K. Tenfelde u.a. (Hrsg.): Geschichte des deutschen Bergbaus 3

Cover
Titel
Motor der Industrialisierung. Deutsche Bergbaugeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert


Herausgeber
Tenfelde, Klaus; Pierenkemper, Toni
Reihe
Geschichte des deutschen Bergbaus 3
Erschienen
Münster 2016: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
700 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Historisches Seminar, Universität Siegen

Ausstieg aus der Kohleverstromung, Proteste gegen Garzweiler II, Aufregung um Altlasten im Boden: Trotz des für 2018 beschlossenen Endes der deutschen Steinkohleförderung sind Bergbauthemen hoch aktuell. Doch Schlote, Fördertürme, Kohlewäschen und große Maschinenhallen sind hierzulande entweder größtenteils verschwunden oder beeindruckende Kulissen in Museumsform geworden. Sie sind Hinterlassenschaften einer Entwicklung, in der der Bergbau in seiner überragenden Rolle als Leitsektor seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen rasanten Aufschwung erlebte und bis zum Ersten Weltkrieg die deutsche Volkswirtschaft tiefgreifend verändert hat. Toni Pierenkemper spricht in diesem Zusammenhang von der Herausbildung einer „New Economy“ in Deutschland (S. 11).

Band 3 der von Klaus Tenfelde initiierten Handbuchreihe widmet sich mit der Hochphase der Industrialisierung im langen 19. Jahrhundert der bedeutendsten Phase des deutschen Bergbaus – gemessen an quantitativen und qualitativen Veränderungen wie der Steigerung der Förderung, der Zahl der Bergarbeiter, technischen Errungenschaften und den ersten Übergängen zur Rationalisierungen und Mechanisierungen sowie nachhaltigen Einflüssen auf Landschaft und Umwelt. Der Band konzentriert sich dabei häufig auf die Steinkohlereviere Ruhr, Saar, Oberschlesien und Aachen. Alle Autoren sind durch ihre Arbeiten einschlägig ausgewiesene Experten. Die meisten Beiträge blicken auf die zweite Hälfte des „langen“ 19. Jahrhunderts (1848/1850 bis 1914/18), andere reichen bis in die 1930er-Jahre oder darüber hinaus und schaffen einen fließenden Übergang zum vierten Band der Reihe.1

Wenngleich die Reihe dem deutschen Bergbau gewidmet ist, verortet der Beitrag von Eva-Maria Roelevink die deutsche Montanindustrie auf dem internationalen Rohstoffmarkt und öffnet damit begrüßenswerter Weise die Perspektive. Roelevink betrachtet Standortgebundenheit, Verfügbarkeit und Eigenschaften der Rohstoffe und zeichnet zentrale Entwicklungen, Konjunkturen, Konkurrenzen und Krisen nach. Dabei stehen vor allem die Absatzmärkte für deutsche Kohle im Mittelpunkt. Als einflussreiche Parameter erwiesen sich Transportkosten und Preise der Bergbauprodukte. Um die starken Schwankungen der Preise auf bergbaulichen Rohstoffmärkten einzudämmen, die die Unternehmen anfällig für Konjunkturen und Krisen machten, griff ab den 1890er-Jahren der starke Trend zur Kartellierung.

Kernstück des Bandes ist der dreiteilige Beitrag von Toni Pierenkemper, Dieter Ziegler und Franz-Josef Brüggemeier über die „Wirtschafts-, Unternehmens- und Sozialgeschichte des Bergbaus 1850 bis 1914“. Hier werden für Nicht-Bergbau-Insider Grundlagen wie die Unterschiede von Kohlensorten und ihren Nutzungen sowie Aufbereitungsverfahren erklärt. Technische Innovationen sorgten für neue Absatzchancen: Koksverhüttung, Brikettierung und neue Produkte aus Rückständen der Kokerei und der Verhüttung. Die Teile von Pierenkemper und Ziegler brillieren dadurch, dass sie einerseits komprimiert die großen Linien nachzeichnen, andererseits für die einzelnen Regionen und Bergbauzweige in kenntnisreichen Tiefenbohrungen münden. Letztere greifen exemplarische Unternehmen auf.

Erfrischend ist, dass die Autoren mit in der Literatur gern kolportierten Topoi wie den hagiografischen Überhöhungen der Leistungen preußischer Bergbeamter oder mit der Diskussion um die Innovationsbereitschaft oberschlesischer Magnaten aufräumen. Die „Erfolgsgeschichte“ der modernisierenden Kraft (preußisch-)staatlicher Modernisierung am Ende des 18. Jahrhunderts schätzt Pierenkemper skeptisch ein und verweist auf Behinderungen privater Initiativen. An früherer Forschung kritisiert er, dass in Bezug auf staatliche Gewerbeförderung nur isolierte Programme betrachtet, intensive Diskussionen innerhalb der Staatsbürokratie und maßgebliche Beteiligung privater Unternehmer hingegen außen vor gelassen wurden (S. 99f.).

