Die Verschränkungen von Medizin und Kolonialismus sind Gegenstand einer inzwischen breiten geschichtswissenschaftlichen Forschung. Zahlreiche Studien haben medizinische Maßnahmen in europäischen Kolonien rekonstruiert, dabei entweder auf die Bekämpfung spezifischer Krankheiten wie Schlafkrankheit, Malaria oder Pest fokussiert, oder aber koloniale Gesundheitspolitiken in bestimmten Regionen in den Blick genommen.1 All diese Arbeiten interessieren sich dafür, auf welche Weise medizinisches Wissen und medizinische Praxis in den Aufbau, Alltag und Erhalt kolonialer Herrschaft eingebunden waren. Innerhalb dieses breiten Feldes ist die Forschung zu Medizin und Gesundheitspolitik in deutschen Kolonien äußerst übersichtlich geblieben. Jenseits von Wolfgang Uwe Eckarts Überblickswerk 2 sind bisher nur wenige thematische oder regionale Fallstudien erschienen.3 Umso erfreulicher ist es, dass nun mit Daniel J. Walthers Monographie ein weiterer Beitrag zur Geschichte von Medizin und deutschem Kolonialismus vorgelegt wird.
Daniel J. Walther ist Professor für deutsche Geschichte am Wartburg College in Waverly, Iowa. Zuletzt veröffentlichte er eine Arbeit über die Herstellung deutscher Identität in Namibia.4 In seinem neuen Buch wendet er sich der Bekämpfung von sexuell übertragbaren Krankheiten (im Folgenden auch STD – nach sexually transmitted diseases – abgekürzt) in der Ära des deutschen Kolonialismus zu. Dabei lässt er sich – wie viele Studien zu Medizin und Kolonialismus 5 – von einem von Foucault inspirierten Interesse an der disziplinierenden Wirkung von Macht leiten. Er fragt deshalb bei der Rekonstruktion der Bekämpfungsmaßnahmen nach Momenten, in denen (auch repressiv ausgeübte) Gesundheitspolitiken „produktiv“ wirkten, also dazu führten, dass kolonisierte Bevölkerungen selbst am „process of medico-moral government“ (S. 3) partizipierten. Diese Momente seien Hinweise darauf, so Walther’s Argument, dass koloniale Herrschaft trotz ihrer repressiven Momente als „modern“ verstanden werden müssten. Seine Untersuchung versteht er als Fallstudie über deutschen Kolonialismus anhand von Diskursen über Gesundheit.
Die Anlage von Walthers Arbeit ist in zwei Punkten ungewöhnlich: Erstens fokussiert seine Untersuchung nicht auf eine bestimmte Region, sondern beschreibt die Maßnahmen zur Bekämpfung sexuell übertragbarerer Krankheiten wie Syphilis und Gonorrhöe im gesamten deutschen Kolonialreich, also in Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, in den in pazifischen Kolonien wie Samoa und (Deutsch-)Neuguinea sowie in Kiautschou im Nordosten Chinas. Zweitens untersucht er diese Maßnahmen bewusst vor dem Hintergrund von und im Zusammenhang mit Maßnahmen, die zur selben Zeit in Deutschland durchgeführt wurden, hat also anders als viele vergleichbare Arbeiten nicht nur die Kolonien, sondern auch die koloniale „Metropole“ im Blick. Walther ist deshalb in der Lage, zu erörtern, inwiefern die beschriebenen Maßnahmen eine koloniale Spezifik aufwiesen oder in übergreifende Anliegen eingebunden waren, die für das gesamte Deutsche Kaiserreich relevant waren. Seine Untersuchung stützt Walther auf Aktenmaterial der deutschen Kolonialverwaltungen aus dem Bundesarchiv sowie aus dem australischen Nationalarchiv, greift darüber hinaus auf veröffentlichtes Material wie die von der Reichsregierung jährlich herausgegebenen „Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete“ und zeitgenössische Berichte von Ärzten zurück.
