Der Band vereint Beiträge, die im Rahmen eines Forschungsnetzwerkes zur Adelsgeschichte an der Katholischen Universität-Eichstätt-Ingolstadt entstanden sind. Die Trias „Adeligkeit, Katholizismus, Mythos“ als Leitthema dieser hauptsächlich aus jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen bestehenden Forschergruppe signalisiert die Fragerichtungen: Der soziale Habitus der vielgestaltigen Sozialgruppe des Adels mit ihren Normen, Selbstbildern und Lebensführungskonzepten soll auf seine konfessionellen Dispositionen und Ausprägungen, sowie auf seine Repräsentationen in der Geschichts- bzw. der Erinnerungskultur hin befragt werden; die geschlechtergeschichtliche Perspektive tritt hinzu. Herausgeber Markus Raasch erinnert in seiner konzisen Einführung zunächst daran, dass die forschungsleitende Ausrichtung auf „Adeligkeit“ als „spezifisches Kulturmodell“ (S. 1) zwar „reiche Früchte getragen“, aber bislang auch einige Themenfelder ausgespart habe, denen sich die Beiträge des Bandes vor allem widmen wollten: Selbstbilder und Mentalitäten in der „Sattelzeit“, Adel während der Vorkriegs- und Kriegsphase des Nationalsozialismus, sowie schließlich die Strategien adeliger Selbstvergewisserung, Lebensführung und Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Deutlich tritt das Bestreben hervor, die Texte des Bandes durch systematische theoretisch-methodische und begriffsgeschichtliche Reflexion zusammenzubinden – ein Anliegen, das angesichts der bisweilen ungebändigten Heterogenität von Sammelbänden, die dem Ruf dieser Publikationsform inzwischen nachhaltig geschadet hat, nachdrücklich zu begrüßen ist. Insgesamt gelingt diese Durchformung, die sich vor allem an der Kapitalsortentheorie Pierre Bourdieus orientiert, überzeugend. Doch entgehen nicht alle Beiträge einer Falle, die in explizit sozialwissenschaftlich „informierten“ geschichtswissenschaftlichen Forschungsdesigns lauert: Die Dichte der präsentierten und analysierten Empirie bleibt bisweilen hinter der theoretischen Verve der konzeptionellen Entwürfe zurück.
Dessen ungeachtet sichert das durchgängig hohe theoretisch-methodische Reflexionsniveau die Beiträge des Bandes gegen die „Betriebsblindheit“ ab, die sich in boomenden Forschungsfeldern wie „Adel“ bisweilen einstellt und sensibilisiert für die Fragilität des Begriffs- und Kategorieninstrumentariums. Diesem widmet sich vor allem der Einleitungsbeitrag, in dem sich Andreas Hartmann aus althistorischer Perspektive und zugleich im Blick auf die Untersuchungsanliegen der neuzeitlichen Adelsforschung noch einmal die Frage „Was ist Adel?“ vorlegt. Er warnt davor, die „Kontinuität ethisierender Selbstzuschreibungen mit konkreten sozialen Realitäten zu vermischen“ (S. 31) und regt an, kultur- und mentalitätsgeschichtlich „Adelsideale“ in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen.
Alle Beiträge zeigen mehr oder minder deutlich die Orientierung an dieser Agenda der „neuen“ Kulturgeschichte, tragen zum Abbau der einleitend benannten Desiderate bei und verstehen sich als Anreger weiterer Forschungen. Die Texte sind in vier Themenbereichen gruppiert: Unter der Überschrift „Aufbrüche“ werden zunächst drei Studien versammelt, die sich mit adeligem Wahrnehmen und Handeln in den Transformationsprozessen des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befassen. Alexander Denzler untersucht Annäherung und Abgrenzung im Verhältnis von adeligen und bürgerlichen bzw. neuadeligen Amtsträgern bei den Visitationen des Wetzlarer Reichskammergerichts am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Einem Beitrag von Christiane Hoth zu Metternich und Humboldt schließt sich ein facettenreicher Aufsatz von Tina Eberlein an, die am Beispiel von vier wirtschaftlich aktiven Adligen (einer von ihnen Protestant) den katholischen Adel als Unternehmerschicht untersucht. Über die Analyse von Kapitalsorten, Mentalitäten und kultureller Praxis gelangt Eberlein, ungeachtet unübersehbarer Ambivalenzen, zu einer partiellen Bestätigung der These von der vergleichsweise traditionalen, weniger investitionsorientierten Wirtschaftsgesinnung katholischer Adelsunternehmer.
