zeittypischen Bemühungen um die Integration religiöser bis okkultistischer Konzepte in die Wissenschaft sowie damit einhergehenden zivilisationskritischen Befindlichkeiten darstellt. Auf die im etwas kryptisch anmutenden Titel auftauchende „Kindeskraft“ geht Graeff leider nur kurz ein. Kandinsky habe darunter die „innere Einfühlung in die Objekte der Welt“ (S. 154) verstanden, der durch die Akademie „der Garaus“ gemacht werde, die allerdings eine zentrale Kompetenz des Künstlers sei. Wie diese Infantilisierung, die im Grunde als die Kehrseite des reformpädagogischen Konzepts vom „Kind als Künstler“ verstanden werden kann, mit Kandinskys Esoterik und der sich daraus speisenden Akademiekritik zusammenhängt, lässt Graeff in seinem Beitrag offen.
In seinem Beitrag „Studium und Beruf im Wandel: Von der akademischen Persönlichkeitsbildung zur Beschäftigungsfähigkeit?“ nimmt sich Andrä Wolter einer knappen historischen Betrachtung von akademischen Bildungsaufträgen an, aus der heraus er sich dem heute gängigen „Employability“-Begriff nähert. Anhand der seit dem 19. Jahrhundert wiederkehrenden Beschwörung von „Vermassung“ und „Verschulung“ als größter Gefährdung der Realisierung des universitären Bildungsauftrags verweist Wolter auf eine Kontinuität, vor deren Hintergrund die Bildungsaufträge selbst jedoch wechseln. Vom Ziel der Persönlichkeitsbildung über das der Forschung sei man nun bei dem vielfältig auslegbaren und damit vagen Begriff der „employability“ angekommen. Kritiker dieser Terminologie dürfte es freuen zu lesen, dass für die erfolgreiche Berufseinmündung im Wesentlichen der Arbeitsmarkt ausschlaggebend sei, wie Wolter anhand von Studien konstatiert. Das Versprechen der „employability“ kann die Hochschule demzufolge nicht einlösen.
Die historische Herleitung des Bologna-Prozesses aus den Zeiten des Kalten Krieges nimmt Anne Rohstock in „Bologna als amerikanisches Kind des Kalten Krieges. Westliche Universitäten zwischen institutionellem Erbe und Weltkultur, 1945–2011“ vor. Vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen sei es ein Anliegen US-amerikanischer Akteure gewesen, ihr eigenes Bildungsverständnis zu verbreiten, um einer drohenden „technischen Lücke“ zwischen den USA und Westeuropa entgegenzusteuern. Rohstock argumentiert, dass die erst 1999 einsetzende Bologna-Reform den Kulminationspunkt von Prozessen darstellt, die in der Zeit der Ost-West-Konfrontation angestoßen wurden. Einen Grund dafür sieht sie in der Trägheit westeuropäischer Strukturen. Dass sich trotz der seither zu beobachtenden terminologischen Veränderungen nur bedingt die angestrebte transnationale Harmonisierung der Hochschullandschaften eingestellt habe, ist Rohstocks nüchternes Fazit.
Die verbleibenden Beiträge weisen kaum bzw. keine historischen Perspektiven auf, weswegen ich sie hier lediglich kurz erwähne. Hans-Peter Müller widmet sich aus soziologischer Sichtweise dem „homo academicus“ als einem „westlichen Schicksal“, Rainer Schröder wirft einen kritischen Blick auf die Promotionspraxis in den Rechtswissenschaften und Patrick Ressler problematisiert Vergleiche und Transfers von Bildungssystemen am Beispiel der Vielfalt von US-amerikanischen Hochschulen.
In der Gesamtschau eröffnet dieser Band eine Vielzahl von Perspektiven auf die Diskrepanzen zwischen der Idee und der tatsächlich stattfindenden Institution Universität. Dabei widmen sich die Autorinnen und Autoren nicht nur relevanten und interessanten Aspekten dieses Spannungsverhältnisses in erfrischend kritischen Texten, erfreulich ist auch die Aufnahme von Betrachtungen nicht-westlicher bzw. nicht-europäischer Verhältnisse. Die Studierenden der HU jedenfalls waren begeistert von der Vorlesung und nominierten sie für den Fakultätspreis für Gute Lehre 2012 der Philosophischen Fakultät IV, mit dem die Herausgeber des Bandes Buck und Kabaum sicher zu Recht ausgezeichnet wurden.
Anmerkungen:
1 Dieter Langewiesche, Die ,Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos: Zum Selbstbild der deutschen Universität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91; Ders., Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 15–37.
2 Ausführlicher äußert sich Graeff dazu in seiner Dissertationsschrift „Kandinsky als Pädagoge.“, erschienen in Aachen 2013.
3 Christoph Wagner (Hrsg.), Esoterik am Bauhaus. Eine Revision der Moderne? Regensburg 2009; Ders. (Hrsg.), Das Bauhaus und die Esoterik. Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee. Bielefeld 2005.