: Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989. Geschichte und Dokumente. Osnabrück 2014 : V&R unipress, ISBN 978-3-8471-0345-5 453 S. € 39,99

: Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte. München 2014 : Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-28047-1 352 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abteilung Bildung und Forschung, Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

Sie gehören zu den Film-Ikonen der Revolution von 1989: Die Bilder von der bundesdeutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989, als Außenminister Genscher tausenden DDR-Flüchtlingen ihre bevorstehende Ausreise verkündete und dann ein Jubelsturm ausbrach. Es gibt kaum andere Filmaufnahmen, die ähnlich bekannt sind – sie sind so berühmt wie die Aufnahmen von der Pressekonferenz mit Günter Schabowski am 9. November 1989 und dem Mauerfall in der Nacht zum 10. November. Zwar sind die Prager Botschaftsbesetzungen in Spielfilmen und Romanen häufig verarbeitet worden, weil sie sich für massenkompatible und emotionsgeladene Darstellungen bestens eignen.1 Doch sind sie mit Blick auf die historischen Abläufe bislang weniger genau rekonstruiert worden als andere Ereignisse in jenen Sommer- und Herbsttagen. Daher ist es ein großes Verdienst des Politikwissenschaftlers Karel Vodička, der 1985 aus der ČSSR flüchtete und seither in der Bundesrepublik sowie, seit den 1990er-Jahren, auch wieder in Tschechien forscht und lehrt, diese Forschungslücke nun geschlossen zu haben. Er legt eine dichte, chronologisch gehaltene Ereignisgeschichte vor. Sie basiert auf der Auswertung zahlreicher deutscher und tschechischer Archive. Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor die Überlieferung aus tschechischen Archiven (des Außenministeriums und der Stasi) einer deutschen Leserschaft zugänglich macht.

Das bei „Vandenhoeck & Ruprecht unipress“ erschienene und vom Hanna-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) herausgegebene Buch besteht im Kern aus einem Abschnitt, in dem die Entwicklungen ab dem 10. September 1989 Tag für Tag nachgezeichnet werden, die zur Besetzung der Botschaft in Prag und zur zweimaligen Ausreise der Botschaftsflüchtlinge über DDR-Territorium führten. Zwei Aspekte verdienen es, herausgestellt zu werden. Zum einen zeigt Vodička, wie die bundesdeutsche Politik vor allem über Außenminister Hans-Dietrich Genscher tatkräftig an einer humanitären Lösung mitarbeitete.2 Dass er dabei letztlich Genschers Selbstsicht lediglich reproduziert, muss man angesichts fehlender anderer Quellen hinnehmen. Weniger nachvollziehbar ist, dass im Text von Vodička mehrere Passagen wortgetreu aus Genschers Vorwort erneut abgedruckt worden sind. Dies erscheint auch deshalb als unnötig, weil dieses Vorwort nicht einmal eigens für diesen Band verfasst worden ist – worauf noch zurückzukommen sein wird.

Zum anderen zeigen die Darlegungen von Vodička, unter welchen innenpolitischen Druck die ČSSR-Regierung wegen der DDR-Flüchtlinge geriet. Das so präzise und detailliert herausgearbeitet zu haben, ist die hervorstechendste Leistung des Bandes. Dies unterstreicht zudem der überaus eindrucksvolle Essay von Petr Pithart, der sich an den chronologischen Teil von Vodička anschließt. Dieser zeigt aus der Sicht eines tschechischen Oppositionellen, wie die Botschaftsflüchtlinge, die Revolution in der DDR und der Mauerfall letztlich zu entscheidenden Katalysatoren für die Revolution in der ČSSR wurden. Hier kam übrigens auch zum Tragen, dass sich gerade in der tschechischen Gesellschaft viele verwundert die Augen rieben, dass ausgerechnet die als besonders angepasst geltenden Bürgerinnen und Bürger der DDR nun erfolgreich den Aufstand probten.

