M. Schüring: »Bekennen gegen den Atomstaat«

Titel
»Bekennen gegen den Atomstaat«. Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970–1990


Autor(en)
Schüring, Michael
Reihe
Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge 31
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Hamburger Institut für Sozialforschung

Im April 1979 sollte der unter anderem wegen Landfriedensbruch verurteilte Helmut Oldefest seine Haft in Hamburg-Fuhlsbüttel antreten. Die ihn begleitenden Freunde nutzten jedoch die Gelegenheit und besetzten spontan die in der größten Einkaufsstraße der Stadt gelegene St.-Petri-Kirche. Unter den Besetzern war auch eine ganze Reihe evangelischer Pastoren, die gegen das als politisch motiviert geltende Urteil protestierten. Oldefest hatte angeblich schwere Körperverletzung begangen während der sogenannten „Schlacht von Grohnde“. Schon die mythische Zuspitzung in der Bezeichnung der gewalttätigen Auseinandersetzungen während der Proteste gegen den Bau des Kernkraftwerkes im niedersächsischen Grohnde im März 1977 zeigt an, wie vielschichtig sowohl Praktiken als auch Diskurse der Anti-Atom-Bewegung waren. Der Wissenschaftshistoriker Michael Schüring schildert in seiner Monographie unter anderem die Ereignisse in Grohnde, um den innerkirchlichen Konflikt in Fragen der Atomenergie zu erklären und auf seine theologischen Bezüge zu befragen. So zeigen sich wirkmächtige Friktionen innerhalb einer der größten gesellschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik: Die St.-Petri-Kirchenbesetzer zerstritten sich jedenfalls bald, die Kirchenleitung schaltete sich vehement ein, und die Gemeinde reagierte zunehmend ungeduldig.

Schüring geht solchen Konfliktkonstellationen detailliert nach und stützt sich dabei auf die reichhaltige Überlieferung landeskirchlicher Archive und des evangelischen Zentralarchivs in Berlin. Seiner präzise gestellten Frage, „warum sich eine große[,] gesellschaftlich fest verankerte und teilweise staatstragende religiöse Gemeinschaft wie die evangelische Kirche überhaupt mit dem Thema befasste und im Laufe von knapp zwei Jahrzehnten schließlich eine ablehnende Haltung zur Atomtechnologie einnahm“ (S. 7 und S. 287), folgt eine ebenso dezidierte These: Die kulturelle Codierung des Atomenergie-Konfliktes habe sich als außerordentlich anschlussfähig für innerkirchliche Diskursfelder erwiesen, wozu technische, ökologische, theologische, politische und ethische Argumentationen zählten, in denen handlungsleitende Schlüsselbegriffe wie „Schöpfungsverantwortung“, „Bekenntnis“ oder „Lebensrecht“ den Diskurs geprägt hätten (S. 8).

Schürings Arbeit zeichnet sich durch profunde Kenntnis der genannten innerkirchlichen Themengebiete aus, und hierin liegt auch die große Stärke des Bandes. Die Einordnung in die jüngere Zeitgeschichte „nach dem Boom“ konzentriert sich vor allem auf die für die 1970er-Jahre festgestellte Zunahme von Umweltängsten und Endzeitwahrnehmungen (S. 17). Schüring argumentiert ganz aus den Kirchenquellen, verbunden mit intellektuellen Referenzen der Zeit. Leser/innen, die sich in der Chronologie der Protestereignisse oder in der gesellschaftspolitischen Geschichte der Bundesrepublik nicht auskennen, werden Schwierigkeiten mit der Lektüre haben. Denn nur in systematischer Weise arbeitet sich Schüring durch das Material, um etwa die Protestereignisse in Wyhl, Brokdorf oder Grohnde aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. So werden innerkirchlich vorgebrachte Geltungsansprüche auf theologische Legitimation deutlich, wobei der Autor sich die Aufgabe stellt, „mit den theologischen Aussagen“ zu argumentieren, „ohne theologisch zu argumentieren“ (S. 21). Dies gelingt überzeugend, ohne dass der normative Anspruch aufgegeben wird, die stärkende Funktion des innerkirchlichen Konfliktes für die Großinstitution zu belegen.