Während Pierenkemper die Makroebene („Leitsektor“) bedient, konzentriert sich Dieter Ziegler auf Unternehmensorganisation und Unternehmensverfassung. Ihrer zentralen Rolle gemäß geraten Unternehmer mit ihren sozialen Hintergründen, Vernetzungsstrategien sowie Ausbildungs- und Rekrutierungswegen in den Blick. In der zunehmenden Trennung von Eigentum und Unternehmerfunktion nahmen angehende Bergbeamte eine interessante Rolle ein, die sich einerseits angesichts der begrenzten Stellenaussichten im Staatsdienst und andererseits wegen der attraktiven Aufstiegsmöglichkeiten für einen Übertritt in die Privatwirtschaft entschieden. Ihre Haltung und Mentalität habe nicht zuletzt zu großer Distanz zu den Beschäftigten geführt und den „Grubenmilitarismus“ gefördert (S. 169f.).

Franz-Josef Brüggemeier kommt die schwierige Aufgabe zu, die vielfältigen und nach Region und Bergbauzweig differierenden Lebensverhältnisse und -formen, Erfahrungen und Arbeitswelten der Bergarbeiter und ihrer Familien auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Große Zuwanderungsströme, die Unterkunftsfrage, gefährliche Arbeitsbedingungen und Konflikte im Betrieb sowie in drei großen Streiks, aber auch Freizeitaktivitäten prägten das soziale Leben der Bergarbeiter.

Nirgendwo zeichnete sich der rasante Ausbau der Montan- und Schwerindustrie eindrücklicher ab als in der Stadtentwicklung. Im Zentrum des Beitrags von Heinz Reif steht die Frage nach der städtebildenden Kraft von Bergbau- und Hüttenindustrie, die ganz neue Städte und sogar Stadt-Landschaften herausbilden konnte. Reif arbeitet die demografisch-urbanen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen ab, sowohl was die Entwicklungen der Städte in den drei preußischen Steinkohlerevieren (Ruhr, Saar, Oberschlesien) als auch was die drei von ihm klassifizierten Städtetypen2 innerhalb der Reviere betrifft. Die größten Herausforderungen stellten sich dabei den Gemeinden im Ruhrgebiet mit seinen anfangs noch ländlichen Strukturen.

Helmuth Trischler zeichnet am Beispiel des Ruhrbergbaus nach, wie sich Arbeitsbeziehungen und Mentalitäten in einer „Herr-im-Haus“-Haltung der Arbeitgeber polarisierten. Er konstatiert wenig überraschend eine Asymmetrie zwischen den früh institutionell organisierten Arbeitgebern und einer fragmentierten Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Ein erstes, leichtes Einlenken gegenüber der früheren Totalverweigerung, die Arbeitnehmer als Sozialpartner anzuerkennen, erfolgte aus Revolutionsfurcht nach dem Ersten Weltkrieg, hielt aber nur kurz bis 1923 an und entwickelte sich erst nach 1945 in Richtung Sozialpartnerschaft. Im Vergleich zu anderen Sektoren griff im Bergbau wegen der obstruktiven Haltung der Arbeitgeberseite seit den 1890er-Jahren keine Rationalisierung des Konfliktaustrags. An Schärfe gewann der Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch die starke politische Überformung, die wiederum durch jeden politisch-gesellschaftlichen Systemwechsel beeinflusst wurde. Besonderes Augenmerk legt Trischler auf die repressive Herrschaftsausübung, für die die Betriebe die mittlere Managementebene der technischen Grubenbeamten einspannte.

Stefan Przigoda widmet sich einer weiteren Facette gesellschaftlich-politischer Folgewirkungen. Er beleuchtet am Beispiel des Ruhrbergbaus die bergbauliche Interessenpolitik im Spannungsfeld von Kommunen, Parlamenten, Parteien und Verbänden. So bestimmten die Montanunternehmen in den kommunalen Gremien nicht zuletzt über Finanzen, Bebauung und Infrastrukturen ihres Standorts. Mit ihren guten Kontakten übten sie aber auch auf Landesebene Einfluss aus. Przigoda knüpft an seine wegweisende Studie zu den Interessenverbänden im Ruhrbergbau an und unterstreicht die Vorreiterrolle des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr für eine organisierte Interessenpolitik.

