B. Bichler: Angestelltenbewegung im Kaiserreich

Titel
Die Formierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911.


Autor(en)
Bichler, Barbara
Reihe
Muenchener Studien zur neueren und neuesten Geschichte 18
Erschienen
Frankfurt am Main 1997: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
DM 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Müller-Koppe, Fachbereich 8, Universität Bremen

Barbara Bichler nimmt mit ihrer Dissertation ueber die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911 ein Thema in den Blick, dessen historische Bedeutung nicht zuletzt aufgrund der Sperrigkeit der Materie leicht unterschaetzt werden kann. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich jedoch um mehr als um eine Fallstudie zu einem Spezialproblem der staatlichen Sozialpolitik im Kaiserreich. Die Analyse der bislang von der Forschung im Vergleich zur Entstehungszeit der "Bismarck`schen Sozialversicherung" stark vernachlaessigten Phase der Weiterentwicklung, Ausdifferenzierung und partiellen Revidierung der staatlichen Sozialpolitik zwischen 1900 und 1912 verspricht Erkenntnisse sowohl ueber die Grundmuster des deutschen Sozialstaats, als auch ueber die Bedingungen des "policy making" in dieser Spaetzeit des preussisch-deutschen Obrigkeitsstaates.

Mit der Angestelltenversicherung wurde die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten sozialpolitisch-institutionell so erfolgreich verfestigt, dass in Deutschland bis heute trotz aller Angriffe eine international einmalige Sonderverwaltung fuer die Sozialversicherung der Angestellten existiert: Eine Tatsache, die ueber die reine Institutionengeschichte hinaus mentalitaetsbildend gewirkt hat. Die Angestellten bewahrten bzw. entwickelten ungeachtet grosser gruppeninterner sozialer Differenzen ein Standesbewusstsein, das sich in Abgrenzung zu den Arbeitern konstituierte. Gleichzeitig wurden die Angestellten zum Leitbild fuer Teile der Arbeiterschaft, die nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung strebten.

Die Autorin beschreibt die Entstehung der Angestelltenbewegung und die politische Entstehungsgeschichte der Angestelltenversicherung auf breiter und sorgfaeltig ausgewerteter Quellengrundlage. Der erste Teil der Arbeit beschaeftigt sich mit der sozialen Lage der Angestellten, dem Selbst- und Fremdbild dieser neuen gesellschaftlichen Gruppe sowie mit der Formierung der Angestelltenbewegung. Die Einigung der heterogenen Angestelltenschaft zu einer gesellschaftlichen Gruppe und die politische Zusammenarbeit der Angestelltenverbaende gelang, wie Bichler richtig betont, erst im Prozess der Auseinandersetzung um eine von den Angestellten geforderte sozialpolitische Privilegierung. Dabei hatte die Bewegung ungeachtet der kontinuierlichen Zunahme ihrer sozialen Traegerschaft und dem hohen Organisationsgrad der Angestellten (Bichler geht trotz der von ihr diskutierten Schwierigkeiten bei der Glaubwuerdigkeit der vorhandenen Mitgliederstatistiken der Angestelltenverbaende von einem Organisationsgrad von 25-33% zwischen 1903 und 1908 aus) einen ausgesprochen defensiven Charakter. Erst der soziale Abstieg der Angestellten, so stellt die Autorin in Anknuepfung an eine 1979 von Wolfgang Hromadka aufgestellte These fest, erst "die Aussicht auf Gleichstellung mit den Arbeitern" (S. 46), habe den Wunsch nach besonderer Behandlung geweckt. In diesem Licht betrachtet stellt sich auch die Aufnahme des ideologisch aufgeladenen Begriffes des "neuen Mittelstandes" als Selbstbezeichnung der Angestellten weniger als Zeichen gesellschaftlichen Selbstbewusstseins, sondern mehr als politisch-strategisches Konzept dar.

Trotzdem war die von den im 1903 gegruendeten "Hauptausschuss fuer die gesetzliche Regelung der Pensions- und Hinterbliebenenversicherung der Privatangestellten" zusammengeschlossenen Angestelltenverbaenden initiierte Auseinandersetzung um die Angestelltenversicherung alles andere als ein Schwanengesang der Angestellten in Deutschland. Im Gegenteil: Sowohl diese Auseinandersetzung als auch die spaetere Existenz der Angestelltenversicherung hatten die Wirkung eines Katalysators. In der Kooperation entwickelten die Angestellten ein gemeinsames Selbstverstaendnis und durch die mit der Versicherung geschaffenen gemeinsamen Rahmenbedingungen glichen sich die Lebensbedingungen der Mehrheit der Angestellten einander an. Hier stimmt Barbara Bichler ausdruecklich den Thesen Reinhard Sprees und Michael Prinz` zu, wonach sich eine Angestelltenschicht erst nach Verabschiedung des Angestelltenversicherungsgesetzes entwickelt habe (S. 234).