Auf mehreren Ebenen wird der Konflikt an seine inhaltlichen Bezüge in Kirche, evangelischer Theologie und im Christentum rückgebunden. Die „weltanschaulichen Voraussetzungen“ konzentrieren sich auf Apokalyptik, Todesfurcht bzw. -vergessenheit und Schöpfungsbewahrung – Bezüge, die aus Arbeiten über die sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre bekannt sind und die religiöse Codierung des Konfliktes um die Atomenergie belegen. Schüring überprüft hier nun ihren eschatologischen Gehalt, womit die zeitgenössische Herausforderung kirchlicher „Mahner und Rufer“ deutlich wird, zur Umkehr bewegen zu wollen, ohne einem Endzeitkult das Wort zu reden. Im kirchlichen intellektuellen Diskurs standen somit die eigene Rolle in der modernen Weltgestaltung und das damit einhergehende „gestörte Naturverhältnis“ im Mittelpunkt (S. 82). Deutlich wird, dass sich die theologisch begründete Zivilisationskritik nicht unisono in die politische Diskussion der kirchlichen Aktiven übersetzte, sondern dort auf disparate Begründungszusammenhänge traf.

Im Abschnitt „Die politische Kirche“ verbindet Schüring die intellektuell-theologische Debatte mit den Forderungen und Vorstellungen von Seiten kirchlicher Akteure. Dazu bieten sich drei Diskussionsfelder an, in denen sich das Maß der Politisierung unterschiedlicher Teile der Kirche abzeichnete: zuvorderst die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, gefolgt von den Befürchtungen innerer Spaltungstendenzen sowie schließlich der Abwägung zwischen „Gewalt, Disziplin und Gemeinsinn“ (S. 137). Die geschichtspolitische Dimension der Anti-AKW-Bewegung wies in der evangelischen Kirche spezifische Bezüge auf, bot sich doch mit der Erinnerung an die „Bekennende Kirche“ das Bild vom theologisch begründeten Widerstand gegen staatliche Maßlosigkeit. Aber der Übergang in die „Opferrolle“ war fließend, Analogien mit NS-Opfern nicht unüblich – dramatisch belegt durch die Selbstverbrennung des Tübinger Lehrers Hartmut Gründler im Herbst 1977 in Hamburg (während des dortigen SPD-Bundesparteitages). Schüring gelingt es, das innerkirchliche Changieren und Suchen nach überzeugenden Belegen für einen politischen Aktivismus, der auch eine hoffnungsvolle Erwartungshaltung transportiert, detailliert nachzuzeichnen. Wie sehr dieser Konflikt zugleich Teil einer übergreifenden Staats- und Demokratiedebatte in der Bundesrepublik war, deutet sich immer wieder an – nicht zuletzt durch Hinweise auf die Wirkkraft von Robert Jungks Interpretationsvorlage „Der Atomstaat“ (1977) oder auf die 1985 von der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte Demokratie-Denkschrift, in der der Atomprotest als legitime Willensäußerung bestimmt wurde. Darüber hinaus nimmt Schüring jedoch keine relationale Verortung innerhalb der westdeutschen Situation vor. Sogar die Wechselwirkungen etwa mit der katholischen oder der internationalen Kirche werden auf seltsame Weise erst am Ende der gesamten Ausführungen angehängt, im Kapitel „Vergleichsperspektiven“.

