Schon seit einiger Zeit zeigt sich in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ein verstaerktes Interesse an dem Thema 'Identitaet'. Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs zu diesem Thema, eine mittlerweile kaum noch ueberschaubare Fuelle an Literatur unterschiedlicher Provenienz sowie die im oeffentlichen Diskurs gefuehrten Reden ueber 'Identitaet' belegen die Praesenz dieses Themas. Die hierbei eroerterten Identitaetsebenen reichen vom Individuum ueber kleinraeumige Einheiten bis hin zu den Nationen, wobei die letztere Ebene sich (wieder) einer verstaerkten Aufmerksamkeit erfreut.
In einem Band mit dem Titel 'Das Bild vom Anderen. Identitaeten, Mentalitaeten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europaeischen Regionen' werden die unterschiedlichen Identitaetskonzepte in Ostmittel- und Suedosteuropa beleuchtet. Grundlage der Publikation ist eine internationale Konferenz in Salzburg im Jahr 1994, wo unter der Federfuehrung des Oesterreichischen Ost- und Suedosteuropa-Instituts in Wien Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewissermassen anhand der europaeischen Landkarte das 'Bild vom Anderen' in den Laendern Ost- und Suedosteuropas abarbeiteten. Dieser Teil Europas zeichnete sich, so Arnold Suppan in der Einleitung, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine Vielzahl multi-ethnischer Regionen aus, waehrend dieses Merkmal heute vielerorts verlorengegangen ist. Nach Suppan haben vor allem zwei Vorgaenge dazu gefuehrt, dass Regionen in Ost- und Suedosteuropa von Ab- und Ausgrenzungen in groesserem Masse betroffen waren als Laender in Westeuropa. Die Uebernahme westlicher, vor allem franzoesischer Nationsvorstellungen befoerderte scharfe Konflikte, die durch die Schaffung neuer Nationalstaaten mit neuen nationalen Minderheiten nach der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 noch zusaetzlich verschaerft wurden. Zum regelrechten 'Katastrophenjahrzehnt' fuer Minderheiten wurden die Jahre 1938 bis 1948, als auf die Aggressions- und Vernichtungspolitik Hitlers die Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik Stalins folgte. Als Ergebnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt Suppan fest, dass die vielfach seit Jahrhunderten gewachsenen Bevoelkerungsstrukturen sich aufgeloest bzw. veraendert haben. Im Zusammenhang damit erfolgte auch die Umwertung von Identitaeten der betroffenen Bevoelkerungsgruppen: "[...] viele Bilder vom anderen sind durch die Gewaltmassnahmen waehrend des Zweiten Weltkrieges sehr zum Negativen hin veraendert worden." (S.13)
Der Band ist im Anschluss an die Einleitung in zwei Teile gegliedert. In einem ersten Teil wird der Versuch unternommen, den im Titel angedeuteten komplexen Zusammenhang von Identitaet, Mentalitaet und Stereotypen aus der Sicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen - der Ethnologie, der Literaturwissenschaft und der Religionswissenschaft - zu beleuchten. Insbesondere in dem Beitrag von Klaus Roth ueber 'Stereotypen, Mythen und Identitaeten aus ethnologischer Sicht' werden Ausdrucks- und Funktionsweisen von Stereotypen dargestellt. Da sich viele der folgenden Beitraege mit den Inhalten von Ab- und Ausgrenzungen beschaeftigen, ist der Aufsatz von Roth ein analytisches Raster zur Beurteilung dieser Strategien. Wenngleich die Objektivierung von Stereotypen ueberwiegend sprachlich geschieht, so koennen doch, wie Roth betont, auch Lieder, konkret-bildliche Darstellungen auf Flugblaettern oder in der Karikatur