Olga Weckenbrock hat sich in ihrer Studie vorgenommen, den Umgang des Adels mit der Epochenschwelle um 1800 und mit den damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen zu untersuchen. Ihr Hauptziel ist es dabei, „die Kontinuitätslinien und Brüche im Selbstverständnis von Vater und Sohn als Adelige in der Zeit um 1800 nachzuzeichnen“ (12f.). „Vater und Sohn“, das sind in diesem Fall der Osnabrückische Landadelige Ernst von Vincke und sein nachgeborener Sohn Ludwig, der langjährige Oberpräsident der preußischen Provinz Westfalen, deren Biografien Weckenbrock vergleichend gegenüberstellt.
Mit ihrer Untersuchung schließt sich Olga Weckenbrock einer alten Forschungsfrage an, die von unterschiedlichen, sich ablösenden Narrativen geprägt ist. Stand früher das Paradigma des Untergangs oder zumindest doch der Krise des Adels um 1800 im Vordergrund, wandte sich die neuere Forschung davon ab. Sie betonte stattdessen die Anpassungsleistungen des Adels an die neuen Gegebenheiten, ihre Statusbehauptung und vermehrt auch ihre aktive Teilhabe an den Veränderungen. Diese Perspektive greift auch Weckenbrock auf und fragt danach, wie der Adel seine traditionellen standesspezifischen Werte mit neuen aufklärerischen Idealen verknüpfte, um dem eingetretenen Wandel nicht nur zu begegnen, sondern ihn in ihrem Sinne mitzugestalten.
Vor allem geht es Weckenbrock jedoch um die Lebensvorstellungen und die Selbstverortung ihrer beiden Protagonisten. Welches Bild entwarfen Vater und Sohn von Vincke von sich selbst, ihrem Stand und ihrer Rolle darin und in der Gesellschaft? Wie reagierten sie diesbezüglich auf die Epochenwende, die beide zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben erreichte? Eingehend und sehr detailliert untersucht sie daher die Sozialisationen und Prägungen, die auf die Vinckes in ihren jungen Jahren wirkten, aber auch ihre späteren Karrierewege und die Reflexionen darüber sowie ihre Strategien bezüglich Eheschließung und Kindeserziehung. Mit dem Einbezug gerade auch des späteren Lebensweges verdeutlicht sie, „dass die soziale Selbstverortung nicht bloß ein Resultat der Prägung war. Vielmehr ist sie als lebenslanger Aushandlungsprozess mit der sozialen Umwelt zu begreifen.“ (S. 26)
Aufgrund dieser Perspektive beruft sich Weckenbrock methodologisch einerseits auf die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu, die Lebensführung, Vorlieben sowie Wahrnehmungs- und Handlungsmuster eines Einzelnen auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, in der er aufgewachsen ist und sozialisiert wurde, zurückführt. Ergänzt wird dies andererseits durch die Überlegungen Alois Hahns, nach denen ein Einzelner sein eigenes Bild und das seiner Umwelt in Selbstreflexionen und Selbstthematisierungen laufend konstruiert. Diese Theorien versteht Weckenbrock jedoch nur als begriffliche Grundlage, um „die Beobachtungen zu den beiden Vinckes zu strukturieren sowie ihre Handlungsmotive einzuordnen und zu deuten“ (S. 24).
Als Quellengrundlage dient Weckenbrock ein reicher Fundus von (Privat-)Korrespondenzen beider Personen und besonders das von Ludwig von Vincke seit seiner Jugend geführte Tagebuch. Gerade durch die Gegenüberstellung der beiden Quellengattungen Privatbriefe und Tagebuchaufzeichnungen gelingt es Weckenbrock, die Selbstthematisierungen so nachzuzeichnen, dass die jeweilige Intention des Autors der Quellen dabei nicht aus den Augen gerät. Hinzu treten weitere Unterlagen des Familienarchivs im Staatsarchiv Osnabrück und des Nachlasses Ludwigs im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, die bei der Rekonstruktion der Biografien hilfreich waren.
Nach der sehr ausführlichen Darstellung der Biografien Ernsts und Ludwigs von Vincke und deren jeweilige Selbstreflektionen fasst Weckenbrock die Ergebnisse in einer vergleichenden Synthese zusammen. Dabei dienen wieder – wenn auch unter verändertem Blickwinkel – die genannten drei Kategorien Sozialisation, Karriereweg und Familienstrategie, nach denen sie auch schon die biografischen Kapitel gegliedert hatte, als Richtschnur.
Für Ernst von Vincke lässt sich – wenig überraschend – feststellen, dass er sein eigenes Leben und seine eigene Selbstverortung an die hergebrachten Vorstellungen von Adligkeit und adligem Lebenswandel ausrichtete. So stellte er die adligen Vorrechte nie infrage und legitimierte seine gesellschaftliche Stellung lange ausschließlich durch seine Geburt und Herkunft. Ausbildung, Karrierewege und Familienplanung liefen für ihn nach den herkömmlichen Mustern des frühneuzeitlichen Adels.
