Verlage müssen ihre Publikationen verkaufen können, und Buchtitel haben eine wichtige Signalfunktion für die potentiellen Kunden. Soweit liegen die Spielregeln zwischen Edition und Leser, zwischen Verkäufer und Kunden fest. Gerade weil der Gebrauchswert eines Buches sich nicht unmittelbar erschließt, erst im Nachhinein zu erkennen ist, wenn das Druckerzeugnis gelesen worden ist, bedürfen die Interessenten stimmiger Titel. Was draußen draufsteht, sollte auch drinnen zu finden sein.
Vom 19. Jahrhundert, soweit stimmt die Selbstbeschreibung, handelt das anzuzeigende Buch, doch von Menschen oder gar dem Mensch des 19. Jahrhunderts ist nur selten die Rede! Nicht allein, daß ganze Erdteile ausgeblendet sind, daß weder das Schicksal der schwarzen Sklaven noch das der japanischen Ritter oder der weißen Siedler in Südostasien, Australien bzw. Amerika in den Blick geraten, selbst weite Teile Europas fallen aus der Sicht heraus. Deutsch-land, Frankreich und Italien stehen im Mittelpunkt, während Großbritannien, dessen industrielle Umgestaltung den Beginn des langen 19. Jahrhunderts markierte, doch abseits liegt. Die Menschen als Leidende und Handelnde interessieren die Autoren kaum. Keine historisch-anthropologisch dichte Beschreibung durchdringt das Drama von Leben und Überleben, von Krankheit, Liebe, Tod und unerfüllten Sehnsüchten. Die Gliederung folgt viel eher klassisch sozialgeschichtlichen Kategorien. Sie führt die neuen sozialen Positionen und Berufe an, die das 19. Jahrhundert bereithielt: Arbeiter, Unternehmer/Manager, Ingenieur, Arzt, Künstler bzw. für Frauen Dienstmädchen und Lehrerin. Sie thematisiert das Schicksal altständischer Gruppen, der Adligen und Bauern. Sie benennt Übergangsphänomene: die Feminisierung der Religionsaus-übung, die Migration, und sie stellt die Großstadt als Ort moderner Lebensweise vor. Letztlich ist so ein lesenswerter Sammelband in der Argumentationsweise von Nipperdeys "Deutscher Geschichte" entstanden, der sprachlich anspruchsvoll soziale Strukturen des 19. Jahrhunderts idealtypisch analysiert und einem breiten Interessentenkreis als Element klassischer Bildung vermittelt. Ausführliche Stellungnahmen zu Forschungskontroversen wird man ebenso ver-gebens suchen wie kommentierte Literaturhinweise. So dienen die Artikel einem ersten Über-blick auf neuestem Forschungsstand, freilich ohne die Absicht, neue Thesen zu formulieren oder zum Disput anzuregen.
Die vierzehn Beiträge seien kurz vorgestellt: Vincent Robert (Sorbonne) hat auf den ihm zur Verfügung stehenden 21 Seiten erkennbar zu wenig Platz, um die Herausbildung der Arbeiter-schaft nur annähernd umfassend darzustellen. Daher konzentriert er sich auf das Spannungs-verhältnis von Außensicht und Arbeitserfahrung und auf das Streben der Arbeiterschaft nach sozialer Anerkennung.
Youssef Cassis (Grenoble) kann auf immerhin 26 Seiten den Aufstieg von Unternehmern und Managern schildern, die Herausbildung der Großunternehmen in ihren verschiedenen Etappen einordnen und die Professionalisierung der Leitungsfunktionen in der Wirtschaft herausarbeiten. Freilich muß ein einziger Absatz genügen, um auf die Differenz zwischen dem britischen "establishment" (Amalgam von neuer Bürgerschicht und Landadel), deutschem Wirtschafts-bürgertum (nie ganz in die sozialen Eliten des Landes integriert) und französischer "classe dominante" (Adel als Juniorpartner) hinzuweisen.