Unterm Strich liegt mit dieser Abhandlung eine dichte, präzise und sehr anschauliche Darstellung vor, die die dramatischen Ereignisse von September bis Anfang November 1989 anhand der Botschaftsbesetzungen, der Grenzschließung und der damit verbundenen Unruhen, vor allem in Dresden Anfang Oktober 1989, rekonstruiert. Das Buch enthält zusätzlich einen interessanten Aufsatz – von Vodička gemeinsam mit Jan Gülzau, einem Leipziger Doktoranden, verfasst – über Fluchtversuche von DDR-Menschen über die Westgrenzen der ČSSR. Auch wenn dieser Beitrag grundsätzlich an vorliegende anschließt, so war es zur Abrundung des Buchthemas sinnvoll, diesen Aspekt hier mit zu behandeln. Hervorzuheben ist an den Darlegungen übrigens, dass die Autoren die Flüchtlinge generell für ihren Mut würdigen und deren Anteil an der Revolution ins historische Licht rücken. Damit heben sie sich wohltuend von anderen Autorinnen und Autoren ab, die aus welchen Gründen auch immer, den Flüchtlingen noch heute angeblich mindere Motive unterstellen und damit ihre Handlungen abqualifizieren. Tatsächlich waren sie mutig, gaben sie doch ihre bürgerliche Existenz auf, ließen Familie und Freunde zurück, gingen einem ungewissem Schicksal entgegen und riskierten nicht zuletzt ihr Leben. Dass alles so schnell im Herbst 1989 einen glücklichen und unverhofften Ausgang nahm, konnte, wie auch Vodička betont, niemand vorhersehen.

In dem Band werden auch 73 Dokumente abgedruckt, die zuvor in der Darstellung überwiegend Erwähnung fanden. Allerdings hätten im Text häufiger Querverweise zu den Dokumenten aufgenommen werden können. Unter editorischen Gesichtspunkten ist anzumerken, dass Vodička fast auf jede wissenschaftliche Kommentierung verzichtet, was man machen kann, aber eigentlich nicht machen sollte. Zudem verschenkt der Autor auf diese Weise Erklärungspotential.

Das Buch stellt eine eindrückliche wissenschaftliche Leistung dar. Allerdings stellen sich mir dennoch drei Fragen. Erstens: Trifft der Titel – „Prager Botschaftsflüchtlinge“ –, was auch anderenorts oft verwendet wird, eigentlich zu? Ich denke nicht, weil ja wahrscheinlich kaum „Prager“ über die bundesdeutsche Botschaft flüchteten und hier auch nicht gemeint sind. Inhaltlich ist zweitens zu monieren, dass auch in diesem Buch abermals eine zentrale Motivation der SED-Führung, die Züge mit den Flüchtlingen über DDR-Territorium fahren zu lassen, nicht erörtert wird. Denn neben der staatspolitischen Gesichtswahrung – „DDR-Menschen verlassen die DDR über DDR-Grenzen“ – wussten SED, Staatssicherheit und Volkspolizei überhaupt nicht, wer die Tausende von Flüchtlingen eigentlich waren. Das aber konnten sie nur ermitteln, wenn diese über DDR-Territorium fuhren und in Aussicht gestellt bekamen, „Ausbürgerungsurkunden“ zu erhalten. Das wurde auch versprochen, aber außer dem Einsammeln der DDR-Personalausweise geschah sichtbar nichts weiter. Tatsächlich aber erstellten SED, Stasi und Polizei auf der Grundlage der eingesammelten Personalausweise Listen der Flüchtlinge, die sie nach Bezirken und Kreisen sortierten. Dann wurden alle Informationen von Polizei, Stasi und anderen Institutionen zusammengetragen. Hauptzweck war zunächst, Sogwirkungen dadurch zu unterbinden, dass man Familienangehörige, Freundinnen und Freunde sowie Bekannte aus dem Umfeld, die ebenfalls ausreisen wollten, sofort hinterherreisen zu lassen. Für derartige Maßnahmen reichte bekanntlich die Zeit nicht mehr aus. Stattdessen lieferten die Identitätsüberprüfungen SED und Stasi Erkenntnisse, die bedrohlich waren und wohl auch die Schockstarre im Apparat verhärteten: Denn die meisten Flüchtlinge, stellte man nun fest, waren junge, gut ausgebildete Fachkräfte, die sehr gut verdienten und politisch überwiegend bislang überhaupt nicht aufgefallen waren. Der typische Flüchtling kam also aus der Mitte der Gesellschaft, die dadurch im Prinzip ihren Halt verlor.

