Das Jahr 1945 markierte fuer das politische System und fuer die politische Kultur Deutschlands eine tiefgreifende Zaesur: Die Alliierten hatten den Zweiten Weltkrieg gewonnen und zugleich den NS-Staat aufgeloest; Nationalismus, Militarismus und Rassismus waren als leitende Ordnungsideen diskreditiert. Der 8. Mai 1945 bildete die notwendige Voraussetzung fuer einen demokratischen Neubeginn, der in Westdeutschland auch bald realisiert wurde. Eine solche Oberflaechenbeschreibung ist aber zu abstrakt, um den Wandlungsprozess historisch und soziologisch zu erfassen. Dass es keine 'Stunde Null' gab, ist laengst Allgemeingut. Wie ging die Delegitimation der alten und die Legitimation einer neuen Wertordnung genau vonstatten? Was wurde insbesondere aus dem Antisemitismus, der bis 1945 eine breite Traegerschaft in der deutschen Bevoelkerung besessen hatte?
Daniel Jonah Goldhagen macht es sich mit diesen Fragen (zu) leicht: "Wir", die zivilisierte Weltgemeinschaft der 90er Jahre, haetten mit "ihnen", den Deutschen der NS-Zeit, nichts gemeinsam. Im Jahr 1945 sei eine wundersame Verwandlung von genozidalen Verbrechern zu guten Demokraten geschehen.- M. Rainer Lepsius hat in einem Aufsatz von 1982 eine differenziertere Sicht vertreten: Die institutionelle Ordnung der neuen Bundesrepublik habe einen "Vorlauf" vor der politischen Kultur besessen. Politische Praxis, Einstellungen und Vorstellungen seien erst allmaehlich in dieses normativ praegende Gehaeuse hineingewachsen.- Ein weiteres, bis heute heftig umstrittenes Modell offerierte Hermann Luebbe 1983: Die "gewisse Stille", das Verschweigen der NS-Verbrechen bei gleichzeitiger formaler Distanzierung von ihnen, sei "das sozialpsychologisch und politisch noetige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevoelkerung in die Buergerschaft der Bundesrepublik Deutschland" gewesen. Alle diese Ansaetze koennen nur unzureichend beschreiben und erklaeren, wie in der Vermittlung von politischem System und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, von kollektiven Vorstellungen und individuellen Einstellungen eine demokratische politische Kultur entstehen konnte, die den Antisemitismus als 'kulturellen Code' ueberwand.
Hier setzt nun eine neue Studie von Werner Bergmann an, der sich seit Jahren mit den gewandelten Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Bundesrepublik beschaeftigt (vgl. etwa seinen mit Rainer Erb verfassten Beitrag "Kommunikationslatenz, Moral und oeffentliche Meinung", in: KZfSS 38/1986, S. 223-246). Die Arbeit, an der FU Berlin als soziologische Habilitationsschrift angenommen, gehoert zu den aktuellen Analysen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus, die sich auf einem soliden theoretischen und empirischen Fundament bewegen, statt vordergruendig nach ge- oder misslungener 'Vergangenheitsbewaeltigung' zu fragen. (Neben Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, Muenchen 1996, ist in diesem Zusammenhang v.a. auf Michael Schwab-Trapp, Konflikt, Kultur und Interpretation, Opladen 1996, zu verweisen.)
Gemeinhin gelten Buecher, die mit ueber 50 Seiten "Problemstellung und theoretischer Rahmen" beginnen, nicht gerade als spannend - Bergmann gelingt es aber ausgezeichnet, die methodisch reflektierte Analyse mit dem erklaerenden Erzaehlen zu verbinden. Verkaufserfolge wie Goldhagen wird er damit kaum erzielen, doch legt er ein fuer alle Sozialwissenschaftler und -wissenschafterinnen vorbildliches Standardwerk vor.
Thematisch geht es ihm nicht allein um den Antisemitismus, sondern um die Funktionsbedingungen demokratischer politischer Kultur in einem weiteren Sinne. Bergmann greift dabei auf verschiedene theoretische Konzepte und Leithypothesen zurueck, die er zu einem eigenstaendigen Ansatz verbindet: In der 'Bonner Republik' (1949-1989) sei ein tiefgreifendes 'Remaking' der politischen Kultur noetig gewesen, unter der er neben individuellen Einstellungen vor allem kollektive Weltbilder versteht. Auf der Ebene der oeffentlichen Artikulation sei der Antisemitismus bereits fruehzeitig diskreditiert gewesen; die Spannung zum zunaechst fortbestehenden privaten Antisemitismus habe sich aber erst im Verlauf einer jahrzehntelangen "Konfliktgeschichte" (S. 495) entschaerft. Der Generationswandel sei zwar ein wichtiger, jedoch kein hinreichender Erklaerungsfaktor fuer die Etablierung eines anti-antisemitischen Normensystems. Vielmehr muesse man bei oeffentlichen Kontroversen um den Nationalsozialismus ansetzen und untersuchen, welche Veraenderungen in gesellschaftlichen Teilbereichen wie Politik, Recht, Erziehung, Religion und Wissenschaft solche Debatten ausgeloest haetten. Bergmann kombiniert systemtheoretische Elemente mit soziologischen Forschungsansaetzen zu politischen Skandalen und zum kollektiven Lernen, um den quantitativen Rueckgang der individuellen antisemitischen Einstellungen aus dem Kontext gesellschaftlicher Einfluesse zu erklaeren.