Einem breiten Publikum dürfte im Vergleich zur Unternehmergeschichte die Herausbildung der Profession der Ingenieure weniger geläufig sein, von der Sylvie Schweitzer (Lyon) berichtet. Lagen die Wurzeln der Institutionalisierung technischer Fachkunde in den Bedürfnissen des (französischen) Staates und des Militärs zur Zeit Napoleons, so brachten die Ingenieure in der zweiten Phase der Industrialisierung ihre Kenntnisse in die Privatwirtschaft ein, und zwar gleichermaßen als Experten für technische Fragen wie für Fragen der Menschenführung in hierarchisch geprägten Organisationen. Der meritokratische Anspruch machte sie zu Vertretern der Forderung nach angemessener sozialer Anerkennung und gleichzeitig zu Befürwortern professioneller Exklusivität. Auffallend ist die zeitliche Übereinstimmung in der Entwicklung der Gruppe der Ingenieure in Europa, sowohl hinsichtlich der Ausbildung wie hinsichtlich des erkämpften Titelschutzes.
Olivier Faure (Lyon) betrachtet die Ärzteschaft aus ähnlichem Blickwinkel. Selbst Ende des 19. Jahrhunderts konnten die Ärzte wenige wirkliche Heilerfolge feiern. So konzentrierten sie sich auf die Diagnose, die Vergabe einiger wirkungsvoller Medikamente und auf die Hygiene zur Prävention von Krankheiten. Sie traten damit in den öffentlichen Raum hinaus und begründeten ihren sozialen Anspruch. Zugleich gelang es den Ärzten, Regeln für den eigenen Berufsstand zu definieren, die sicherstellten, daß die immer höheren Ausgaben für Gesundheit in ihren Kassen landeten. Das Patient-Arzt-Verhältnis kehrte sich um. "Hatte in früheren Zeiten der wohlhabende Kranke befohlen und der Arzt gehorcht, so machte jetzt der Arzt die Vorschriften, und der Kranke mußte sie befolgen" (101). Als Instanz, die über Kranken- und Verletztengeld entschied und Arzneien verschrieb, erhielt der Arzt eine Machtposition, die seine symbolische Stellung als Herr über Leben und Gesundheit, welche immer durch die Realität gefährdet war, eindrucksvoll verdoppelte.
Michele die Giorgio (Sassari) analysiert die für das 19. Jahrhundert so typische Feminisierung der religiösen Praxis im Katholizismus. Die Kirche bot bei aller ultramontanen Rückwärtsgewandheit den Frauen die Chance zur Selbstentfaltung und Selbstbestätigung in einem religiö-sen "Unternehmen". Im Gewand der Selbstverpflichtung vertrat die Kirche das Programm bürgerlicher Tugenden, ersetzte sie etwa die Routine hausfraulicher Stoßgebete durch das situationsangepaßte Gebet. Indem sie die Frau zur Gefährtin des Mannes erhob, sicherte sie sich zugleich vermittels weiblicher Religionsausübung die Kontrolle über die Erziehung der Jugend.
Ganz nah an die soziale Wirklichkeit führt der Aufsatz von Gunilla-Friederike Budde (Bielefeld) über die Dienstmädchen. Diese, so kann die Autorin zeigen, prägten das lange 19. Jahr-hundert wie wenige andere soziale Gruppen. Dienstmädchen machten das Bürgertum erst zur Herrschaft. Zugleich ermöglichten sie durch das Ansparen einer nennenswerten Ausstattung und durch die Verinnerlichung sozialer Normen die Verbürgerlichung des Landes.
Das Frauenbild blieb an Haus und Familie gebunden. Nur wenige gesellschaftliche Felder standen den jungen Bürgerstöchtern offen. Immerhin galt der Beruf der Lehrerin als halbwegs standesgemäß. Claudia Huerkamp (Bielefeld) zeigt, wie die Ausweitung schulischer Bildung einen größer werdenden Arbeitsmarkt für bildungsinteressierte Frauen schuf, die Lehrerinnen zu Aktivistinnen der Frauenbewegung heranwuchsen und sich neue Berufschancen eröffneten. Letztlich spiegelte der Beruf der Lehrerin die Säkularisierung der Gesellschaft wider. Zugleich dominierte das Bild der Frau als Hausfrau und Mutter. Verheiratung und die Tätigkeit als Lehrerin schlossen einander aus. Dem vom Lande kommenden Dienstmädchen ähnlich, diente der Lehrerinnenberuf der Versorgung bis zur Verheiratung.
