Die Fotografiegeschichte der DDR kam bisher gegenüber der Zeitgeschichtsforschung deutlich zu kurz. Zu einzelnen Aspekten wie der Amateurfotografie1, der Funktion der Fotografie als Überwachungsmittel der Staatssicherheit2 oder der künstlerischen Fotografie der 1970er- und 1980er-Jahre3 existieren zwar umfangreiche Studien, aber ein grundlegender Überblick zu dem Thema fehlte bis vor kurzem. Diese Lücke verspricht die 2014 erschienene Münchener kunsthistorische Dissertation von Sabine Schmid zu schließen. Die Autorin setzt sich zum Ziel, die Entwicklungslinien der „funktionalisierten“ und der „subjektiven Fotografie in der DDR“ darzulegen. Sie schlägt einen chronologischen Bogen von der unmittelbaren Nachkriegszeit zur sich in den 1950er-Jahren herausbildenden marxistisch-leninistischen Fotoästhetik und der in den 1970er-Jahren einsetzenden Institutionalisierung der Fotografie. Dieser diskursive Rahmen dient ihr als Kontext für den Hauptteil der Studie, in dem sie die künstlerische Fotografie in der DDR in drei Generationen einteilt, angefangen bei Arno Fischer und Evelyn Richter in den späten 1950er-Jahren über Roger Melis sowie Ute und Werner Mahler in den ausgehenden 1960er-Jahren bis zu Christian Borchert und Gundula Schulze Eldowy im letzten Jahrzehnt der DDR.
Eine Fotografiegeschichte zu schreiben, die sich über einen Zeitraum von 40 Jahren erstreckt, ist ein gewagtes Vorhaben, vor allem wenn es sich bei dem Untersuchungsraum um ein sozialistisches Land wie die DDR handelt. Die Bildwelten waren dort in hochkomplexe politisch-ideologische Systemkreise eingebunden sowie von einem permanenten Aushandlungsprozess zwischen der Funktionalisierung zum Zweck der politischen Herrschaftssicherung und dem Zulassen von künstlerischen Handlungsspielräumen gekennzeichnet. Dass Schmid ihrem Anspruch, sowohl die „funktionalisierte“ als auch die „künstlerische und dokumentarische Fotografie in der DDR“ zu untersuchen, nicht gerecht wird, zeigt sich bereits am Aufbau der Arbeit: Sie streift die Pressefotografie nur am Rande und konzentriert sich auf die künstlerische Fotografie. Diese Gewichtung ist fatal, wenn man eine umfassende Fotografiegeschichte der DDR schreiben will, denn die Spezifika der dokumentarischen Autorenfotografie mit „human interest“, dem Kern der künstlerischen Fotografie in der DDR, haben sich grundlegend aus der Pressefotografie der ersten beiden Jahrzehnte entwickelt. Zudem sind die Positionen, die Schmid in kurzen Kapiteln abhandelt (unterteilt in die „Gründer- und Aufbaugeneration“, die „Generation der Desillusionierten“ und die „Generation der Autonomen“), spätestens seit 2009 kunsthistorisch kanonisiert – als anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Mauerfalls der erste Ausstellungsboom zur Fotografie in der DDR eingesetzt hatte. Schmids Zugang zu ihrem Gegenstand bietet also wenig Innovatives. Sie dringt auch nicht unter die Oberfläche, sondern schwimmt zwischen Biografischem und knappen Notizen zum Werk ihrer Protagonisten hin und her. Damit erweitert sie nicht den Erkenntnisstand, der seit 2000 bereits in zahlreichen, meist in Ausstellungskatalogen erschienenen Aufsätzen geleistet wurde. Sämtliche Positionen, die Schmid untersucht, wurden zuletzt 2012 in der Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ in der Berlinischen Galerie präsentiert, die von einem umfangreichen Katalog begleitet wurde.4
Der mangelnde Weitblick und der fehlende Tiefgang der Studie sind nicht nur der Auswahl der Protagonisten geschuldet, sondern auch dem verwendeten Material. Obwohl viele der Fotograf/innen, die Schmid untersucht, noch am Leben sind, hat sie keine Interviews geführt. Ihre Erkenntnisse gewinnt sie vor allem aus publizierten Quellen und der Literatur. Auch die Bilder dienen Schmid nicht als Quellen; ausführliche Fotoanalysen vermisst man in dieser Studie schmerzlich, und das Konvolut der besprochenen Bilder bietet wenig Neues. Dies hätte nicht sein müssen, denn die Fülle der in der DDR erschienenen Zeitschriften und Ausstellungskataloge ist unerschöpflich. Schmid hätte viele unentdeckte Schätze heben können und müssen, um einen innovativen Beitrag zur Forschung zu leisten. Die Vernachlässigung des Bildes spiegelt sich auch in der Qualität der Abbildungen in der Publikation wider: Großformatige Bilder fehlen, und oft ist die Auflösung der Fotos so gering, dass sie unscharf oder verpixelt sind.