Eine entscheidende Rolle komme den Massenmedien und insbesondere der Publizistik zu: Als Beobachter politischer und kultureller Vorgaenge versuche die "Prestigepresse" Missstaende zu definieren und zu skandalisieren. Sie biete der Diskussion ein Forum und agiere zugleich selbst als beteiligte Konfliktpartei. Typologisch lasse sich unterscheiden, ob eine Debatte vom politischen System oder von den Medien ausgehe; gemeinsam seien derartigen Kontroversen aber die Medienfunktionen der Thematisierung, Strukturierung und Bewertung. Die oeffentliche Wahrnehmung eines 'Skandals' entstehe nicht aus dem Geschehen selbst, sondern erst aus dem konkreten Zusammentreffen von gesellschaftlicher Konstellation, politischer Situation und publizistischer Bearbeitungsform. Die Einstufung von Vorkommnissen als 'Skandal' erhelle daher die jeweiligen Bedingungen der politischen Kultur; sie sage ueber die Werte und Normen der Skandalisierer ebensoviel aus wie ueber das Streitobjekt.
Aus diesen Ueberlegungen zur Soziologie der Oeffentlichkeit, die hier nur angerissen werden koennen, ergibt sich Bergmanns Quellenmaterial: Die empirischen Konfliktanalysen stuetzen sich hauptsaechlich auf Berichte und Kommentare in FAZ, WELT, FR, SZ, ZEIT und SPIEGEL. Untersucht werden nicht vorrangig die zeitgeschichtlichen Hintergruende der einzelnen 'Faelle', sondern ihre ueberregionalen "Bearbeitungsformen" (S. 506) in einer breiten Oeffentlichkeit. Um die institutionellen Folgewirkungen der Konflikte zu belegen, zieht der Autor ausserdem Lehrplaene, Gesetze, Gerichtsurteile etc. heran. Fuer die dritte Untersuchungsebene, den individuellen Einstellungswandel, werden Daten der demoskopischen Antisemitismusforschung ausgewertet. Eine Staerke der Analyse liegt darin, dass der Autor die Umfragemethoden quellenkritisch beleuchtet, d.h. Art und Wandel der Fragestellungen selbst als Ausdruck eines gesellschaftlichen Diskussionsstands interpretiert.
Die Vorgehensweise, Einstellungsaenderungen auf Medienwirkungen zurueckzufuehren, beruht auf zwei ergaenzenden Praemissen: Das publizistische Forum nehme auch und gerade auf kollektive Akteure Einfluss, deren Organisationslernen bisher zu wenig beruecksichtigt worden sei. Des weiteren habe die Situation eines 'Antisemitismus (fast) ohne Juden' vorgelegen, so dass die mediale Praesentation des Judentums bedeutsamer gewesen sein duerfte als die unmittelbare Erfahrung.
Zu welchen Ergebnissen fuer den Stellenwert des bundesdeutschen Antisemitismus fuehrt nun dieser Analyserahmen? Bergmann macht auf vier Phasen aufmerksam, in denen sich Konflikte verdichteten: 1949-1952, 1958-1961, 1976-1979, 1984-1988. Er orientiert sich also nicht einfach an politischen Zaesuren wie 1955, 1968 oder 1982; vielmehr gewinnt er eine eigenstaendige Periodisierung aus dem Gegenstandsbereich. So kann Bergmann etwa belegen, dass das Umfeld von '1968' mit seiner faschismus- und kapitalismuskritischen Stossrichtung kaum zu gesellschaftlichen Argumentationen ueber den Antisemitismus fuehrte. Auch die fruehere Annahme, dass der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) die erste wichtige Zaesur der bundesdeutschen Erinnerungskultur markiere, muss nun revidiert werden.