Schließlich die dritte Frage, die nun aber inhaltlich mit dem bemerkenswerten Buch, das bei Vandenhoeck & Ruprecht unipress erschienen ist, nichts mehr zu tun hat. Es geht um den Band „Zündfunke aus Prag“, der, laut Titelseite verfasst von Hans-Dietrich Genscher und Karel Vodička, im „Deutschen Taschenbuch Verlag“ (dtv) erschienen ist. Zunächst: bei diesem Band handelt es sich nicht um eine Taschenbuchausgabe. Während das Buch bei V&R unipress ein Softcover aufweist, trägt das im Taschenbuchverlag herausgekommene ein Hardcover mit Schutzumschlag. Als erster Autor taucht Genscher auf, steuert aber auch hier außer dem hinlänglich bekannten Vorwort aus der Recyclingmaschine nichts weiter bei. Doch nicht nur das Vorwort ist textidentisch – das gesamte Buch ist eine reine Kopie, die lediglich auf den Dokumentenanhang sowie auf den Beitrag über die Flüchtlinge an den Westgrenzen der ČSSR verzichtet. Zunächst ist ja bemerkenswert, dass das V&R-Buch so gut geschrieben ist – und das ist es in der Tat! –, dass es ohne Veränderungen, lediglich gekürzt um zwei Abschnitte, bei dtv erscheinen konnte. Nur: warum eigentlich?

Mir hat sich das nicht erschlossen, zumal der Preisunterschied nicht gerade fundamental ist. Mir drängt sich die Frage an V&R unipress und das HAIT auf, warum sie so etwas machen. Mit der V&R-Ausgabe allein hätte das wissenschaftliche Forschungsinstitut hinreichend zeigen können, dass es Forscherinnen und Forscher beschäftigt, die zu allem anderen auch noch stilsicher und anschaulich schreiben können. Mit der unnötigen „Volksausgabe“ bei dtv bestätigt das HAIT unbeabsichtigt und in diesem Fall unnötig Vorurteile, was die Schreibmöglichkeiten von Sozialwissenschaftlern anbelangt.3 Und was haben sich die beiden Verlage dabei gedacht? Vielleicht sollte man doch noch einmal ganz prinzipiell die großzügige Subventionierung wissenschaftlicher Forschungsliteratur in Deutschland überdenken. Denn solche Auswüchse – zumal im Zeitalter von Open Access, der sich öffentlich geförderte Einrichtungen eigentlich besonders verpflichtet sehen sollten – sind eigentlich erklärungsbedürftig. Jedenfalls erweckt es hier den Anschein, als würde der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht unipress bei dieser Schriftenreihe deshalb an keiner positiven wirtschaftlichen Bilanz Interesse haben müssen, da diese durch das HAIT subventioniert wird. Stattdessen wird dtv der wirtschaftliche Gewinn allein überlassen.

Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dieser Einwand hat mit der wichtigen und bemerkenswerten wissenschaftlichen Leistung von Karel Vodička nichts zu tun. Sein Buch ist nicht nur interessierten Forscherinnen und Forschern wärmstens zu empfehlen und es wird nicht nur künftig bei allen Forschungen zu den Revolutionen von 1989 eine wichtige Grundlage bilden. Darüber hinaus ist es auch allen Akteuren von 1989 und insbesondere den Flüchtlingen und Botschaftsbesetzern und Besetzerinnen als Erinnerungsbuch, Nachschlagewerk, Diskussionsanregung und Erklärungsfibel nahezulegen.

Anmerkungen:
1 Die beste und zugleich historisch authentischste Darstellung findet sich in einem Roman von Grit Poppe, Abgehauen, Hamburg 2012. Das Buch wendet sich an Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen und ist tatsächlich für alle Leserinnen und Leser ab etwa 12 Jahren geeignet.
2 Zu Genschers Rolle im späteren Prozess ist heranzuziehen: Gerhard A. Ritter, Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung, München 2013.
3 Eine Vorbemerkung in der dtv-Ausgabe suggeriert implizit, die dtv-Ausgabe sei die lesbarere der beiden Editionen.

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