Das Problem mit dem Bildmaterial ist dem methodischen Vorgehen der Studie geschuldet: Statt vom Einzelfall, wie dem Bildkonvolut einer Ausstellung, Publikation oder einem Fotoprojekt, auf übergreifende Zusammenhänge zu schließen, bewegt sich Schmid durchweg auf der Oberfläche des großen Ganzen. Durch ihr chronologisch-deskriptives Vorgehen vermag sie die politischen Determinanten nicht mit dem Fotografischen zu verknüpfen, wie der Titel der Publikation es verspricht. Stattdessen hangelt sie sich entlang der immer wiederkehrenden Frage, inwiefern eine „individuelle, subjektiv geprägte Bildsprache“ in den Werken zu erkennen ist – was sich ohne die sorgfältige Arbeit am Bild jedoch nicht beantworten lässt. Über die Arbeiten des Fotografen Ulrich Wüst schreibt sie beispielsweise: „Auf den ersten Blick wirken die Aufnahmen Wüsts wie reine Dokumentationen und eröffnen erst bei näherer Betrachtung eine künstlerische und eine konzeptuelle Fotografie: Eine persönliche Sichtweise auf die städtischen Räume, in welchen auch Wüst aufwuchs […]. Die verfallenen Zentren großer Städte mit vom Krieg gezeichneten Fassaden kehren ausschließlich in einer oftmals sozialdokumentarisch, vor allem veristisch geprägten Fotografie wieder.“ (S. 232f.) Da jede Fotografie das Ergebnis einer persönlichen Sichtweise ist, müsste Schmid diese Aussage am Bild durchdeklinieren, zumal Wüsts Aufnahmen in der Regel Architektur thematisieren, weshalb man sie nicht als sozialdokumentarisch bezeichnen kann. Statt den nötigen Schritt in die bildanalytische Tiefe zu gehen, verharrt Schmid im Formelhaften.
Auch den institutionellen Rahmen der Fotografie, den Schmid als „Nestor einer individuell ausgeformten Bildauffassung“ herausstellen will (S. 13), handelt sie ähnlich flach ab, zumal die Bezeichnung „Nestor“ für eine Person, nicht aber für Prozesse der Institutionalisierung passend ist. In einer gut durchdachten Gliederung analysiert Schmid unter anderem Ausbildungsmöglichkeiten, das System der staatlichen Förderung, Publikationsmedien, Ausstellungen und Galerien als Determinanten des Fotografischen in der DDR. Doch diese äußerst wichtige Rahmung bespricht sie auf nur 50 Seiten. Dies verwundert, denn schon das System der staatlichen Förderung war in der DDR äußerst differenziert und von zahlreichen Institutionen und Akteuren mitbestimmt, darunter der Kulturbund und der Verband Bildender Künstler der DDR (VBK). Die verkürzte Darstellung ist erneut Schmids Quellen geschuldet: Sie bezieht sich ausschließlich auf Publiziertes. Doch besonders für diesen Teil der Arbeit hätte sie dringend nach Material in den entsprechenden Archiven suchen müssen; das ist eine Lücke, die bisher in der Fotografiegeschichtsforschung zur DDR noch nicht geschlossen wurde. Die Archive sind leicht zugänglich und die Archivalien sehr gut sortiert: Die Dokumente des Kulturbundes können umfangreich in der Berliner Zweigstelle des Bundesarchivs eingesehen werden5, diejenigen des Verbandes Bildender Künstler der DDR im Berliner Archiv der Akademie der Künste und die Quellen zur Ausbildung im Archiv der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig – um die wichtigsten Bestände zu nennen. Es verwundert also, dass Schmid diese für ihre Forschung so zentralen Orte unbesucht ließ. Dem komplexen Wechselverhältnis zwischen Kunst- und Kulturpolitik und der Fotografie, „zwischen Politik und Bild“, wie im Titel programmatisch formuliert, wird die Studie deshalb leider nicht gerecht.
Dennoch ist Sabine Schmid ein aufschlussreicher Überblick zu den wichtigsten Protagonisten der ostdeutschen künstlerischen Fotografie gelungen. Die sorgfältig zusammengestellte Bibliografie gibt einen ausführlichen Einblick in die in der DDR veröffentlichten Quellen zur Fotografieästhetik und in die Sekundärliteratur zum Thema der künstlerischen Fotografie in der DDR. Schmids Studie vermag dahingehend nachfolgenden Untersuchungen zur Fotografie in der DDR eine wichtige Basis zu bieten. Solche Studien werden methodisch und analytisch aber andere Wege einschlagen müssen.
Anmerkungen:
1 Regine Schiermeyer, Greif zur Kamera, Kumpel! Die Geschichte der Betriebsfotogruppen in der DDR, Berlin 2015.
2 Karin Hartewig, Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit, Berlin 2004.
3 Ives Rachow, Aspekte künstlerischer Fotografie in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der 1970er und 80er Jahre, Frankfurt (Oder) 2000.
4 Die Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989“ fand vom 5.10.2012 bis zum 28.01.2013 in der Berlinischen Galerie statt (<http://www.berlinischegalerie.de/ausstellungen-berlin/rueckblick/2012/geschlossene-gesellschaft/> [08.05.2015]).
5 Die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv stellt Archivgut bereit, das unter anderem Auskunft gibt über die Tätigkeit der Zentralen Kommission für Fotografie im Kulturbund der DDR (ab 1982 überführt in die Gesellschaft für Fotografie).