Fuer die erste genannte Phase war die Thematisierung von direkten Hypotheken des NS-Staats charakteristisch. So wurde im Fall des Filmregisseurs Veit Harlan diskutiert, welchen ursaechlichen Anteil an der Judenverfolgung die Propaganda eingenommen habe und wie mit belasteten Personen im Nachkriegsdeutschland umzugehen sei. Schon 1950 entfalteten die Proteste gegen Harlan eine erstaunliche Mobilisierungskraft, doch blieb die oeffentliche Skandalisierung vorerst partiell. Auf individueller Ebene nahmen antisemitische Haltungen zwischen 1949 und 1952 sogar zu. Gegenueber deutschen Kriegstoten und Vertriebenen waren die Juden in der 'Opferhierarchie' klar nachrangig. Auffaellig ist zudem, dass die Kontrahenten in der prinzipiellen Existenz einer 'Judenfrage' uebereinstimmten.
Nach einer "Phase der Nichtthematisierung" (S. 187) waren die Jahre 1958 bis 1961 von antisemitischen Vorkommnissen gekennzeichnet, die ueber Einzelfaelle hinaus zur Kritik am Verhalten staatlicher Instanzen fuehrten. Als etwa ein Studienrat einem juedischen Textilhaendler beim Kneipengespraech sagte, dieser sei bei der Vergasung offenbar vergessen worden ("Fall Zind" 1957/58), warf die oeffentliche Meinung eine Grundfrage auf: Wie war ein Bildungswesen beschaffen, das einen stolzen Judenmoerder mit Erziehungsaufgaben betraute? Die Justiz hatte inzwischen aus frueheren Faellen gelernt und verhaengte mit generalpraeventiver Absicht eine Haftstrafe, die zugleich das Beamtenverhaeltnis des Lehrers beendete. Eine noch heftigere Skandalisierung rief die antisemitische Schmierwelle von 1959/60 hervor, die bereits vor dem Hintergrund einer beginnenden gesellschaftlichen Selbstreflexion stattfand. In dieser Phase wurden einzelne Konsequenzen gezogen - z.B. mit einer differenzierteren Darstellung des Judentums in Schulbuechern sowie einem Gesetz gegen Volksverhetzung. Andererseits ist bezeichnend, dass die am 8. Mai 1960 eintretende Verjaehrung von nationalsozialistischen Totschlagsdelikten keine nennenswerte Debatte hervorrief. Der weitere Verlauf der 60er Jahre zeigte, dass die anti-antisemitische Kommunikationsnorm in der oeffentlichen Arena unstrittig war. Nun gab es die ersten rein publizistischen (Feuilleton-)Konflikte, in denen es um die angemessene Thematisierung der NS-Zeit und nicht mehr um konkrete politische oder juristische Massnahmen ging. Allmaehlich wirkte sich auch positiv aus, dass das Institutionslernen die Sozialisationsbedingungen veraenderte: Waehrend die Schueler der 50er Jahre kaum etwas ueber die NS-Zeit erfahren hatten, zeichnete sich in den 60er Jahren ein Wandel ab. Dass es gegen Ende der Dekade zu einem erkennbaren Einstellungswandel kam, interpretiert Bergmann als zeitversetzte, indirekte Folge der Kontroversen von 1958 bis 1961.
In der Konfliktkonstellation der 70er Jahre deutete sich die Historisierung des Nationalsozialismus als neues Problemfeld an. So wurde 1977 eine Debatte um den Antisemitismus der 'zweiten Generation' gefuehrt, nachdem Studenten der Bundeswehrhochschule Muenchen eine symbolische 'Judenverbrennung' veranstaltet hatten. Dies warf die Frage auf, ob es sich um einen Einzelfall, um ein Traditionsproblem der Bundeswehr oder um ein gesamtgesellschaftliches Symptom handle. (Die damaligen Argumente klingen 1997 sehr vertraut - Herrn Ruehe sei die Lektuere des Kapitels besonders empfohlen!) Fuer den oeffentlichen und privaten Umgang mit Antisemitismus war zweifellos der Film "Holocaust" das markanteste Ereignis dieser Phase. Kurzfristig trug er dazu bei, dass die Verjaehrung von Mord 1979 aufgehoben wurde; mittelfristig bewirkte er eine Selbstreflexion vor allem des Verhaeltnisses der christlichen Kirchen zum Judentum; langfristig veraenderte er die Einstellungen dahingehend, dass die Judenvernichtung als d a s konstitutive Merkmal des NS-Staats betrachtet wurde.