Dem Anspruch, keine einzelnen Regionalgeschichten, sondern eine zusammenhängende Geschichte von Medizin und kolonialer Kontrolle zu schreiben, folgt auch die Gliederung von Walthers Monographie. Sie ist in drei große Abschnitte geteilt: Der erste widmet sich Sexualität in Deutschland und in Deutschlands Kolonien, den Diskursen über sie sowie ihrer Kontrolle. Walther zeigt, dass insbesondere Prostitution sowohl in Deutschland als auch in den Kolonien problematisiert wurde – als Ursache für die Verbreitung von Krankheiten und damit zugleich als Gefahr für bürgerliche Normen, für die Nation sowie für die koloniale Ordnung. Prostituierte Frauen waren deshalb diejenigen, gegen die sich Anti-STD-Maßnahmen zentral richteten. In Deutschland wurden sie regelmäßigen ärztlichen Kontrollen unterworfen, in den Kolonien wurden ihnen für die Sexarbeit spezifische Orte zugewiesen. Der zweite Abschnitt der Arbeit erörtert das Vorkommen und die gesundheitliche und politische Bedeutung von sexuell übertragbaren Krankheiten in den Kolonien. Hier arbeitet Walther die Bedeutung heraus, die diesen Krankheiten als Bedrohung für die koloniale Wirtschaft und für das Wohlergehen der Kolonisierenden beigemessen wurde, versucht, die quantitative Bedeutung der Krankheiten zu erfassen und problematisiert dabei zugleich die Kategorien kolonialer Statistiken. Der dritte Abschnitt untersucht die zur Bekämpfung der Krankheiten durchgeführten Maßnahmen – von Maßnahmen zur Regulierung der Sexualität insbesondere von Frauen, Militärangehörigen und zum Profit kolonialer Projekte tätiger Arbeiter bis zum Einsatz von Medikamenten, deren Entwicklung – wie Walthers zeigt – zum Teil auf ihrer Erprobung an Kolonisierten basierte. Im knappen Fazit der Arbeit fasst Walther abschließend Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen gesundheitspolitischem Vorgehen in den Kolonien und in der „Metropole“ zusammen und bekräftigt seine These des disziplinierenden und subjektivierenden Charakters von Anti-STD-Politiken sowie von kolonialer Herrschaft.
Walthers Arbeit liefert einige interessante Erkenntnisse. Dazu gehört, dass er ein differenziertes Bild der Positionen unterschiedlicher "Personengruppen" innerhalb des Systems kolonialer Krankheitsbekämpfung zeichnet. Forschungen zu kolonialen Gesundheitspolitiken arbeiten in der Regel heraus, dass (und auf welche Weise) Nicht-Weiße zu Ursachen und Trägern von Krankheit erklärt und entsprechenden Kontrollmaßnahmen unterworfen wurden. Auch Walthers bestätigt zunächst dieses erwartbare Bild: Insbesondere nicht-weiße Frauen, so zeigt er, wurden einerseits sexualisiert, andererseits ihre Körper mit Geschlechtskrankheiten gleichgesetzt. Walthers erweitert aber auch Erwartungen, indem er herausarbeitet, dass auch die Anwesenheit weißer Männer von Kolonialärzten als Ursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten problematisiert wurde. Hier standen weiße Männer aus unteren Klassen besonders im Fokus. Walther zeigt, dass ihre Pathologisierung und die nicht-weißer Personen durch eine ähnliche Rhetorik erfolgte. Sowohl Nicht-Weiße als auch arme Weiße wurden in ihrem Verhalten in Kontrast zu einem bürgerlichen Normen von Hygiene entsprechenden Verhalten gesetzt. Spannend sind solche Einsichten deshalb, weil sie auf die zentrale Rolle der Idee von "Zivilisierung" hinweisen, auf ihr Potenzial, medizinische Eingriffe und (De-)Privilegierungen innerhalb der Gesellschaft in der Kolonie wie in der "Metropole" zu legitimieren.
Walther kommt entsprechend zu dem Schluss, dass zwischen gesundheitspolitischen Praktiken in den Kolonien und in der „Metropole“ zahlreiche Gemeinsamkeiten bestanden: Sie wiesen in beiden Kontexten Momente des „Aufklärens“, der Kasernierung, der körperlichen Untersuchung auf und griffen auf ähnliche Terminologien zurück, um Personen zu objektivieren. Schade ist, dass Walther diese Gemeinsamkeiten zwar feststellt, sie aber nicht erklärt – inwiefern waren sie für den Erhalt kolonialer und imperialer Herrschaft wichtig? – und ihren Ursachen nicht nachgeht.
Der Autor stellt auch Unterschiede zwischen dem Vorgehen in Kolonien und „Metropole“ fest: Gesundheitspolitische Diskurse in der Metropole waren von einem Nachdenken über "Klasse" geprägt, in der Kolonie dagegen von Ideen von "Rasse". Dieser Befund ist erwartbar – und streitbar: Forschungen wie jene von Paul Weindling und Philipp Sarasin 6 haben auf anti-jüdische und anti-polnische Diskurse in Gesundheitspolitiken des Kaiserreichs hingewiesen und damit auf die Bedeutung, die Ideen von „Rasse“ auch in der Metropole hatten. Gleichzeitig führen Studien wie jene von Birthe Kundrus vor, dass auch in den Kolonien Rassifizierungen mit Klasse und Ideen von Bürgerlichkeit verquickt waren.7 Gerne würde man deshalb mehr erfahren über die konkreten Spielarten von „Rasse“ und die Relevanz der Kategorie Klasse in Anti-STD-Politiken in Kolonien und Metropole.
