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Titel
Governance in der Planwirtschaft. Industrielle Führungskräfte in der Stahl- und Textilbranche der SBZ/DDR (1945–1958)


Autor(en)
Boldorf, Marcel
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 18
Erschienen
Anzahl Seiten
281 S., 17 Tab.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Leipzig

Die Studie untersucht an ausgewählten traditionsreichen Betrieben der Stahl- und Textilindustrie verschiedene Einflüsse auf die Kaderpolitik in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1958. Ausgehend von dem Befund, dass die Entnazifizierung nur eine geringe Auswirkung auf die tatsächliche Zusammensetzung der Betriebsleitungen gehabt habe, arbeitet Boldorf weitere Faktoren wie innerbetriebliche Kampagnen und materielle Anreize heraus, die bis 1958 den politisch erwünschten Elitenwechsel in strategisch wichtigen Branchen der DDR-Planwirtschaft forcierten. Die Darstellung orientiert sich an den bewährten Zäsuren der Sequestrierung im Herbst 1945, der Bildung volkseigener Betriebe 1948 und dem Beginn des ersten Fünfjahrplans 1951.

Der Titel legt eine methodische Einbindung planwirtschaftlich geführter Betriebe der DDR in das übergreifende unternehmensgeschichtliche Governance-Konzept nahe, das insbesondere bei der Neubewertung unternehmerischen Handelns im Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung gewesen ist.1 Diese Erwartung wird allerdings nicht erfüllt, was nicht zuletzt an der gewählten Perspektive der Studie liegt. Ausgehend von der politischen „Säuberung unter den wirtschaftlichen Führungskräften der SBZ/DDR“ untersucht Boldorf die „politischen Kräfteverhältnisse innerhalb und außerhalb der Betriebe“ (S. 11). Der Bezug auf das Governance-Konzept fällt dabei allerdings zurückhaltend aus: Boldorf verzichtet darauf, den Begriff methodisch abzuklopfen. Er greift zurück auf Erich Gutenbergs aus den 1960er-Jahren stammenden „Katalog echter Führungsentscheidungen“ (S. 13), der spätestens ab 1948 in den Volkseigenen Betrieben in der SBZ/DDR sukzessive verdrängt und ausgedünnt worden sei. Dieser Zugriff führt – folgerichtig, aber wenig überraschend – zur Feststellung einer „Entökonomisierung der Werkleitungen“ (S. 71).

Problematisch ist die streckenweise unzureichende Beschreibung des Forschungsstandes. Boldorfs Behauptung, die Unternehmensgeschichte habe „mit ihren vielfältigen Fragestellungen in der DDR-Forschung noch nicht recht Fuß fassen“ (S. 12) können, widerlegt er durch sein Literaturverzeichnis noch selbst. Indes ist die „Hinzuziehung von Akten der staatlichen und parteilichen Kontrollorgane“ keineswegs „neues Terrain“ (S. 15), sondern in der Forschung zur DDR-Planwirtschaft gut etabliert, und zur wirtschaftlichen Entwicklung der SBZ in der unmittelbaren Nachkriegszeit liegen ebenfalls schon seit längerer Zeit Studien vor.2

Die Einschränkungen sollen aber nicht den Blick für die Stärke der Arbeit verstellen. Diese liegt in Boldorfs Fähigkeit, von einzelnen Betrieben ausgehend zu belastbaren Aussagen über die Branchenentwicklung insgesamt und deren Relevanz für betriebliche Handlungsspielräume unter den Bedingungen der Planwirtschaft in der DDR zu gelangen. Bereits die Branchen sind sinnvoll ausgewählt: Während die Stahlindustrie relativ rasch zu den begünstigten Wirtschaftszweigen in der DDR zählte, räumte die Planbürokratie „der Textilindustrie einen ungleich geringeren Stellenwert ein“ (S. 19). Entsprechend unterschiedlich verteilten sich zwar die knappen Investitionsmittel, indes blieb die kaderpolitische Aufmerksamkeit ungeteilt.

Kaderpolitik bildete ein wesentliches Moment bei der Durchsetzung der Planwirtschaft, und Boldorf arbeitet die Voraussetzungen und die Vielschichtigkeit der kaderpolitischen Anstrengungen der kommunistischen Machthaber heraus. Auch wenn manche Karriereverläufe nur sehr knapp geschildert werden, liegt hier ein wichtiges Potenzial der Studie. Betriebsführer wie Friedrich Franz (S. 98–103) oder Herbert Sedlaczek (S. 192–197) – beide NSDAP-Mitglieder und in der deutschen Kriegswirtschaft tätig, nach 1945 als SED-Mitglieder wesentlich am Aufbau der Stahlindustrie in der SBZ beteiligt – stellten eine Anpassungsfähigkeit unter Beweis, die bis in die 1950er-Jahre hinein eine bedeutende kaderpolitische Ressource der DDR-Planwirtschaft darstellte.

