J. Casteel: Russia in the German Global Imaginary

Cover
Titel
Russia in the German Global Imaginary. Imperial Visions and Utopian Desires 1905–1941


Autor(en)
Casteel, James E.
Reihe
Pitt Series in Russian and East Euroean Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 251 S.
Preis
$ 28.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hilger, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität,

Die Erkenntnis, dass Fremdbilder sehr viel sowohl über die Eigenwahrnehmung und damit auch über eigene Weltsichten und Vorstellungen aussagen, hat sich in der historischen Forschung längst etabliert. Sie wird nicht zuletzt für die Untersuchung des komplexen Spannungsverhältnisses zwischen politischen bilateralen Beziehungen und Agenden von Nationalstaaten auf der einen sowie Wirkungskräften und Dynamiken der Nationalismen ihrer Staatsvölker auf der anderen Seite produktiv genutzt. Die Fruchtbarkeit der Untersuchung derartiger Interdependenzen hat sich auch in Untersuchungen der Entwicklung der deutsch-russischen bzw. deutsch-russischen und -sowjetischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert erwiesen.1

James E. Casteel setzt es sich in seiner Untersuchung zum Ziel, die Analyse der dynamischen Relationen zwischen Selbst- und Fremdbetrachtung auszudifferenzieren. Dabei stützt Casteel seine Interpretation vornehmlich auf die zeitgenössischen Darstellungen von reisenden Intellektuellen, Literaten, Journalisten, Akademikern, Unternehmern oder Regierungsvertretern. Dazu kommen Debattenbeiträge von einigen ausgewählten ehemaligen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs mit entsprechenden Karrierewegen sowie von sozial mehr oder weniger erfolgreichen deutschsprachigen Emigranten. In diesem Bereich waren es vor allem die so genannten Balten-Deutschen, die, auch aufgrund individueller Negativerfahrungen, das allgemeine Russlandbild in Deutschland färbten. Auf dieser Grundlage schlüsselt der Autor den deutschen Blick auf Russland weiter auf, indem er den Aspekt deutscher Vorstellungen über eigene Positionen und Möglichkeiten in einer von Imperien dominierten Welt integriert. Die deutsche Wahrnehmung Russlands war eben auch immer davon abhängig, inwieweit man das Reich im Osten als imperialen Konkurrenten oder als imperiale Ressource deutscher Weltmacht betrachtete. Die Karriere Rudolf Asmis, 1922 als Leiter der Wirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amts (AA) in Russland zu Besuch und relevanter Exeget russischer Verhältnisse, verkörperte nahezu idealtypisch diese besondere Brechung der deutschen Beobachtung. Asmis war vor dem Ersten Weltkrieg im deutschen Reichskolonialamt tätig, dann für das Auswärtige Amt als Konsul in Belgisch-Kongo. Im Ersten Weltkrieg arbeitete Asmis im besetzten Belgien in der deutschen Zivilverwaltung, ab 1922 unter anderem im deutschen Konsulat Moskau. Asmis, der 1938 in die NSDAP eintrat, avancierte im Krieg zum Leiter des kolonialpolitischen Amts der Partei und befasste sich ab 1944 erneut im Auswärtigen Amt mit Mandats- und Kolonialfragen (S. 122).

Mit seiner spezifischen Fragestellung führt der Autor konsequent transnationale und globalgeschichtliche Ansätze in die bilaterale Beziehungsgeschichte ein. Frühere Darstellungen haben entsprechende Verschachtelungen und Kontexte keineswegs ignoriert. Casteels konzentrierter Zugriff erlaubt es jedoch, den Stellenwert der imperialen Dimension der deutschen Perzeptionen Russlands genauer auszuleuchten. Dieser Zugewinn zeigt sich vor allem in den fallstudienartigen Diskussionen der reichsdeutschen Beschreibungen Sibiriens sowie der deutschen Siedler in der UdSSR. In beiden Themenbereichen blieben deutsche Interpretationen einem eigenen gesamtimperialen Diskurs verhaftet. In Darstellungen der Wissenschaft, der Reiseliteratur usw. spiegelten sich demgemäß hier sowohl deutsche Überlegungen hinsichtlich der russischen originären Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch Visionen einer deutschen Expansion und Ausnutzung wider. Die russische Erschließung Sibiriens gewann insbesondere mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn ab 1891 einen eigenen Stellenwert im deutschen Russlandbild. Diskutiert wurde hierbei das russische, später das sowjetische, so genannte Modernisierungs- und Zivilisierungspotential. Diese Debatte war wiederum von unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich des „europäischen“ oder „asiatischen“ Charakters des Großstaats verbunden. Aus dieser Wahrnehmung ergab sich aus deutscher Sicht Russlands Nähe oder Distanz zu einer vermeintlich wahren europäischen Hochkultur und vor allem seine gleichrangige oder doch eher untergeordnete Position in der Staaten- und Völkerhierarchie. Diese Einschätzungen waren wiederum unauflöslich mit deutschen Bewertungen der eigenen wirtschaftlichen Absatz- und Handelschancen, aber auch mit viel weitergehenden Visionen von autarken Herrschaftsräumen oder einer deutschen Zivilisierungsmission im Osten verknüpft. Die sukzessive Radikalisierung der deutschen Sibirien-Betrachtungen korrespondierte mit einer zunehmend völkischen Aufladung der Debatten um deutsche Auswanderer und Siedler in der UdSSR.