Die eigentliche politische Entstehungsgeschichte des Angestelltenversicherungsgesetzes, die den zweiten Teil der Arbeit ausmacht, liest sich wie eine Erfolgsgeschichte effektiver Verbandspolitik. Dabei werden politisch-taktische und inhaltliche Differenzen zwischen den verschiedenen Verbaenden und Berufsgruppen keineswegs marginalisiert, sondern ausfuehrlich behandelt. Auf die Frage, wie eine zahlenmaessig relativ kleine und erst seit 1902/03 ueber zentrale Organisationsstrukturen verfuegende Gruppe der Gesellschaft gegen den erklaerten Willen der Mehrheit der Arbeitgeber und der Regierung ein solch wichtiges und zudem kostenintensives Gesetzesvorhaben durchsetzen konnte, gibt die Autorin mehrere Antworten.

Zum einen, und dieser Gesichtspunkt duerfte der entscheidende sein, waren die Angestellten fuer die Parteien, fuer Arbeitgeber und fuer die Regierung von strategisch wichtiger Bedeutung. Sie boten sich von sich aus als Bollwerk gegen die Arbeiterbewegung an. Ausdruecklich betonten die Angestelltenverbaende ihre Loyalitaet zu Staat und Gesellschaftsordnung, ihre Wirtschaftsfreundlichkeit und ihre Ablehnung der Sozialdemokratie. Da aber die soziale Lage vieler Angestellten sich von derjenigen der Arbeiter nur in Nuancen unterschied, war diese Naehe zum Buergertum gefaehrdet. Um die Angestellten nicht zu verprellen und einen Teil von ihnen damit wohlmoeglich dem "Heer der Unzufriedenen" zuzutreiben, meinten viele buergerliche Politiker, ihnen besondere soziale Privilegien zugestehen zu muessen. Diese strategische Orientierung im Regierungslager und innerhalb der Parteien wurde von manchen Angestelltenverbaenden zuweilen mit der unterschwelligen Drohung, bei gaenzlicher Ablehnung ihrer Forderungen nicht fuer die dauerhafte Loyalitaet ihrer Mitglieder garantieren koennten, bestaerkt.

Zum zweiten waren die Angestellten sich durchaus bewusst, dass ihre Bedeutung zwischen Buergertum und Arbeiterschaft wahlpolitisch weit ueber ihr eigentliches zahlenmaessiges Gewicht hinausging. Die Angestellten bildeten zunehmend das Zuenglein an der Waage, eine Tendenz, die sich durch ihre Konzentration in den grossen Staedten noch verstaerkte. Hier konnte die Sozialdemokratie nach 1900 nicht mehr geschlagen werden, wenn es nicht gelang, die Angestellten an die buergerlichen Parteien zu binden. Eindrucksvoll zeigt Barbara Bichler wie diese Position von den Angestelltenverbaenden in geradezu generalstabsmaessiger Art und Weise ausgenutzt wurde. Die Mehrheit aller Reichstagskandidaten wurde vor der Wahl schriftlich und oeffentlich zu den Forderungen der Angestellten befragt, ja geradezu auf diese verpflichtet. Besonders "kuemmerten" sich die Verbandsvertreter um solche Kandidaten, deren Wiederwahl zweifelhaft erschien. "Diese Abgeordneten seien zu den weitestgehenden Zugestaendnissen bereit", schrieb das Organ des Hauptausschusses vor der Wahl 1903 seinen Lobbyisten unumwunden ins Stammbuch (S. 114). Darueber hinaus wurden ausgesprochene Freunde der Angestelltenbewegung unter den Abgeordneten so intensiv wie irgend moeglich in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse der Angestelltenbewegung eingebunden. Ein solch modernes und erfolgreiches Nutzen der parlamentarischen Moeglichkeiten durch eine Interessengruppe war in der Zeit des Kaiserreiches weitgehend ohne Vorbild. Denn von den Angestellten wurden im Gegensatz zur Vertretung beispielsweise landwirtschaftlicher oder handwerklicher Interessen Parlamentarier aller Fraktionen, von den Konservativen bis zur Sozialdemokratie angesprochen. Die entscheidende Abstimmung vor der Reichstagswahl 1912 fiel dann bezeichnenderweise sogar einstimmig aus. Niemand wollte es sich mit den Angestellten verderben und die Regierung verzichtete angesichts des staerker werdenden Gewichts des Parlaments darauf, in einer Art Machtprobe das Gesetz zu stoppen. Schliesslich sei noch erwaehnt, dass sich die Angestelltenbewegung um eine zentrale, gemeinsame Forderung entwickelte. Diese Tatsache erhoehte ihre Handlungs- und Durchsetzungskraft zusaetzlich.

Der Autorin gelingt es, ueberzeugend darzulegen, wie erfolgreiche Interessenpolitik im Deutschen Kaiserreich funktionierte und warum die Angestelltenbewegung in der Lage war, grosse Teile ihrer Forderungen durchzusetzen. Ein grosser Pluspunkt der Untersuchung ist, dass der Gesetzgebungsprozess und die Formierung der Angestelltenbewegung hier im direkten Zusammenhang zueinander betrachtet werden und dass Bedingungsverhaeltniss beider Prozesse deutlich gemacht werden kann.