Die zweite Haelfte der 80er Jahre stand schliesslich im Zeichen wiederholter Debatten um ein adaequates Gedenken. Bergmann arbeitet deutlich heraus, dass die "Sensibilitaets- und Skandalisierungsschwelle" (S. 471) gegenueber frueheren Jahren niedriger lag. Gewandelt hatte sich nicht allein die Wahrnehmung 'des' Antisemitismus, sondern auch die gesellschaftliche Definition dessen, was als 'antisemitisch' galt. Die Zusammenschau mehrerer Affaeren, die bisher nur isoliert betrachtet wurden, laesst erkennen, dass der Jenninger-Ruecktritt vom November 1988 eine Kulmination der vorangegangenen Konflikte darstellte. Bei vielen Beteiligten rastete laut Bergmann das vorgeformte Deutungsschema 'mangelhafte NS-Bewaeltigung' ein, was die rasche Demission des Bundestagspraesidenten erzwang. Mit wachsendem Zeitabstand nahm der Skandalisierungserfolg dagegen wieder ab und machte einem differenzierteren Urteil Platz. Neben solchen Interpretationskonflikten um Stilfragen gab es in den 80er Jahren erneut Affaeren, bei denen ein eklatanter Antisemitismus manifest wurde. So erklaerte 1986 der CDU-Buergermeister von Korschenbroich, Graf von Spee, man muesse zur Haushaltssanierung "ein paar reiche Juden erschlagen". Sein Ruecktritt war jedoch unausweichlich, und eine aktuelle Stunde des Bundestags befestigte den parteiuebergreifenden Normenkonsens des Anti-Antisemitismus.
Bergmann gelangt zu einem differenzierten Gesamturteil: Einerseits koenne die konflikthafte bundesdeutsche Beschaeftigung mit dem Antisemitismus grosso modo als Erfolgsgeschichte gelten. Institutionen und kulturelle Eliten grenzten sich vom Nationalsozialismus mit grosser Entschiedenheit ab. Vermittelt ueber gesellschaftliche Teilsysteme, habe dies nicht nur die NS-Ideologeme aus dem oeffentlichen Raum verdraengt, sondern auch einen individuellen Einstellungswandel bewirkt. Andererseits gebe es Warnzeichen - mit guten Gruenden tendiert Bergmann nicht dazu, das kollektive Lernen als linearen Erkenntniszuwachs zu konzipieren. Im oeffentlichen Meinungsklima seien mehrfach Stagnations- und Regressionsphasen zu beobachten gewesen, und der Topos von der 'Macht der Juden' finde sich selbst in den 80er Jahren. Nach der deutschen Einheit sei auf der Einstellungsebene eine Trendwende zu befuerchten: 1983 hielten es 9 % der Befragten fuer besser, keine Juden in Deutschland zu haben, 1992 waren es 18 % (S. 477). Zudem nimmt Bergmann einen harten Kern von ca. 5 % antijuedisch orientierten Bundesbuergern an, der argumentativ nicht zu erreichen sei.
Schliesslich formuliert er eine These mit weitreichenden Konsequenzen: Durch die thematische Fokussierung auf die juedischen Opfer sei der Antisemitismus erfolgreich marginalisiert worden, doch gebe es ein weit groesseres Potential an ethnozentrischen und xenophoben Orientierungen, das nicht unbedingt antisemitisch sei. Die paedagogische Annahme, historische Aufklaerung ueber die Judenvernichtung sensibilisiere zugleich fuer andere Bedrohungen der Humanitas in der Gegenwart, erweist sich offenbar als unzureichend. Fuer die neue Situation nach 1989/90 waere in Anknuepfung an Bergmanns politisch und wissenschaftlich gleichermassen verdienstvolle Studie zu fragen, welches Erbe die ehemalige DDR in die politische Kultur der 'Berliner Republik' einbringt. Wie vollzog sich der Formwandel des Antisemitismus in einem Staat, der sich formal ebenfalls vom Antisemitismus abgrenzte, der die konflikthafte Verstaendigung ueber Geschichte aber nicht nutzen konnte bzw. wollte? Da verlaessliche Umfragedaten fuer die DDR nicht vorliegen, koennen moegliche Antworten nur Versuchscharakter haben. Dennoch ist die Frage zentral, um sich der Hypotheken fuer den geschichtspolitischen Einigungsprozess bewusst zu sein.
Bergmanns Monographie ist ein weiter Leserkreis zu wuenschen. Ein gewisser redaktioneller Mangel ist darin zu sehen, dass fuer den Lesefluss wichtige Informationen ueber antisemitische Vorfaelle, anschliessende Gerichtsurteile etc. oftmals in die Fussnoten abgedraengt sind. Bei Neuauflagen waere zudem ein Register wuenschenswert. Um das recht teure Werk auch unter Studierenden zu verbreiten, koennte es vielleicht in das Programm der Bundeszentrale fuer politische Bildung aufgenommen werden. Dort waere es eine sinnvolle Ergaenzung zu dem Titel "Vorurteil und Voelkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus" (Bonn 1997), bei dem Bergmann als Mitherausgeber fungiert.