Unter der Überschrift „Genderkonzeptionen“ sind drei Beiträge zur Geschlechtergeschichte des Adels versammelt. Die Befunde von Ricarda Stobernack zu adeligen Katholikinnen als Mütter und Markus Raasch zum Verhältnis von Adel und Männlichkeitskonzepten im Katholizismus greifen hier plausibel ineinander: Deutlich tritt hervor, dass die für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts vielbeschworene „Feminisierung“ der Religion für den katholischen Adel nicht nachzuweisen ist. Ostentative männliche Frömmigkeit verband sich zudem mit einer passionierten „Vaterschaft“. Das Bild des „abwesenden Vaters“, der nur als autoritätssichernde und strafende Instanz in Erscheinung tritt, muss für den katholischen Adel also ebenfalls korrigiert werden. Das gilt, wie Raasch zeigt, auch für männliche Emotionalität insgesamt: Eindrücklich spricht er von der „Passion“ für Familie, Vaterrolle, Religion und auch Politik, die bei den betrachteten Adligen auszumachen sei (S. 152), wobei ein Vergleich zwischen den „weißen und schwarzen Rittern“ (S. 148) Hermann von Mallinckrodt und Ludwig Windthorst zeigt, dass es durchaus eine adelige Reserve gegenüber dem Typus des zwar prinzipienfesten aber doch taktisch äußerst versierten, ganz im politischen Spiel aufgehenden Parlamentariers gab, wie ihn Ludwig Windthorst in so glänzender Weise verkörperte.
Hofdamen im „langen“ 19. Jahrhundert wendet sich Nadine Hüttinger auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen einer Stuttgarter, einer Münchner und einer Berliner Vertreterin dieses adelig-weiblichen Lebensmodells zu. Sie setzt sich kritisch mit der Auffassung von Christa Diemel auseinander, der anspruchsvolle, oft unter wenig glamourösen Lebensbedingungen geleistete Hofdamendienst sei ein „glänzendes Elend“ (S. 153f.) gewesen und verweist auf das hohe Prestige sowie die erweiterten Erlebnishorizonte und Handlungsmöglichkeiten der Hofdamen. Wer etwa die breit herangezogenen Lebenserinnerungen von Mathilde Gräfin Keller, einer Hofdame von Kaiserin Auguste Viktoria durchblättert, wird diesen Befund – ungeachtet der vielfachen Streichungen und Stilisierungen Kellers – vollauf bestätigt finden. In Kellers Erinnerungen tritt auch ein Aspekt hervor, den Hüttinger (außer einem Verweis auf die zeitgenössische Bezeichnung „Halleluja-Tanten“ für die Hofdamen der Gemahlin Wilhelm II.) überraschenderweise nicht näher betrachtet: Die Religiosität dieser adeligen Frauen. Keller zum Beispiel profiliert sich in ihren Erinnerungen geradezu als Karikatur „positiver“, hochkonservativ-protestantischer Kirchlichkeit und eines naiv-klischeebeladenen Antikatholizismus.
Im dritten Abschnitt finden sich Aufsätze zum „politisch-gesellschaftlichen Handeln“ von Adeligen. Sabine Thielitz wendet sich zwei bayerischen Märzministern der Revolution von 1848/49 zu. Christiane Schwarz stellt in einer Studie zu den Kapitalien und politischen Mentalitäten katholischer Adeliger in Opposition zum Nationalsozialismus vielfältige Konvergenzen zwischen ihren vier prominenten Akteuren Clemens August von Galen, Konrad von Preysing, Erwein von Aretin und Erich von Waldburg-Zeil fest, besonders was Frömmigkeit, geistliche Vorbilder und die Prägung durch die Neuscholastik angeht. Deutlicher als Schwarz verbindet der Beitrag von Nico Raab zu Claus von Stauffenberg die aus seiner Adeligkeit resultierenden Kapitalien mit der konkreten Widerstandstätigkeit des Hitler-Attentäters und zeigt, dass sie für die Rolle, die Stauffenberg in der militärisch-bürgerlichen NS-Opposition übernahm, von entscheidender Bedeutung waren. Barbara Jahn arbeitet für den Adel in der frühen Bundesrepublik eine Reihe von soziopolitischen Faktoren heraus, die die erfolgreiche Integration des Adels in die Nachkriegsgesellschaft vorantrieben: Neben der durch die Vertreibung aus Ostdeutschland und der SBZ/DDR verstärkten Nivellierung von Dignitätsunterschieden sieht Jahn sie vor allem im wirtschaftlichen Erfolg, in der Einbeziehung katholischer Adeliger in den „antitotalitären Grundkonsens“, ihrer deutlichen Präsenz in den Unionsparteien sowie in dem Willen, sich unter den Bedingungen der bundesrepublikanischen Demokratie als eine Elite zu definieren, die Herkunft vor allem als eine günstige Ausgangsvoraussetzung für eigene Leistung verstand.