Walthers Interesse an den „produktiven“ Wirkungen von Macht mündet in der These, dass die zur Eindämmung sexuell übertragbarerer Krankheiten getroffenen gesundheitspolitischen Maßnahmen trotz ihres in Teilen stark repressiven Charakters „Subjektivierungen“ im Sinne Foucaults hervorbrachten. Laut Walther gibt es Hinweise darauf, dass die Gesundheitskarten, die in Togo Prostituierte mit sich führen mussten, in denen die Ergebnisse von ärztlichen Untersuchungen vermerkt wurden, von den betroffenen Frauen angenommen wurden. Auch wurden die ärztlichen Untersuchungen auf „Geschlechtskrankheiten“ offenbar nicht nur als Kontrollinstrument wahrgenommen, sondern mitunter aktiv nachgefragt, wie Walther am Beispiel von Vätern aus Douala (Kamerun) zeigt, die ihre zukünftigen Schwiegersöhne vor der Hochzeit zu solchen Untersuchungen schickten. Hier deuten sich spannende Geschichten an – über die aktive Überführung repressiver in schützende Instrumente, über die Aneignung von repressiven Praktiken zur Ausübung von Autorität über Dritte, über den aktiven Umgang von Betroffenen mit ihrer Position innerhalb eines Herrschaftsgefüges. Leider werden sie jedoch nur angerissen und so bleibt auch Walthers These mehr Behauptung denn Darlegung.
Abschließend lässt sich feststellen: Die Stärke von Walthers Untersuchung ist auch seine Schwäche: Das ambitionierte Ziel, das Deutsche Kaiserreich in seiner territorialen Gesamtheit in der Analyse berücksichtigen zu wollen und damit vor allem Metropole und Kolonie gemeinsam betrachten zu wollen, hat zu einer Studie geführt, die in weiten Teilen überblickhaft bleibt. Wo der_die Leser_in sich das Verweilen bei einem Argument wünscht, etwa ein von Empirie genährtes detailliertes Nachzeichnen dessen, was Walther als Prozesse der Objektivierung und Subjektivierung benennt, bleibt die Untersuchung thesenhaft. Sie liefert aber für das Forschungsfeld „Medizin und Imperialismus“ zahlreiche Hinweise für lohnenswerte Vertiefungen.
Anmerkungen:
1 Z.B.: David Arnold, Colonizing the Body. State Medicine and Epidemic Disease in Nineteenth-Century India, Berkeley 2002; Myron J. Echenberg, Black Death, White Medicine. Bubonic Plague and the Politics of Public Health in Colonial Senegal, 1914–1945, Portsmouth 2002; Maryinez Lyons, The Colonial Disease. A Social History of Sleeping Sickness in Northern Zaire, 1900–1940, Cambridge 1992. Die ersten Publikationen waren allerdings thematisch und regional breit angelegt: Roy MacLeod/Lewis Milton (Hgg.), Disease, Medicine, and Empire. Perspectives on Western Medicine and the Experience of European Expansion, London 1988; David Arnold, (Hrsg.), Imperial Medicine and Indigenous Societies, Manchester 1988.
2 Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945, Paderborn 1997.
3 Siehe insbesondere: Ann Beck, Medicine and Society in Tanganyika 1890-1930. A Historical Inquiry, Philadelphia 1977; Margrit Davies, Public Health and Colonialism. The Case of New Guinea, 1884-1914, Wiesbaden 2002; Robert Debusmann, Krankheit im kolonialen Alltag. Ärztliche Erfahrungen und Patientenverhalten in Kamerun, 1890-1930, in: Hans Peter Hahn (Hrsg.), Afrika und die Globalisierung, Münster 1999, S. 217–225; Kirk Arden Hoppe, Lords of the Fly. Colonial Visions and Revisions of African Sleeping-Sickness Environments on Ugandan Lake Victoria, 1906-61, in: Africa, 67 (1997) 1, S. 86–105; Hiroyuki Isobe, Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen "Schutzgebieten" vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2009; Deborah J. Neill, Networks in Tropical Medicine. Internationalism, Colonialism, and the Rise of a Medical Specialty, 1890–1930, Palo Alto 2012.
4 Daniel J. Walther, Creating Germans Abroad. Cultural Policies and National Identity in Namibia, Athens 2002.
5 Alexander Butchart, The Anatomy of Power. European Constructions of the African Body, London 1998; zur Erörterung der Grenzen einer Verwendung Foucaults für koloniale Kontexte: Megan Vaughan, Curing Their Ills. Colonial Power and African Illness, Cambridge 1991.
6 Siehe z.B.: Philipp Sarasin, Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie, in: ders. u.a. (Hgg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren, 1870 - 1920, Frankfurt/Main 2007, S. 427–461; Paul Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890-1945, Oxford 2000.
7 Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, S. 234–279.