Mit Frontiers and Borderlands liegt uns eine Textsammlung vor, die jedem an Fragen der politischen Anthropologie Interessierten ans Herz gelegt und in das Bücherregal gestellt werden kann. Die Herausgeber haben in ihrem Band fast alle Beiträge versammelt, die auf der Tagung Frontiers and Borderlands: (Re-)Construction of Lebenswelt and Identities an der Evangelischen Akademie Tutzing (Februar 1997) zu Ehren von Herrn Professor Johannes W. Raum als Vorträge gehalten wurden.
Die Grenzmetaphorik gehört in mehr als einem Sinne zum Familiensilber der Ethnologie. Dies hat jedoch seltsamerweise lange Zeit nicht dazu geführt, zwischenstaatliche Grenzen zu bevorzugten Forschungsobjekten der Disziplin zu machen. Dies ist um so verwunderlicher, als daß zentrale Gegenstände der ethnologischen Forschung wie etwa Territorialität, Identität und Nationalität an Grenzen ausgehandelt werden.
Die ethnologische Beschäftigung mit politischen Grenzen, vormals eher von marginalem Interesse, hat jedoch in den 90er Jahren einen Aufschwung erlebt, der sicherlich mit der Destabilisierung des internationalen Gefüges nach dem Ende des Kalten Krieges und mit der Entfesselung des grenzenlosen Kapitalismus - Stichwort: Globalisierung - in enger Verbindung steht. Die herausragendsten Exponenten der Grenzlandethnologie sind mit Artikeln vertreten, die die geographischen Schwerpunkte der Besorgnis euroamerikanischer Entscheidungsträger und der gegenwärtigen ethnologischen Forschung vertreten: Robert R. Alvarez Jr. mit einem programmatischen Artikel über die US-mexikanische Grenze und Hastings Donnan mit einem Beitrag über den Zusammenhang zwischen EU-Politik und der Transformation der irisch-irischen Grenze.
Gegenstand des Bandes ist die politische Territorialgrenze. Die 12 Beiträge des Bandes sind 4 Unterkapiteln zugeordnet, die sich einzelnen Themen zuwenden, die mit der politischen Grenze in Beziehung stehen: Identität, Wirtschaft, Recht und Kognition sowie Kommunikation. Die Artikel, fast ausschließlich von Ethnologen und Ethnologinnen geschrieben, heben sich erfreulich von den Entwürfen mancher Nachbarwissenschaften ab, die sich der Grenzproblematik vornehmlich aus staatlicher Perspektive nähern. Im Gegensatz dazu steht hier zumeist die ethnographische Dokumentation von Perspektiven jener Menschen im Mittelpunkt, die an der Grenze leben, arbeiten oder die Grenze häufig überqueren. Die Beiträge zeigen zum einen, daß Grenzregionen beileibe keine passiven und zurückgebliebenen Peripherien sind, sondern Räume, aus denen sich aktive Wirkungen auf die Politik der Zentren zu entfalten vermögen und die es verdienen, als eigenständiger Gegenstand der ethnologischen Forschung gewürdigt zu werden. Zum zweiten betonen die Beiträge aber auch die eigenen Wahrheiten des Grenzlandes, die sich aus den Chancen und den Beschränkungen ergeben, die nur eine Grenze bietet. So stellt beispielsweise Schmuggel, wie Driessen hervorhebt, lediglich aus staatlicher Perspektive eine sowohl illegale als auch eine illegitime Wirtschaftsform dar, während sie für Grenzlandbewohner durchaus gerechtfertigt als auch notwendig erscheint.
In der Einleitung legen die Herausgeber die Ursprünge der aktuellen ethnologischen Auseinandersetzung mit der Grenze frei. Der in englischer Sprache verfaßte Band verweist dabei durch die Vielfalt der Begrifflichkeit (frontier, boundary, border) deutlicher auf eine Vielschichtigkeit von Bedeutungen als das deutsche Wort ‘Grenze’. Allerdings ist der aktuelle Gebrauch der Begriffe nicht in jedem Artikel identisch. Die Herausgeber entwerfen eine Typologie, bei der - man möge mir diese grobe Vereinfachung nachsehen - frontier die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis und border die zwischenstaatliche Grenze bezeichnet.
