H. T. Graef (Hg.): Kleine Städte im neuzeitlichen Europa

Title
Kleine Städte im neuzeitlichen Europa.


Editor(s)
Graef, Holger Thomas
Series
Innovationen. Bibliothek zur Neueren und Neuesten Geschichte 6
Published
Extent
272 S.
Price
€ 28,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wilfried Enderle, Niedersaechsische Staats- und Universitaetsbibliothek Goettingen

Nachdem die Stadtgeschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten ihren traditionell im Mittelalter liegenden Schwerpunkt immer mehr auf die Fruehe Neuzeit ausgedehnt hat, wie auch die zusammenfassenden Darstellungen von Klaus Gerteis, Heinz Schilling oder Christopher R. Friedrichs dokumentieren (1), scheint sie nun auch noch - nach den bislang im Zentrum der Forschung stehenden Reichs- und Residenzstaedten - die Kleinstaedte entdeckt zu haben, wenn man einmal von der bereits im Jahr 1971 erschienen Arbeit von Mack Walker zu den "German home towns" (2) absieht. Dabei geht es freilich nicht darum, wie man auf den ersten Blick meinen moechte, die noch weissen Flecke auf der Landkarte der staedtegeschichtlichen Forschung zu bearbeiten, nachdem die grossen "Helden" der urbanen Szene ausreichend gewuerdigt worden sind; auch wenn in den Zeiten eines hochdifferenzierten und zum Teil immer noch expandierenden Forschungsbetriebes derartige Motive nicht voellig unbegruendet sein moegen. Dahinter steckt aber vor allem ein neuer methodischer, im wesentlichen von der angelsaechsischen stadtgeschichtlichen Historiographie stammender Ansatz: die Urbanisierungsforschung. Im Focus der Urbanisierungsforschung steht nicht die einzelne Stadt, sondern die Staedtelandschaft oder genauer: das Staedtenetzwerk, also die Beziehungen der Staedte untereinander einschliesslich der Beziehungen zum staedtischen Umland und die allgemeine geschichtliche Bedeutung dieses Netzwerkes fuer die Urbanisierung und damit Modernisierung der europaeischen Regionen. Eine Praemisse der Historiographie zur Geschichte kleiner Staedte ist die Vorstellung, dass die tausende kleiner und kleinster Staedte fuer den Gesamtvorgang der Urbanisierung im fruehneuzeitlichen Europa ebenfalls eine wichtige Rolle spielten und daher ihr spezifischer Beitrag gegenueber den bislang hauptsaechlich untersuchten grossen und groesseren Staedten herausgearbeitet werden muss. Die mit am haeufigsten referenzierten allgemeinen Darstellungen in dem von Holger Th. Graef herausgegebenen Sammelband sind denn auch die zusammenfassenden Darstellungen von Jan de Vries sowie Paul M. Hohenberg und Lynn Holles Lees zur Geschichte der europaeischen Urbanisierung (3).

Waehrend diese grossen, synthetisierenden Studien zur Urbanisierung den inhaltlichen und methodischen Hintergrund bilden, vor dem der vorliegende Band zu sehen ist, kam die Anregung zur Thematisierung kleiner Staedte eindeutig von dem 1995 erschienenen und von Peter Clark herausgegebenen Buch zu den "Small Towns in Early Modern Europe" (4), in dem Graef auch einen Aufsatz zur Geschichte der Kleinstaedte im fruehneuzeitlichen Hessen beigesteuert hat. Hier versuchten die Beitraeger, den Stand der Forschung zu einzelnen Laendern und Regionen in Europa zusammenzufassen bzw. groessere regionale Komplexe zu thematisieren, um somit einen Ausgangspunkt fuer weitere Arbeiten zu bilden. Die Zielsetzung der Beitraege im Graefschen Sammelband, die aus einer 1996 in Belgrad im Rahmen der Third International Conference on Urban History gehaltenen Sektion ueber europaeische Kleinstaedte in der Neuzeit hervorgegangen sind, ist enger und spezieller. Dies haengt im wesentlichen damit zusammen, dass der groesste Teil der durchweg von juengeren Historikern stammenden Arbeiten aus abgeschlossenen oder laufenden groesseren Forschungsprojekten, zumeist Dissertationen oder Habilitationsvorhaben, hervorging. Die methodische wie sachliche Qualitaet der einzelnen Beitraege profitiert ganz eindeutig davon, basieren sie doch in der Regel auf umfassenden Quellenstudien. Jedoch wird damit das Buch insgesamt thematisch heterogener. Darueber kann auch der Versuch des Herausgebers nicht hinwegtaeuschen, die Aufsaetze in drei Teile - Terminologie, regionale und systematische Fallstudien - zu untergliedern. Raeumlich reichen diese immerhin von Siebenbuergen ueber Oberitalien bis Daenemark und Nordirland und inhaltlich von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ueber die Bildungsgeschichte bis zur politischen Geschichte.

