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Titel
1177 v. Chr.. Der erste Untergang der Zivilisation


Autor(en)
Cline, Eric H.
Erschienen
Darmstadt 2015: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lukas Bohnenkämper, Ägyptologisches Seminar, Universität Basel

Die Literatur zum Kollaps der spätbronzezeitlichen Kulturen im östlichen Mittelmeerraum ist äußerst umfangreich und nimmt stetig zu. Den aktuellen Forschungsstand in einem Buch zusammenzufassen, das sowohl für interessierte Laien als auch für Altertumswissenschaftler fesselnd zu lesen ist, ist kein leichtes Unterfangen. Eric Cline ist dies mit seinem Werk, dessen Originaltitel „1177 B.C. The Year Civilization Collapsed“1 lautet, zweifellos geglückt.2 Cline setzt sich jedoch nicht nur mit der Umbruchszeit um 1200 v.Chr. auseinander, sondern verfolgt die Verdichtung der intergesellschaftlichen Beziehungen im östlichen Mittelmeerraum durch die gesamte Spätbronzezeit (SBZ) vom Beginn des 15. bis zum Ende des 12. Jh. v.Chr. Seine Monographie ist daher auch eine Geschichte dieser Epoche.

Bereits im Vorwort (S. 13–17) legt Cline sein Anliegen dar: Die Untersuchung des Zusammenbruchs der in der SBZ stark vernetzten Region soll Erkenntnisse erbringen, die hilfreich für unsere heutige globalisierte Welt mit ihren Wirtschaftskrisen, Revolutionen und Naturkatastrophen sind. Konkrete Antworten auf zeitgenössische Probleme versucht Cline freilich nicht zu liefern.

Im Prolog (S. 23–38) werden die spärlichen ägyptischen Text- und Bildquellen zu den sogenannten Seevölkern, die lange Zeit als Hauptverantwortliche für den Untergang der spätbronzezeitlichen Gesellschaften galten, sowie die zugehörige Forschungsgeschichte diskutiert. 1177 v.Chr., das Jahr der zwei überlieferten Schlachten Ramses’ III. gegen die Seevölker3, nimmt Cline als Epochenjahr und wichtigen Wendepunkt. Er ist sich jedoch bewusst, dass der Kollaps ein jahrzehntelanger Prozess war. Die Quellen lassen viele Interpretationen zu und ein Konsens ist kaum zu erzielen: „Fielen die Seevölker als organisierte Armee ins östliche Mittelmeer ein, im Sinne eines der besser organisierten Kreuzzüge im Mittelalter […]? Handelte es sich um eine eher locker bzw. schlecht organisierte Bande von Plünderern wie die späteren Wikinger? Oder waren sie Flüchtlinge, die vor einer Naturkatastrophe flohen und neue Orte zum Besiedeln suchten? Soviel wir wissen, könnte die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen – vielleicht war es eine Kombination aller drei oben genannten Aspekte, vielleicht traf auch keiner davon zu.“ (S. 35)

Kapitel bzw. Akt I bis IV sind jeweils einem Jahrhundert der SBZ gewidmet. Cline zeichnet hier die Entstehung, die Blüte und den Kollaps des intergesellschaftlichen Systems nach. Im ersten Akt (S. 39–76), der das 15. Jh. v.Chr. behandelt, stehen unter anderem Ägyptens Handelsbeziehungen mit Kreta und Punt sowie die Kämpfe gegen Kanaanäer und Mitanni im Fokus. Besonders ausführlich geht Cline auf die nordwestanatolische Aššuwa-Rebellion gegen Ḫatti und die Frage ein, wieweit das mykenische Aḫḫijawa in den Aufstand um 1430 v.Chr. involviert war. Ob diese (speziellen) Kämpfe ihren Niederschlag in den Geschichten von Bellerophon (Hom. Il. 6, 119–236) und Herakles (Hom. Il. 5, 638–642) gefunden haben, was Cline für wahrscheinlich hält, ist allerdings fraglich.

Im zweiten Akt (S. 77–114), der das 14. Jh. v.Chr. thematisiert, stehen die in der Amarna-Korrespondenz belegten diplomatischen und ökonomischen Beziehungen im Zentrum. Cline behandelt insbesondere die Kontakte zwischen Ägypten, Ḫatti und der mykenischen Welt, daneben spielen Alašija (Zypern), Arzawa, Mitanni, Assyrien und Babylonien eine Rolle im Kommunikationsnetzwerk.