Erst um die Jahrhundertwende griff auch er aufklärerische Topoi von hohem Leistungseifer und vaterländischem Patriotismus zur Legitimation auf und gestattete zumindest seinen nachgeborenen Kindern eine unstandesgemäße Ehe. Auch bezüglich der Karriereplanungen seiner Kinder akzeptierte er die neuen Anforderungen, aber auch die sich daraus bietenden neuen Möglichkeiten und sorgte für entsprechende Ausbildungswege. Damit griff Ernst schließlich neue aufklärerische Ideale auf und bereitete ihnen den Weg.
Ludwig dagegen nahm die neuen Ideale schon in seiner Ausbildungszeit am aufgeklärten Pädagogikum in Halle auf und fügte die dort erlernten Normen, vor allem eine ausgeprägte Leistungs- und Pflichterfüllungstugend, seinem Repertoire zur Legitimierung seiner Stellung hinzu, ohne jedoch die altadeligen Legitimationsmuster aufzugeben oder zu negieren. Ähnlich verfuhr Ludwig auch auf anderen Ebenen, etwa den Distinktionspraktiken durch Bildung oder Auftreten, und verband auf diese Weise alte Standesnormen und aufklärerische Ideale zu neuen Formen der Selbstdarstellung und -wahrnehmung, und damit auch zur Konstruktion seines Standes.
Doch dies verlief nicht immer konfliktfrei: So entschied sich Ludwig erst nach Zögern und trotz einiger Fälle von Verliebtsein nach den Idealen der Romantik für eine standesgemäße Ehe nach traditionellem Muster. Auch mit dem von ihm eingeschlagenen Karriereweg in der nach rationalen Gesichtspunkten aufgebauten preußischen Verwaltung mit ihrem festen Alltagsrhythmus haderte er immer wieder, fügte sich schließlich aber doch in ihr ein. Damit gestaltete er die Epochenwende um 1800 mit ihren tiefgreifenden Veränderungen aktiv und letztlich zu seinen Gunsten mit und tradierte so den alten, aber mit neuen Inhalten aufgeladenen Adelsethos in die neue Zeit.
Olga Weckenbrock legt mit dieser Studie eine interessante und lesenswerte Untersuchung vor und zeigt auf, wie Vater und Sohn von Vincke aus unterschiedlichen Lebenslagen mit der Epochenschwelle und ihren gesellschaftlichen Veränderungen umgingen, wie sie sich dabei selbst verorteten und in welche gerade auch inneren Konflikte sie gerieten. Sie zeigt aber auch, wie die zwei Adeligen nicht nur auf den Wandel reagierten, sondern ihn aktiv mitgestalteten und neue Vorstellungen und Ideale aufnahmen, die von einer relativen ständischen und territorialen Offenheit geprägt waren.
Ihre Ergebnisse bilden so eine gute Ergänzung zur immer noch einschlägigen Studie von Heinz Reif über den westfälischen Adel von 1979, der für den Adel des Münsterlandes eine klare Abschließung zu einer regionalen Elite sowie eine ablehnende Haltung gegenüber dem preußischen Staat und seiner leistungsorientierten Beamtenschaft konstatierte.1 Reifs Befund von der zumindest vorübergehenden Auflockerung der ständischen Familienordnung kann Weckenbrock dagegen durchaus bestätigen.2 Darüber hinaus gelingt es ihr, das in der Forschung gängige Bild von Ludwig von Vincke in einigen Aspekten zu revidieren, vor allem in Hinblick auf seine Einstellung zu seiner ständischen Herkunft oder zum oft postulierten Generationenkonflikt mit seinem Vater.
Eine Schwachstelle der Untersuchung liegt allerdings darin, dass Weckenbrock zwei Personen zum Vergleich gegenüberstellt, die nicht nur aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenszeit verschiedene Ausgangspositionen hatten, sondern vor allem auch dadurch, dass der eine Stammhalter und der andere nur nachgeborener Sohn war. Ludwig hatte als nicht erbender Sohn schon per se ganz andere Herausforderungen zu meistern, aber auch andere Handlungsoptionen zu Verfügung als sein Vater. Das gilt insbesondere für die im Zentrum der Untersuchung stehenden Aspekte der Karriere- und Eheplanung. Weckenbrock ist sich dieses Problems zwar auch bewusst, doch hätte sie dem mit einem stärkeren Einbezug des ältesten Sohns von Ernst gut begegnen können. Interessant wäre es auch gewesen, den Umgang der beiden Protagonisten mit Gut und Geld stärker in die Untersuchung einzubeziehen, gerade wo Weckenbrock doch mehrfach andeutet, dass sich die Familie Vincke oft in finanziellen Notlagen befand.
Dennoch gelingt Weckenbrock mit ihrer 2012 an der Universität Osnabrück vorgelegten Dissertation eine aufschlussreiche Studie über die Selbstverortung des Adels in einer Zeit des Umbruchs, die in allen zukünftigen Auseinandersetzungen mit diesem Thema sicher ihren Platz finden wird.
Anmerkungen:
1 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 35), Göttingen, 1979, S. 315–398.
2 Ebd., S. 240–315.