Unklar bleibt dagegen der Hintergrund der wechselnden Regierungspositionen zur Frage der eigenstaendigen Angestelltenversicherung. Auch wenn in den Akten des Reichsamts des Innern nur wenig Aufschlussreiches zu diesen Positionsaenderungen zu finden ist, kann es den Leser nicht befriedigen, wenn rein deskriptiv von "Meinungsumschwuengen" die Rede ist. Dass das Reichsamt nach anfaenglicher Ablehnung 1907 fuer die Angestelltenversicherung eintrat, dann aber seit 1909 wieder dagegen, haette zumindest hypothetisch bewertet werden muessen. Meiner Meinung nach war die Ablehnung der Regierung waehrend des gesamten Zeitraumes nicht so grundsaetzlicher Natur, wie Bichler meint.

Dass gilt vor allem waehrend der Zeit 1903-1907, als der Staatssekretaer Posadowsky die Vertreter der Angestelltenbewegung zwar bremste, aber nichtsdestotrotz zuliess, dass Vortragende Raete seines Reichsamtes die Angelegenheit wohlwollend-foerdernd bearbeiteten. Eine zentrale Rolle spielte hierbei Adolf Beckmann (der spaetere Vizepraesident der Reichsversicherungsanstalt fuer Angestellte), der gute persoenliche Kontakte zum Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband unterhielt und der als ausgewiesener Experte fuer die Statistik der Sozialversicherung die einschlaegigen Daten nachweislich zuweilen so "zurechtrueckte", dass sie die Argumente der Angestellten foerderten. Nach zufaellig wurde dieser Geheimrat Beckmann spaeter innerhalb der Angestelltenbewegung als "Vater der Angestelltenversicherung" verehrt. Leider bleibt aber die innerhalb des von der Regierung gesetzten Rahmen durchaus mit eigenen Interessen agierende Buerokratie bei Bichler gaenzlich ausserhalb der Betrachtung. Dabei war sie es, die zu allererst von dem Gesetz profitierte: Fuer die Angestelltenversicherung wurde eine Parallelverwaltung zur bestehenden Arbeiterversicherung geschaffen, die in Berlin innerhalb weniger Jahre hunderte Beamte beschaeftigte und die Steuerzahler zusaetzlich belastete.

Die Staerke der vorliegenden Untersuchung ist ohne Zweifel die dichte, quellengesaettigte Beschreibung. Dahinter bleiben die allgemeinen oder auch theoretischen Bewertungen jedoch deutlich zurueck. So ist es zum Beispiel nicht richtig, dass mit der Angestelltenversicherung das Aequivalenz- oder Versicherungsprinzip in der Sozialversicherung erstmalig zum Durchbruch gekommen waere. Auch innerhalb der Invalidenversicherung war - wenn auch auf einem Niveau, das in der Regel deutlich unter dem Existenzminum lag - dieses Prinzip durchaus vorhanden. Wenn die Autorin schreibt, dass die Bedeutung der Angestelltenversicherung vor allem in dem Bruch mit dem Prinzip der Beschraenkung der Sozialversicherung auf die wirtschaftlich und sozial Schwachen lag, hat sie damit zwar recht, greift aber doch zu kurz. Denn zur Wirkungsgeschichte der Angestelltenversicherung gehoert die mentale Abgrenzung der Mehrheit der Angestellten von den Arbeitern mit ihren weitreichenden Folgen genauso wie die tendentielle Verabschiedung von urspruenglichen Umverteilungsgedanken der Sozialversicherung zugunsten einer Reproduktion der Lebensstandards der Versicherten auf niedrigerem Niveau. Insofern war die Angestelltenversicherung auch nicht der Vorreiter der staatlichen Sozialpolitik fuer alle, wie Teile der SPD 1911 gehofft hatten, oder der Garant fuer die Erfolgsgeschichte des deutschen Rentensystems, wie Michael Prinz noch 1991 meinte (S. 31), sondern ein genuines und bis in die Bundesrepublik Deutschland hinein wirksames Produkt der gegen die Arbeiter gerichteten Politik des Teilens und Herrschens. Instruktiv waere in diesem Zusammenhang auch eine Darstellung des grundsaetzlich anderen Charakters der Witwenrente in der Angestelltenversicherung (Rente fuer alle Witwen) und in der Invalidenversicherung (Rente nur fuer nicht erwerbsarbeitsfaehige Witwen) gewesen.

Trotz dieser kritischen Bemerkungen gilt aber, dass Barbara Bichler mit ihrer Arbeit Luecken geschlossen hat. Die Entstehungsgeschichte der Angestelltenbewegung und der Angestelltenversicherung sind bislang bei weitem nicht in einer solchen Dichte behandelt worden. Weitere Forschungen zur Sozialgeschichte der noch immer vernachlaessigten Angestellten, zur Geschichte der Verbandspolitik, sowie zur staatlichen Sozialpolitik zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik werden daher von dieser Arbeit profitieren koennen.

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