An zahlreichen Beispielen kann Schüring belegen, wie schwer sich Kirchenleitungen mit den wachsenden Forderungen innerhalb ihrer Institution taten und dass gleichzeitig zwischen Gemeinde-, Landes- und Zentralebene der Kirche unterschieden werden muss. Im Konflikt verschoben sich die Parameter zur Beurteilung von politischem Protest, so dass letztlich bei den Ereignissen in Tschernobyl 1986 die Amtskirche ohne Probleme eine Stellungnahme gegen Atomkraft verfassen konnte. Im Abschnitt „Die neue Protestkultur“ zeichnet Schüring den Weg von den Protesten gegen die AKWs in Brokdorf und Grohnde Mitte der 1970er-Jahre bis zu Tschernobyl und seinen Folgen noch einmal an den Elementen neuartiger kirchlicher Interventionen nach. Dazu zählten sowohl ein spezifischer Stil in der technischen Debatte, verschiedene Orte bzw. kirchliche Einrichtungen, an denen diese Debatte geführt wurde („Kirche als Bühne“) sowie „Symbolik, Stil und kulturelle Ausdrucksformen“, die sich in den Protesten durchsetzten.

Alles in allem ist dem Autor eine sehr gut lesbare und intensive Auseinandersetzung mit kirchlicher Zeitgeschichte gelungen. Die Stärke der dichten, ganz an den Quellen orientierten Beschreibung und Erklärung ist zugleich eine Schwäche des Buches. Veränderungen und Meinungsverschiebungen, die schließlich auch die offizielle Haltung von Beiräten und zentralen Einrichtungen der Kirche beeinflussten, werden als endogener Prozess der Selbstverständigung erläutert. Lässt man sich auf diese Perspektive ein, bietet die Untersuchung reichhaltiges Material für eine Institutionengeschichte. Jedoch irritiert im Verlauf der Lektüre nicht nur die spärliche Einordnung in den übergreifenden zeithistorischen Kontext, sondern es fallen auch die fehlenden Bezüge zur Forschungsliteratur auf. Gerade weil der Autor nicht aus dem engeren Kreis der kirchlichen Zeitgeschichte kommt, hätte man dazu mehr erwartet. Wenn Schüring etwa das Konzept der „legitimen Gewalt gegen Sachen“ anreißt, erfahren Leser/innen nichts über die Forschung zur weit über die sozialen Bewegungen hinausreichenden Debatte um das Verhältnis von Gewalt und Demokratie.1 Stattdessen finden sich unbelegte verallgemeinernde Aussagen etwa über K-Gruppen (S. 142) oder über alternative Protestkultur (S. 162).

Diese Blindstellen können eine Folge der Untersuchungs- und Darstellungsweise sein, die als Diskursanalyse angekündigt ist, womit jedoch das grundlegende Problem umso deutlicher wird. Schürings Diskursbegriff orientiert sich zum einen an der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas), also der dialogischen Aushandlung individueller Geltungsansprüche mit Aussicht auf Konsensbildung, und zum anderen, dies eher implizit, an einem zivilisierungstheoretischen Konfliktbegriff. Diese Vorannahmen stützt der Autor überwiegend mit internen schriftlichen Begründungszusammenhängen, anhand derer das „Lernen“ des „kommunikativen Handelns“ belegt werden soll. Die im Titel genannten „Konflikte um die Atomenergie“ interpretiert Schüring somit nur als Durchgangsstadien zum „Mentalitätswandel“ (S. 205) in der Kirche und nicht als konstitutives Element institutioneller Logik mit widerstreitenden Wirkungen und Außenbezügen. Er beantwortet somit die Frage, warum sich die evangelische Kirche mit Atompolitik beschäftigte und ihre Haltung zwischen 1970 und 1990 veränderte, erklärt aber weniger, welche Bedeutung dieser Vorgang innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzung hatte.

Anmerkung:
1 Z.B. Karrin Hanshew, Terror and Democracy in West Germany, Cambridge 2012; rezensiert von Gabriele Metzler, in: H-Soz-Kult, 04.07.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20154> (09.03.2016).

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