Eingeleitet wird der Band durch einen Beitrag des Herausgebers, der "Probleme, Aufgaben und Methoden historischer Kleinstadtforschung" knapp skizziert. Im Laufe der 1980er Jahre begann, wie er in diesem knappen Forschungsueberblick konstatiert, die Historiographie das Thema der kleinen Staedte zu entdecken. "Trotz einer ganzen Fuelle von Einzelstudien und langfristig angelegten Forschungsprojekten steht die Erforschung der kleinen Staedte in Europa erst an ihrem Anfang" (S. 13), wie Graef betont, wobei im einzelnen freilich bereits durchaus gewichtige Arbeiten vorliegen, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, die grundlegende Monographie von Kiessling zur Stadt-Umland-Beziehung in Ostschwaben (5).

Den Reigen der folgenden Fallstudien leitet dann Gabor Sonkoly ein, der versucht am Beispiel transsylvanischer Kleinstaedte im 18. und 19. Jahrhundert eine quantitative Methode zu entwickeln, wie die fuer Siebenbuergen typische Kleinstadt definitorisch erfasst werden kann, wobei er sich auf ein differenziertes Raster verschiedener Kriterien stuetzt, welche von den administrativen Funktionen einer Stadt bis zu soziooekonomischen und demographischen Faktoren reichen. Bereits der folgende Beitrag von Paola Subacchi illustriert indes augenfaellig, wie unterschiedlich die regionalen Bedingungen der hier untersuchten Staedtenetzwerke sein konnten. Subacchi beschaeftigt sich mit den Kleinstaedten innerhalb des norditalienischen Staedtenetzes, einer der seit dem hohen Mittelalter dichtesten urbanen Regionen Europas. Sie versucht zu zeigen, dass dort in der Fruehen Neuzeit eine strukturelle Verlagerung von den mittelgrossen Staedten, die in demographischer wie oekonomischer Hinsicht stagnierten oder gar an Bedeutung verloren, hin zu den Kleinstaedten stattfand, wobei die borghi, die Marktflecken mit 5000 bis 9999 Einwohnern, welche die Basis ihrer Studie bildeten, im transsylvanischen Staedtenetz Sonkoly's bereits regionale Grossstaedte gewesen waeren. Carl A. Hoffmann zeigt im folgenden Beitrag dann am Beispiel des Herzogs- bzw. Kurfuerstentums Bayerns, wie dort die Kleinstaedte in den neuzeitlichen Territorialstaat integriert wurden. Er versucht damit, das Urbanisierungskonzept um die klassisch politisch-administrative Perspektive zu ergaenzen, und kommt zu dem differenzierten Schluss, dass die Staedte zwar, was nicht ueberrascht, im Laufe der Fruehen Neuzeit staerker in den Staat integriert wurden, dabei zugleich aber eigene, traditionelle Selbstverwaltungsrechte weiterhin behalten konnten.

Traditionell wirtschafts- und finanzgeschichtliche Ansaetze greifen Andrea Puehringer, welche die Finanzverwaltung oesterreichischer Kleinstaedte untersucht und Jorgen Mikkelsen auf, der sich mit der wirtschaftlichen Verflechtung ostdaenischer Staedte im spaeten 18. Jahrhundert befasst. Katrin Keller hingegen beschaeftigt sich mit der Schul- und Bildungsgeschichte saechsischer Kleinstaedte des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass durchaus auch Kleinstaedte in Sachsen seit dem 16. Jahrhundert eine Schule besassen, dass mithin auch die Existenz von Bildungsinstitutionen ein nicht zu unterschaetzender Faktor der Urbanitaet eines Gemeinwesens war. Von 106 untersuchten Staedten verfuegten wahrscheinlich sogar 56, also gut die Haelfte, ueber eine Maedchenschule. Der Stand und die Qualitaet der Schulen und damit auch die Entwicklung der Alphabetisierung und Lesefaehigkeit hing, wie sie herausstellt, auch deutlich mit dem Stand und der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhaeltnisse einer Stadt zusammen. Das kleinstaedtische Buergertum scheint also - zumindest ansatzweise - die oertlichen Schulen fuer die eigenen Zwecke funktionalisiert zu haben.