Gérard Noiriels (Paris) "Der Staatsbürger" fällt aus dem Gliederungsschema heraus, gehört aber zu den besonders anregenden Aufsätzen des Bandes, weil Noiriel neue Sichtweisen eröffnet. Begriffsgeschichtlich argumentierend, verweist er eingangs auf die Bedeutungsdifferenzen zwischen "citoyen", "citizen" und "Staatsbürger" und zeigt dann, wie erst Ende des 19. Jahr-hunderts sich "Nationalität" als entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung staatsbürgerlicher Zugehörigkeit durchsetzte. Im Mittelpunkt steht freilich die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Bürger, mußte doch (a) die Verwaltung zur Identifizierung ihrer Bürger die bisherige lokale face-to-face Kommunikation durch gleichmachende, bürokratische Regelungen ersetzen (Standesregister, Wahlausweise) und erzwang (b) das allgemeine Wahlrecht Verhal-tensweisen, die das Volk in Gegensatz zu althergebrachten Protestformen wie Aufruhr, Auf-stand und Fest brachten.
Die beiden folgenden Aufsätze gelten der neuen Raumerfahrung des 19. Jahrhunderts. Frank Caestecker (Brüssel) erinnert an das Ausmaß horizontaler Mobilität, gleichermaßen Chancenwanderung nach Amerika wie Fern- und Nahwanderung in den mitteleuropäischen Kernzonen. Selbst innerhalb der Ortschaften wechselten die Menschen ihre Wohnungen häufig. Die kom-plexen Wanderungsströme vereinfachten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und spalteten sich auf zwischen seßhaftem Pendlerdasein, ermöglicht durch die jetzt leistungsfähigen öffentli-chen Verkehrsmittel, und kontinentaler Fernwanderung aus Italien oder Galizien. Zugleich griff erstmals auch der Staat massiv in das Geschehen ein. Die Ausländerpolitik wurde zu einem Teil staatlicher Wirtschaftspolitik.
Friedrich Lenger (Erlangen) gibt auf 31 Seiten einen Überblick zur Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts, zum Prozeß der Urbanisierung und Ausweitung städtischer Agglomerationen, zur Stadtplanung, Stadtverwaltung und Kommunalpolitik, schließlich zur Wahrnehmung der modernen Stadt in der Literatur und bildenden Kunst. Mehr als eine erste kluge Einführung ist auf dem gegebenen Raum kaum möglich. Gerade hier hätte man sich ergänzende Fußnoten gewünscht, doch sie fehlen im gesamten Band.
Ute Frevert wählt für ihre Darstellung der veränderten Rolle der Künstler einen anderen Weg. Sie thematisiert den Spannungsbogen von der Selbstbeschreibung des Künstlers der Klassik "als eines kosmopolitischen, sich aller äußeren Indienstnahme entziehenden Menschen" (S. 323) hin zum Träger nationaler Repräsentation während des Ersten Weltkrieges. Dabei stützt sie ihre Thesen durch Verweis auf die Biographien namhafter Künstler. Hier wird das Leben von Menschen im 19. Jahrhundert tatsächlich erkennbar.
Der Band endet mit zwei Aufsätzen zur Geschichte des Adels in Italien (Giovanni Montroni, Neapel) und zur Geschichte der Bauern in Mitteleuropa. Von der Vielfalt bäuerlicher und unterbäuerlicher Existenzen berichten Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld) und Jean-Luc Mayaud (Lyon), von dem Kampf, die Alten, die Mädchen und die jüngeren Söhne zu versorgen und unterzubringen, und sie zeigen, daß das Land zwar rechtlich, aber güterseitig noch kaum in die Marktwirtschaft integriert war. Es waren die Menschen, die sich durch Wanderung der Heraus-forderung des 19. Jahrhunderts stellten, der Staat, der in das Dorf eindrang, und die Investitio-nen der Bürger, die Landbesitz anstrebten, die das Dorf veränderten.
Alles zusammengenommen haben Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt einen durchaus interessanten Band zusammengestellt. Aber wenn ich mich entscheiden müßte, so würde ich doch eher Nipperdeys "Deutsche Geschichte" oder Hans-Ulrich Wehlers "Gesellschaftsgeschichte" lesen. Sie schildern die sozialgeschichtlichen Veränderungsprozesse für Deutschland auf breiterem Raum, können analytisch schärfer argumentieren und präsentieren ihr Material aus einem Guß.