Gunther Kühnes Beitrag zum Bergrecht reicht vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nach einer gewissen Führungsrolle Preußens in bergrechtlichen Anpassungen des langen 19. Jahrhunderts dominierten im NS-Regime zentralisierende wirtschaftspolitische Vorstellungen, wenngleich die Verfügungsrechte unangetastet blieben. Für die bergbehördliche Aufsicht sorgten sukzessive Reichs- statt Landesbergbehörden. Das angestrebte Reichsberggesetz konnte bis 1945 aber nicht mehr verwirklicht werden. So blieben Landesbergrechte bis zum Inkrafttreten des Bundesberggesetzes 1982 gültig und von den wirtschaftspolitischen Bestrebungen einer europäischen Montanunion unberührt. Neben den bundesrepublikanischen Verhältnissen beleuchtet Kühne zudem die Entwicklung des Bergrechts in der DDR, nach der deutschen Wiedervereinigung und im europäischen Rahmen seit 1950.

Blass bleibt der Beitrag von Rainer Slotta zur Montanindustrie in der Kunst. Gerade in der Zeit, in der Umfeld und Arbeitsleben eines beachtlichen Teils der deutschen Bevölkerung von Bergbau und Kohle geprägt wurden sowie Industriebauten und insbesondere in der Wilhelminische Ära repräsentative Neubauten der Bergbehörden stadtbildprägenden Charakter einnahmen, scheint dieses Thema bei Künstlern kaum mehr als lohnenswertes Sujet aufgegriffen worden zu sein.

Thematisch bewegt sich der Band vorrangig im „klassischen“ Spektrum von wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Herangehensweisen, ergänzt mit dem Blick auf das Bergrecht, die Kunst und politische Einflussnahmen. Für eine Handbuchreihe ist das vollkommen in Ordnung. Wenig Beachtung findet das mitteldeutsche Gebiet, was aber neben den allgemeinen Forschungsdesideraten für das Revier auch darin begründet ist, dass Kali und Braunkohle ihren Siegeszug vor allem im 20. Jahrhundert antraten. Der einzige größere Kritikpunkt, den man dem Band vorhalten könnte, ist der Verzicht auf den Bereich der bergmännischen Kultur bzw. auf die Einbindung kulturgeschichtlicher Sichtweisen. Gerade das kritische Hinterfragen des bisweilen anachronistisch anmutenden Brauchtums und der Vereinskultur wäre ein lohnendes Untersuchungsfeld gewesen; ebenso die Analyse von Formen medialer (Selbst-)Repräsentation wie beispielsweise in der Werbung und auf Gewerbeausstellungen. Auch für den Bereich der Wissensgeschichte wäre die Zeit zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und den 1930er-Jahren spannend gewesen.3

Die große Leistung des Bandes besteht darin, den revolutionären industriellen Aufbruch und Aufstieg der deutschen Bergbau-, vor allem der Kohleproduktion und die entsprechenden Begleiterscheinungen (Stadtwachstum, spannungsgeladene Arbeitsbeziehungen, politische Einflussnahme) kurz und präzise auf den Punkt zu bringen, was sich angesichts der großen Vielfalt der Strukturen im deutschen Bergbau als besondere Herausforderung darstellt. Ein umfassendes Literaturverzeichnis schließt wie bei den übrigen Bänden der Reihe am Ende an. Insgesamt ein gediegener Band mit einigen brillanten Beiträgen und gutem Preis-Leistungs-Verhältnis, der als Einstieg und Überblick absolut empfehlenswert ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Katrin Minner, Rezension zu: Dieter Ziegler (Hrsg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013, in: H-Soz-Kult, URL: http://www.hsozkult.de/review/id/rezbuecher-22239?title=d-ziegler-hrsg-rohstoffgewinnung-im-strukturwandel&recno=2&q=Katrin%20Minner&sort=newestPublished&fq=&total=5&fq=&total=5 (25.10.2017).
2 Anders als Klaus Tenfelde mit seinem übergreifenden Typus der Montanstadt: Klaus Tenfelde, Bergbau und Stadtentwicklung. Das Ruhrgebiet im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jürgen Mittag / Ingrid Wölk (Hrsg.), Bochum und das Ruhrgebiet. Großstadtbildung im 20. Jahrhundert, Essen 2005, S. 123–145.
3 Vgl. Stefan Moitra, Das Wissensrevier. 150 Jahre Bergbauforschung und Ausbildung bei der Westfälischen Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung. Die Geschichte einer Institution, Bochum 2014.

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