Geleitet wird das Interesse des Bandes von der Frage nach den Gemeinsamkeiten von Lebensweisen in Grenzregionen und nach den Unterschieden zu grenzfernen Gebieten. Im Zentrum dabei steht die Doppelfunktion von Grenzen, einerseits die Abgrenzung diskreter Territorien voneinander und die Illusion klar voneinander geschiedener Kulturen und Gesellschaften und andererseits das verbindende Moment, das Bevölkerungen durch die Existenz der Grenze (z.B. durch Schmuggel, gemeinsame Grenzidiome etc.) erst zusammenbringt. Rösler und Wendl heben dabei auf die Tradition der amerikanischen frontier-Forschung (Turner) ebenso ab wie auf Vorläufer der deutschen Geopolitik (Ratzel), auf den Mentalitätshistoriker Fèbvre und auf den Soziologen Georg Simmel.
Einige der 12 Beiträge seien in der Folge besonders hervorgehoben:
Das erste Unterkapitel, Frontier processes and the construction of identities, beschäftigt sich mit den Grenzräumen als Bühnen für die Aushandlung von Identitäten, insbesondere nationaler, regionaler und ethnischer Art.
Igor Kopytoffs Beitrag The internal African frontier: Cultural conservatism and ethnic innovation unterscheidet zwischen der kulturellen und der strukturellen Bedeutung von frontiers: als strukturell innovative Zonen sind sie doch zumeist von kulturellem Konservatismus geprägt, da sie - zumindest in seinem Gegenstandsbereich vornationalstaatliches Afrika - meist fern von den Einflüssen der Machzentren liegen und darüber hinaus eine relative kulturelle und institutionelle Ähnlichkeit der beteiligten Kräfte aufweisen.
Inseln stellen in der aktuellen Grenzethnologie eine unterbetrachtete und untertheoretisierte Form des Grenzlandes dar. Diesem Umstand abzuhelfen ist der Verdienst von Ina-Maria Greverus, die am Beispiel von Usedom und Rügen auf den doppelten Grenzlandcharakter von Inseln verweist. Aus der Perspektive des Festlandes stellen Inseln eine frontier zwischen Zivilisation (Land) und Wildnis (Meer) dar, für die Inselbewohner dagegen ist das Meer eine boundary ihres konkreten Lebensbereiches. Greverus zeigt die Transformation der Inseln vom sozialistischen Urlaubsparadies zum bundesdeutschen Zuschußareal.
Im zweiten Kapitel, The political economy of borderlands, wendet sich der Blick auf kreative Strategien der Grenzüberschreitung im Bereich der Wirtschaft.
Daß die Öffnung von Grenzen und die Angleichung der Lebensstandards hüben und drüben grenzüberschreitende Kontakte zu verhindern mögen, zeigt Hastings Donnan mit seinem Artikel Shopping and sectarianism at the Irish border. Während in den 1980ern die unterschiedliche Waren- und Preisstruktur zu einem florierenden Grenzhandel zwischen Nord- und Südirland führte, fiel in den 1990ern durch die Angleichung von Preisen und Warenangebot diese Arena grenzüberschreitender Kommunikation weitgehend aus. Die ökonomische Situation bekräftigte damit indirekt die politisch-religiöse Grenze zwischen Nord und Süd.
In Power versus knowledge. Smugglers and the state along Ghana’s eastern frontier zeigt Paul Nugent, wie die lokale Bevölkerung an der Grenze zwischen Ghana und Togo sich über die Zeiten hinweg die Grenze als ökonomische Ressource nutzbar zu machen verstand. Nugent hebt vor allem auf die Wechselwirkung zwischen staatlicher Politik und dem lokalen Schmuggel ab, wobei die behördlichen Versuche sich in der Praxis immer mit dem Schmuggel arrangierten.
Das Recht in Grenzräumen, insbesondere die Konfrontation von Staats- und Gewohnheitsrecht, steht im dritten Unterkapitel (Law in frontier situations and the boundaries between legal concepts) im Mittelpunkt.