In Casteels Bilanz erweist sich das gesamtdeutsche Russlandbild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der imperialen Deutung Russlands und der UdSSR als Rivale oder Objekt deutscher Ambitionen ambivalent. Linke wie rechte, sozialistische wie völkische Programmatiken legten imperial informierte Deutungsstandards an Russland an, um auf dieser Grundlage in ihren Russlanddiskursen zu extrem divergierenden Urteilen zu kommen. Vernichtungsprojekte des Nationalsozialismus konnten an derlei generelle Denkschemata anknüpfen, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Die Herausarbeitung entsprechender Kontinuitätslinien einer deutschen imperialen Weltsicht ist der zweite wichtige Argumentationszweig des Autors. Allerdings ist auch diese Beobachtung nicht so gänzlich neu, wie es Casteel mitunter anklingen lässt (S. 8). Wie andere Autoren, so redet auch Casteel in seiner Kontinuitätsdebatte keinem Determinismus das Wort. Vielmehr zeichnet er bereits für das 19. Jahrhundert widersprüchliche und differierende Beschreibungen in Deutschland nach. Dabei stützt sich Casteel in seiner Diskussion in Teilen auf viel zu extensive Nacherzählungen einzelner zeitgenössischer Autoren. In derlei Passagen scheint die Genese des Gesamtwerks durchzuschlagen. Immerhin stellen drei der insgesamt sechs Kapitel überarbeitete Versionen bereits früher veröffentlichter Artikel dar. Damit kommt es an einzelnen Stellen neben unnötigen Wiederholungen zu Detailschilderungen, die man zugunsten einer weiteren analytischen Diskussion hätte straffen können.

So fragt man sich gerade bei der Lektüre der einführenden Kapitel für die Jahre vor 1900, in welchen Aspekten sich das deutsche Russlandbild von entsprechenden Bildern in Frankreich oder Großbritannien unterschied. Angesichts einer vielfach transnationalen Wissensproduktion sowie grenzüberschreitender intellektueller und politischer Verbindungen gerade in den frühen Jahren hätte man sich hier zumindest einen klärenden Seitenblick auf die Einbettung der generellen deutsch-russischen Verbindungen in eine breitere europäische und globale Verflechtung gewünscht. Daneben legt die Darstellung nahe, dass deutsche Diskurse über Expansionsmöglichkeiten nach Osten bis zum Ersten Weltkrieg keine passenden Vorstellungen über eine mögliche Rolle der Russlanddeutschen formulierten. Diesem vermeintlichen Widerspruch hätte die Studie ebenfalls etwas genauer nachgehen sollen. Eine Untersuchung deutscher Russlandbilder könnte zudem deutsche Auseinandersetzungen mit russischen Welt- und Deutschlandbildern thematisieren. In der Untersuchung wird überdies weitgehend ausgeblendet, inwieweit bzw. in welchem Ausmaß Abgrenzungs- oder Umarmungsversuche im russisch-sowjetischen Deutschlanddiskurs die deutsche Wahrnehmung imperialer Chancen und Gefahren direkt mit beeinflusste. Von Interesse wäre schließlich auch, wie deutsche Interpreten russisch-sowjetische intellektuelle Auseinandersetzungen mit dem Gegenüber USA werteten oder für eigene imperiale Perspektiven aufnahmen. Die gesamtimperialen Dimensionen deutscher Russlandwahrnehmungen erweisen sich so als ein relevantes Forschungsfeld, das die vorliegende Darstellung allein bei allen Einsichten noch keineswegs vollständig vermessen hat.

Anmerkung:
1 Vgl. allg. etwa Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. Für die deutsch-russisch/sowjetischen Beziehungen vgl. West-östliche Spiegelungen, Reihe A und B, München 1987–2006, sowie die Neue Folge der Reihe, München 2005–2006; Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005.

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