Der Band wird durch den Abschnitt „Mythen“ beschlossen, in dem sich gleich zwei Beträge mit dem Sissi-Mythos beschäftigen. Vanessa Rafael Koller untersucht am Beispiel der Mythisierung Kaiserin Elisabeth von Österreichs „gesellschaftlichen Wandel in Deutschland“ in der Zwischenkriegszeit und kann in ihrem rezeptions- und erinnerungsgeschichtlichen Beitrag Veränderung und Kontinuität im Sissi-Bild zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus aufzeigen: Während sich in „Weimar“ Vorstöße zur Herausstellung eines individuell-selbstbewussten Frauenbildes festmachen lassen, dominiert in der NS-Zeit wieder die Zuschreibung als Mutter. Die Herausstellung von Sportlichkeit und Körperbeherrschung sowie eugenische Anklänge machen die Kaiserin nach 1933 außerdem zur Projektionsfläche für den radikalisierten Biologismus der NS-Ideologie. In der „Fortsetzung“ dieser Untersuchung für die Bundesrepublik der 1950er- bis 1970er-Jahre macht Annemarie Hackl den Umstand zum Ausgangspunkt, dass die Schauspielerin Romy Schneider sowohl die „Sissi“ der seinerzeit äußerst populären Film-Trilogie von Ernst Marischka, als auch die Kaiserin Elisabeth in Luchino Viscontis Film über König Ludwig II. von Bayern aus dem Jahr 1972 verkörperte. Während die Sissi der 1950er-Jahre von Hackl als Medium der Distanzierung von den traumatischen Erfahrungen des Krieges, Ausdruck eines starken Bedürfnisses nach sozialer Harmonie und Mosaiksteinchen im kommunikativen Beschweigen der NS-Ära gedeutet wird, stellt sie Viscontis Konturierung der Kaiserin als zerrissene Frau in den Kontext der Protestbewegung der späten 1960er-Jahre. Susanne Barbara Schmid kommt in ihrer Analyse der Ludwig II.-Filme Viscontis und Helmut Käutners (1955) zu ähnlichen Ergebnissen: Käutner inszeniere einen „Heimatfilm“, der alle für den „Konservatismus der 1950er Jahre“ (S. 394) problematischen Seiten des Königs ausklammere, während Viscontis explizite Herausstellung der Homosexualität Ludwigs das Gegenprogramm zu dieser harmonisierenden Stilisierung biete und im Zusammenhang gesellschaftlicher Liberalisierung seit dem Ende der 1960er-Jahre zu sehen sei. Auch wenn diese Interpretationen gut fundiert sind, wird in beiden Beiträgen doch die Tendenz spürbar, ein zu statisches und „restauratives“ Bild der 1950er-Jahre zu zeichnen. Auch ist zu fragen, ob die Sissi- und Ludwig II.-Mythen wirklich Sujets der „Adelsgeschichte“ sein können: Denn es ist nicht in erster Linie ihre (Hoch-)Adeligkeit, die Ludwig II. von Bayern und Elisabeth von Österreich zur Projektionsfiguren machte, sondern ihre exponierte Position an der Spitze einer sozialen Hierarchie und ihre Konflikte mit Werthaltungen und Normen, die nicht der Adelstradition, sondern der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zuzuordnen sind.
Solche Anfragen machen vice versa deutlich, dass der thematisch breit gespannte, aber methodisch klar zusammengehaltene Band seinen Anspruch „neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne“ zu bieten, voll und ganz einlösen kann: Er betritt vernachlässigte Forschungsfelder, unter denen besonders Religion und Konfession hervorzuheben sind, liefert in gewissem Umfang neues empirisches Material und zeigt über seine Deutungen der künftigen Forschung ihre Ansatzpunkte.