Der Prozeß der Erarbeitung einer neuen Verfassung in Südafrika führte zu einer Stärkung individueller Rechte und Freiheiten gegenüber altem Gewohnheitsrecht. Tom W. Bennett führt dies in Boundaries between African customary law and the constitution in South Africa auf die tribalisierende Rolle zurück, die dem Gewohnheitsrecht im Apartheidsregime zugemessen wurde: Territoriale Segregation (in Homelands und Townships) und biologisierende Tribalisierung (durch Rassenkonzept) waren eng mit juristischer und gesetzgeberischer Segregation verknüpft. Auch wenn in der Rechtspraxis das Gewohnheitsrecht durchaus zur Anwendung gelangt, so sorgte die neue Gesetzgebung doch für eine Aufweichung starrer ethnischen Grenzen.
In Limits on the access to land, cattle and women among some West African peoples, arbeitet Rüdiger Schott indigene westafrikanische Konzeptionen von Land, Landbesitz und territorialer Grenze heraus. Schott argumentiert, daß die Vorstellung klar abgetrennter Territorien mit linearen Grenzen unafrikanisch sei, da Land heilig und der Zugang zu Land durch spirituelle Spezialisten geregelt sei. Bevölkerungswachstum und die Einführung des Privatbesitzes führten in der Rechtspraxis jedoch zur Zerstückelung des Landes und konflingierten mit der Konzeption des gemeinschaftlichen Ahnenlandes.
Der letzte Teil, Communication in borderlands: Language, cognition and literary imagination, setzt sich mit der Kommunikation in Grenzräumen auseinander.
Klaus Schubert beschäftigt sich in Frontier languages, language boundaries mit vertikalen Sprachgrenzen in Afrika und solchen Sprachen, die staatliche Grenzen überschreiten. Zu jener zweiten Kategorie gehören sowohl afrikanische transregionale Sprachen wie Haussa oder Kisuaheli als auch die europäischen Sprachen der Kolonisatoren, sowie deren pidginisierte Variationen. Sprachliche Vielfalt wie situationales Codeswitching und Multilingualismus sind heute verbreitet.
In ihrem Beitrag Separation through unification. Changing cultural models in an East German factory fragt Heike Wieschiolek am Beispiel der innerdeutschen Grenze danach, ob der Wegfall von Staatsgrenzen tatsächlich zum Verschwinden von Grenzen führt. Wieschiolek arbeitet jene Mechanismen einer kulturellen Selbstidentifikation als Ostdeutsche heraus, die die Angestellten eines ostdeutschen Unternehmens angesichts der Herausforderungen der kapitalistischen Arbeitswelt entwickeln. Die politische Grenze, so das Resumée, wurde in eine kulturelle und moralische Differenz transformiert; erst der Wegfall der Mauer machte jene Unterschiede sichtbar, die sie vormals verbarg.
Der im Peter Lang Verlag publizierte Band ist dazu geeignet, die Sensibilisierung dafür zu wecken, daß Forschungsprojekte nicht mehr deshalb abgelehnt werden, weil grenzüberschreitende Feldforschung als Verstoß gegen das klassische Feldparadigma betrachtet wird. Ihm ist zu wünschen, daß er dazu beiträgt, die deutschsprachige Ethnologie an den hierzulande noch nicht ausreichend gewürdigten Gegenstand der Grenze heranzuführen und ihn zu einem eigenständigen und legitimen Bereich ethnologischen Arbeitens zu machen.
Eine weitere Stärke des Bandes ist sicherlich die - wenngleich schwerpunktmäßig auf Afrika ausgerichtete - Mischung von ethnographischen Beispielen aus vorstaatlichen oder staatlichen Gesellschaften: Damit wird jene unsichtbare Grenze überschritten zwischen jenen Kollegen, für die die Ethnologie sich ausschließlich mit sogenannten traditionalen Gesellschaften zu beschäftigen hat, und jenen, die vornehmlich in nationalstaatlichen Kategorien denken. Allerdings, und dies ist ein kleiner Wermutstropfen, hätten die Herausgeber gut daran getan, manchen Beitrag der Tutzinger Tagung nicht in ihren Band zu übernehmen. Einige wenige Artikel, bei denen ein Bezug zur politisch-territorialen Grenze recht bemüht hergestellt wurde, hätten sicherlich besser in einen Band gepaßt, dessen Schwerpunkt nicht politisch-territoriale, sondern eher moralisch-symbolische Grenzen darstellen.