stereotype Vorstellungen transportieren. Stereotypen beziehen sich aber nicht nur - als Heterostereotyp - auf Wahrnehmungen des Fremden, sondern dienen zugleich - als Autostereotyp - der Definition des Selbst, so dass der "Selbstdefinition der Identitaet [...] stets die Fremddefinition, die zugeschriebene Identitaet gegenueber [steht]" (S.29). Unter Beruecksichtigung der Erkenntnisse der Wahrnehmungs- und Kommunikationswissenschaften haben nach Roth Stereotypen eine kognitive, eine psychohygienische und eine soziale Funktion, wobei die Erzeugung von Identifikationen durch verschiedene soziale Kategorien wie Geschlecht, Religion, Nation etc. erfolgen kann. In diesem Zusammenhang werden auch Ursprungs- und Gruendungsmythen eingesetzt, um als politisches Mittel die eigene Macht zu legitimieren oder die Hegemonie einer Gruppe oder Institution zu sichern. Die durch Stereotypen und Mythen erzeugten 'Bilder in den Koepfen' haben hohe Stabilitaet und Resistenz, sie koennen im Umgang mit dem 'Fremdsein' hilfreich, aber eben als Vorurteil oder Feindbild auch schaedlich sein, und es kommt darauf an, dass die Frage der kulturellen Techniken des Umgangs mit ihnen und die politischen sowie soziooekonomischen Rahmenbedingungen vermittelt werden.
Ernst Christoph Suttner weist in seinem Beitrag auf die Gefahren religioes aufgeladener Nationalismen hin und zeigt anhand der Kirchengeschichte, wie beispielsweise die Zugehoerigkeit zu einer Ethnie mit der Anhaengerschaft einer Glaubensgemeinschaft gleichgesetzt wurde oder Konfessionsgegensaetze in die Bilder von Anderen einfliessen und als religioes verbraemte Xenophobie missbraucht werden.
Im zweiten Teil des Buches beschaeftigen sich 15 Beitraege mit ethnischen und nationalen Gegensaetzen in Ostmittel- und Suedosteuropa. Das hierbei dargebotene Spektrum reicht von der Konfliktlinie zwischen Deutschen und Tschechen in Boehmen, derjenigen zwischen Deutschen und Polen in Schlesien ueber die nationalen Mythen in Ostgalizien und der Ukraine bis zu den ethnischen und nationalen Spannungen und Auseinandersetzungen in der Bukowina, in Siebenbuergen, in der Vojvodina, in der Slowakei und in Rumaenien. Der Kosovo und Bosnien-Hercegovina werden unter dieser Perspektive ebenso thematisiert wie die Alpen-Adria Region, Tirol und die Schweiz.
Die einzelnen zum Teil sehr knappen Beitraege differieren in bezug auf ihren empirischen Saettigungsgrad betraechtlich, was aber offensichtlich auch damit zusammenhaengt, dass eine interdisziplinaer angelegte Erforschung der 'Bilder ueber die Anderen' in vielen dieser Regionen noch am Anfang steht. Die im Untertitel angesprochene Mehrdimensionalitaet des Phaenomens wird in den Fallbeispielen ebenfalls nur sehr bedingt eingeloest; zum groesseren Teil referieren die Autoren eher nationale bzw. ethnische Auto- und Hetreostereotypen sowie gaengige Klischees, waehrend der Leser nur sehr wenig ueber Mentalitaeten und Identitaeten erfaehrt. Um Aussagen ueber die Grundlagen, die Konstruktionsprinzipien und die Genese von kollektiven Identitaetsmustern und Verhaltensdispositionen in diesen Regionen treffen zu koennen, wird es sicher noch notwendig sein, in vertiefende Forschungen einzusteigen. Als Aufriss der Geschichte der komplexen nationalen und ethnischen Strukturen in den Staaten Ost- und Suedosteuropa sowie als gegenwaertige Bestandsaufnahme ist dieses Buch fuer all diejenigen von Nutzen, die sich in diese Thematik einarbeiten wollen, was durch ein Personen- und Ortsnamenregister zudem erleichtert wird.