Erkennbar wird bei Franz und Sedlaczek auch, wie willkürlich die politischen Instanzen den Kriegsverbrechervorwurf gegenüber temporär unverzichtbaren Wirtschaftsfunktionären verwendet haben. Franz war in den 1940er-Jahren Direktor zweier lothringischer Stahlwerke gewesen und blieb nach 1945 für den Wiederaufbau der Stahlwerke in Unterwellenborn und Brandenburg/Havel unverzichtbar. Sedlaczek, in den 1940er-Jahren im Vorstand der Hüttenwerke in Thale und Gleiwitz, wurde für seine Verdienste beim Aufbau des Stahlwerkes Unterwellenborn zwar 1949 mit dem Deutschen Nationalpreis II. Klasse ausgezeichnet, sah sich aber bereits ein Jahr später durch ein „Klima der Angst“ (S. 195) genötigt, nach Westdeutschland zu fliehen.

Die Kontinuität im Führungshandeln von den Improvisationen der Kriegswirtschaft zur Kompensation planwirtschaftlicher Systemdefekte ist für die Etablierung der DDR-Planwirtschaft nicht zu unterschätzen und lässt sich mit dem Governance-Konzept gewinnbringend untersuchen.3 In den 1950er-Jahren ermöglichte die betriebliche Kaderpolitik der SED dann sukzessive das angestrebte Funktionärsethos, in dem fachliche Expertise und politisches Fingerspitzengefühl miteinander verschmolzen. Der neuen Generation sozial motivierter, ideologisch zuverlässiger und politisch versierter Betriebsdirektoren gelang es immerhin, die zerklüftete Planwirtschaft wenigstens personell zu stabilisieren.

Boldorfs Studie bietet mit dieser Perspektive gute Ansätze, um die DDR stärker als bisher in eine deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu integrieren. Wenn man mit Ulrich Herbert Nationalsozialismus und Kommunismus als „andere Entwürfe zur Ordnung der modernen Welt“ begreift, in denen „der liberale Dreiklang aus freier Wirtschaft, offener Gesellschaft und wertbezogenem Universalismus auf je spezifische Weise durchbrochen“4 worden sei, dann wird erkennbar, wie tief die planwirtschaftlichen Anstrengungen in der DDR in Entwicklungstendenzen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt gewesen sind.

An dieser Frage wird allerdings auch die Grenze von Boldorfs methodischem Ansatz sichtbar. Die als Grundlage seiner Analyse hervorgehobenen „Werte, Regeln und Grundsätze der betrieblichen Governance“ (S. 17) waren Mitte des 20. Jahrhunderts gerade keine sakrosankten Regeln unternehmerischen Handelns, sondern standen in einem seit den 1930er-Jahren heranreifenden, ordnungspolitischen „Paradigmenwechsel“5 durchaus zur Disposition. Die in der SBZ an die Macht gelangenden Kommunisten motivierte keine „Geringschätzung ökonomischen Wissens“ (S. 71), sondern die Gewissheit, im Besitz eines überlegenen Konzepts von Ökonomie und gesellschaftlicher Planung zu sein.

Es ist daher zumindest fraglich, ob hier von einer „Entökonomisierung“ gesprochen werden kann. Die politische Markierung betrieblicher Räume lässt sich für die sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas auch als eine unverzichtbare Voraussetzung gerade für die Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft verstehen. Dies würde den hohen Stellenwert wirtschaftlicher Argumente und Schlagworte bei der gesellschaftlichen Mobilisierung im „Aufbau des Sozialismus“ verständlicher machen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Jonas Scherner, Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008, sowie Norbert Frei / Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010.
2 Zum Beispiel Gerd R. Hackenberg, Wirtschaftlicher Wiederaufbau in Sachsen 1945–1949/50, Köln 2000.
3 Siehe hierzu noch immer die anregenden Fallstudien in Paul Erker (Hrsg.), Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten, München 1999.
4 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 18.
5 Gerold Ambrosius, „Sozialistische Planwirtschaft“ als Alternative und Variante in der Industriegesellschaft – die Wirtschaftsordnung, in: André Steiner (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006, S. 11–31, hier S. 12.

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