Ausschliesslich auf das 19. Jahrhundert bezogen sind die Studien von Ralf Proeve, der die Sozialstruktur zweier preussischer Kleinstaedte - Friesack und Freienwalde - anhand von Steuerlisten aus dem Jahr 1843 analysiert, und von Brian Graham, der sich mit dem Paechterprotest in nordirischen Kleinstaedten zwischen 1880 und 1914 beschaeftigt. Proeve kommt zu dem Schluss, dass der fuer Klein- und Mittelstaedte haeufig zur Typisierung genutzte Begriff der Ackerbuergerstadt dem Charakter der untersuchten Beispielstaedte nicht gerecht wird. So koennen aufgrund der Steuerlisten kaum berufliche Taetigkeiten mit Schwerpunkt in der Landwirtschaft nachgewiesen werden; und auch Landbesitz selbst war weitaus geringer verbreitet als vermutet. Ob man daraus freilich einfach den Umkehrschluss ziehen und diesen beiden Orten urbanen Charakter zusprechen kann, sei dahingestellt. Generell wird hier deutlich, dass eine hinreichend praezise Definition und Beschreibung der Faktoren, welche die Urbanitaet einer Kleinstadt ausmachten, wohl immer noch ein Desiderat der Kleinstadtforschung ist.

Einen exotischen, freilich nicht allein deswegen lesenswerten Akzent in dieser Sammlung quellenfundierter Einzelstudien setzt zum Schluss die slowenische Literaturwissenschaftlerin Lada Cale Feldman, welche Dubrovnik, die "Stadt als Theater", aus kulturanthropologischer Perspektive thematisiert. Waehrend die anderen, von Historikern erarbeiteten Aufsaetze durchweg - mit Ausnahme Kellers - einem eher klassischen makrohistorischen, sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientierten Forschungsansatz verpflichtet sind, kombiniert sie in ihrem Essay hingegen auf anregende Weise Geistesgeschichte und historische Anthropologie.

Insgesamt ist der vorliegende Band zur Geschichte kleiner Staedte im neuzeitlichen Europa vor allem fuer Spezialisten interessant, die sich hier ueber die Ergebnisse neuerer Forschungsarbeiten informieren koennen. Mehr ist, wie Graef auch zurecht betont, beim derzeitigen Forschungsstand, der groessere, synthetisierende Studien und Gesamtdarstellungen noch nicht erlaubt, auch nicht moeglich und beabsichtigt. Festzuhalten ist freilich, dass, mit Ausnahme der Arbeiten Kellers und Feldmans, sich die vorliegenden Studien methodisch weitgehend an klassischen quantitativen und sozialtheoretisch fundierten Modellen orientieren. Neuere mentalitaets- und alltagsgeschichtliche Ansaetze werden nicht aufgegriffen, wobei gerade Arbeiten, wie die von Rainer Beck zu Unterfinning oder neuerdings von Hans Medick zu Laichingen den Erkenntniswert eines derartigen Ansatzes belegen (6).

Anmerkungen:
(1) Klaus Gerteis: Die deutschen Staedte in der fruehen Neuzeit: zur Vorgeschichte der "buergerlichen Welt". Darmstadt 1986. - Heinz Schilling: Die Stadt in der fruehen Neuzeit, Muenchen 1993 (=Enzyklopaedie deutscher Geschichte, Bd. 24). - Christopher R. Friedrichs: The Early Modern City, 1450-1750, London-New York 1995.
(2) Mack Walker: German Home Towns. Community, State and General Estate 1648-1871, Ithaca [u.a.] 1971.
(3) Jan de Vries: European Urbanization, 1500-1800, London 1984. - Paul M. Hohenberg / Lynn Hollen Lees: The Making of Urban Europe, 1000-1950, Cambridge/Mass. 1985 (=Harvard Studies in Urban History).
(4) Peter Clark (Hrsg.): Small Towns in Early Modern Europe, Cambridge 1995 (=Themes in International Urban History).
(5) Rolf Kiessling: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Buergerbesitz und Wirtschaftsgefuege in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Koeln [u.a.] 1989 (=Staedteforschungen, Reihe A., Bd. 29).
(6) Rainer Beck: Unterfinning. Laendliche Welt vor Anbruch der Moderne, Muenchen 1993. - Hans Medick: Weben und Ueberleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte, Goettingen 1996 (=Veroeffentlichungen des Max-Planck-Instituts fuer Geschichte, Bd. 126).

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