Oft sind Kataloge nur Sammlungen huebscher Bilder, die, da man sie gerade im Original betrachten durfte, gern als Reproduktion nach Hause getragen werden. Ganz anders der Sammelband zur Ausstellung EXIL – Flucht und Emigration europaeischer Kuenstler 1933 – 1945 in der Neuen Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, (10.10.1997 bis 4.1.1998). Hier geht es nicht nur um Kunstwerke, sondern um die historische Untersuchung sozialer Erfahrungen von Emigranten und deren Niederschlag in ihrer Kunst. Es sei gleich gesagt: der Katalog ist nicht nur inhaltsreich, sondern auch optisch ein Genuss. Schon beim Aufblaettern des Inhaltsverzeichnisses springt die gelungene Gestaltung des Bandes in die Augen. Kunst- und Sozialgeschichte werden anhand biographischer Skizzen vermittelt. Und die besprochenen Kuenstler werden durch ihr Portraitfoto den Aufsaetzen thematisch gruppiert zugeordnet. Wir brauchen uns an dieser Stelle nicht zu fragen, ob wir stellvertretend die nur maennliche Berufsbezeichnung benutzen duerfen, denn der Band behandelt tatsaechlich nur Kuenstler, keine Kuenstlerinnen. Und er beschraenkt sich auf namhafte und bereits erfolgreiche Kuenstler. Damit schliesst er eine ganz besondere Dimension der Exilkunst aus, die gerade durch das Schicksal der durch das Exil auch kuenstlerisch ins Nirgendwo verstossenen Kuenstlerinnen und Kuenstler aufweist.
Zweiundzwanzig Essays rund um das Exil von Kuenstlern und Kunsthistorikern bilden ein grundlegendes Werk zu einer Thematik, die von der Germanistik schon laengst bearbeitet wird, in der Kunstgeschichte indes bisher ein Stiefkind war. Zusammengetragen haben sie die Chefkuratorin des Los Angeles County Museums, Stephanie Barron, die die entscheidenden Anstoesse zur Ausstellung Exiles & Emigres in Los Angeles gab und Sabine Eckmann. Sie haben aus den heterogenen Texten einen homogenen und abgerundeten Sammelband kreiert. Stephanie Barrons Einfuehrung erlaeutert die Fragestellung, indem sie die Probleme, Motivationen und Lebensumstaende der betroffenen Exilkuenstler umreisst. Exil bedeutet hier die Flucht vor dem Nationalsozialismus, also vorwiegend deutscher Kuenstler, aber auch der in Paris ansaessigen kuenstlerischen Internationale. Als Aufnahmelaender werden neben dem Schwerpunkt USA auch das europaeische Ausland beruecksichtigt.
Erkenntnisleitend ist die Frage, welche Motive wen in welches Land emigrieren liessen und wie sich diese Sondersituation in den Werken niederschlug; nicht nur in den Werken der emigrierten Kuenstler, sondern auch in der Kunstentwicklung der Aufnahmelaender, die sich den Einfluessen der Exilanten selten entziehen konnten. Es geht nicht darum, eine gemeinsame Exilkunst zu konstatieren, der Band bemueht sich, diese Kunst differenziert zu betrachten und die vielen Unterschiede deutlich zu machen.
Sabine Eckmann fragt generell nach dem Zusammenhang zwischen Kunst und Exil. Sie entwickelt die bisherige Forschungslage und verweist auf die heterogene Verwendung der Begriffe Exil und Emigration. Die Ausstellung soll die bisherige, weitgehend moralisierende Beurteilung von Exilkunst neutralisieren und wendet sich gegen die immer noch beliebte Theorie von dem insbesondere das Bauhaus betreffenden erfolgreichen Kulturtransfer von Europa in die USA. Erwartungsgemaess entsteht bei einem genauen Vergleich verschiedener Kuenstlerbiographien ein sehr vielschichtiges Bild, das durch einseitige Thesen nicht erfasst wird. S. Eckmann fasst zusammen: "...vielmehr fuehrten disparate Auseinandersetzungen mit der neuen Kultur, den politischen Ereignissen in Europa und der eigenen Kultur zu kuenstlerischen Ausformungen, die neue soziale Utopien (Ernst, Matta, Mondrian), Widerstand gegen doktrinaere politische Regime (Masson, Matta, Lipchitz), die Artikulation einer zeitgenoessischen juedischen Identitaet (Chagall, Lipchitz), Rueckzug in die Privatheit (Ernst, Leger, Tanguy) und Konflikte mit der eigenen Identitaet als Europaeer im nordamerikanischen Ausland (Matta, Dali) unterschiedlich thematisierten." (36)
Das Schicksal von dreiundzwanzig Kuenstlern wird in einzelnen Untersuchungen verglichen. Anhand der Kuenstler Max Beckmann, John Heartfield, Kurt Schwitters, Wassily Kandinsky und Oskar Kokoschka fragen Barbara Copeland Buenger und Keith Holz nach dem Konflikt zwischen der Autonomie der Kunst und ihrer durch die Verfemung erzwungenen Politisierung. Programmatische Veraenderungen ergaben sich auch fuer juedische Kuenstler wie Marc Chagall und Jacques Lipchitz. Matthew Affron hinterfragt ihre Suche nach einer neuen juedischen Identitaet. Eine parallele Entwicklung, die jedoch nicht religioes motiviert ist, entwickelt Sabine Eckmann fuer George Grosz und Lyonel Feininger. Hier ist der blosse Verlust der Heimat Anlass fuer die Neuorientiertung; ein interessanter Gegensatz, da sich Feininger als US-Buerger kulturell in Europa verortete und Grosz wie kein anderer an einer raschen Assimilation interessiert war.
Die Wechselwirkung zwischen amerikanischer Kultur und der europaeischen Moderne thematisieren mehrere Aufsaetze. Sabine Eckmann untersucht mit Salvador Dali, Max Ernst, Andre Masson, Yves Tanguy und Roberto Matta Echaurren den Surrealismus im Exil. Matthew Affron ermittelt die Auswirkungen der Metropole New York auf die Kunst Fernand Legers und Piet Mondrians, Deborah Irmas die Erfahrungen der Neuen Welt fuer Andreas Feininger und Andre Kertesz. Der Rezeption des Bauhauses und seiner Wirkung in den USA sind Essays von Peter Hahn, Franz Schulze, Kathleen James und Sheri Bernstein gewidmet. Gerade hier wird das Diktum des "erfolgreichen Transfers" relativiert. Das Bauhaus hatte oft mit konservativen Widerstaenden zu kaempfen und war gezwungen, seine sozialen Implikationen abzulegen: "In Amerika jedoch kam dem Bauhaus-Gedanken seine gesellschaftliche und politische Stossrichtung abhanden." (S. Barron, S. 25)
Die Einbeziehung der Architektur des Bauhauses erweitert das Thema um eine Dimension, der wiederum ein eigene umfassende Studie gewidmet sein muesste. Viele Probleme wurden nur angerissen. Trotzdem ist dieses Buch ein stabiles Fundament fuer die kunsthistorische Exilforschung und es fordert zu weiteren Detailstudien heraus.