Im dritten (S. 115–152), das 13. Jh. v.Chr. betreffenden Akt, beschäftigt sich Cline mit den Handelsschiffswracks von Uluburun, Kap Iria und Kap Gelidonya, den mykenischen Außenbeziehungen sowie Ḫattis Konflikten mit Ägypten, Assyrien, Aḫḫijawa und Alašija einschließlich der Qadeš-Schlacht und des ägyptisch-hethitischen Friedensvertrags. Die Ausführungen zur Entstehung Israels und besonders zur Zerstörung Hazors (S. 142f.) zeigen ein Problem, dass im folgenden Kapitel virulent wird, nämlich dass die genaue Datierung und die Ursachen für archäologisch nachgewiesene Zerstörungen am Ende der SBZ für die meisten Orte (bisher) nicht geklärt sind.

Mit dem vierten Akt (S. 116–200), der das 12. Jh. v.Chr. beschreibt, kommt Cline zum eigentlichen Thema des Buches. Nach der Schilderung der ugaritischen Handelsbeziehungen, welche durch die dort gefundenen Archive mehrerer Kaufleute gut belegt sind, handelt Cline die archäologisch und textlich belegten Zerstörungen im östlichen Mittelmeerraum systematisch ab: Zunächst Nordsyrien, dann Südsyrien, Kanaan (mit Fokus auf Megiddo, Laḫiš und der philistinischen Pentapolis), Mesopotamien, Anatolien (besonders Ḫattuša und Troia), Griechenland (besonders Pylos, Mykene und Tiryns), Zypern und Ägypten. In den meisten Fällen lassen sich die genaue Datierung und die Ursache der Schäden nicht ausmachen. Lediglich im Falle der Zerstörung Babylons ist Elam als Angreifer gesichert (S. 179–181). Allerdings steht dieser Krieg offenkundig in keinem (direkten) Zusammenhang zu den Zerstörungen weiter im Westen. Für die Darstellung der chaotischen Situation in Ägypten (S. 196–198) wäre Karl Jansen-Winkelns kritische Untersuchung der Quellen nützlich gewesen.4 Dieser führt an, dass anzunehmende ägyptische Niederlagen gegen die Seevölker und die letztendlich siegreichen Libyer selbstverständlich nicht in den offiziellen Texten erscheinen. Ob die Reiseerzählung des Wenamun (S. 195, 198) auf historischen Begebenheiten beruht, darf aufgrund ihrer fiktionalen Elemente zumindest angezweifelt werden.5 Als Fazit (S. 198f.) bleibt, dass die Anwesenheit materieller Kulturgüter vermeintlich ägäischer Provenienz wie die als Späthelladisch IIIC1b bzw. White Painted Wheelmade III bezeichnete Keramik kein Beweis für Migrationen aus Griechenland oder Zypern ist. Es kann sich ebenso um lokale Produktionen handeln, die fremde Elemente aufgreifen.6

In Kapitel 5 (S. 201–244) werden die möglichen Ursachen des Zusammenbruchs der Gesellschaften erörtert: Erdbeben, Klimawandel mit Dürre und Hungersnöten, Aufstände, Invasoren, die den lebensnotwendigen Fernhandel zum Erliegen brachten, private Fernhändler, welche die zentralisierten Palastwirtschaften aushebelten, und eben die sogenannten Seevölker. In Bezug auf die wieder verstärkt geführte Diskussion über die Auswirkungen des Klimas auf Gesellschaften7 hält Cline zu Recht fest, „dass es in dieser Region im Laufe der Geschichte ziemlich oft zu Zeiten der Dürre kam und dass sie meistens nicht zum Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation führten“ (S. 212). Hinsichtlich der „Seevölker“ folgt er der momentan populären Forschungsmeinung, dass es sich bei ihnen um mehr oder weniger friedliche Migranten handelte, die als Flüchtlinge selbst Opfer des Kollapses waren, statt diesen hauptverantwortlich verursacht zu haben (S. 221–229).

Cline kommt zu dem Schluss, dass keine der möglichen Ursachen allein oder überhaupt (Privatisierung der Wirtschaft, S. 219–221) zum Untergang so vieler Gesellschaften geführt haben kann. Er greift daher die Idee des Systemkollapses wieder auf, wobei er sich auf die Theorie komplexer adaptiver Systeme (CAS) bezieht (S. 229–243). Die miteinander interagierenden Gesellschaften und Handelsnetzwerke versteht er als CAS, auf die verschiedene interne und externe Stressfaktoren über längere Zeit einwirkten. Jede Veränderung eines integralen Systembestandteils führte zu weiteren Veränderungen. Cline räumt jedoch ein, dass die Theorie gut klingt, bisher aber kaum das Verständnis fördert, da zu viele Variable unbekannt sind. Festzuhalten ist, dass der Kollaps sicher nicht linear verlief (S. 241–243).

Im Epilog (S. 245–252) betont Cline nochmals die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der behandelten Kulturen dieses „goldenen Zeitalters“ und die multiplen aber unklaren Ursachen ihres Untergangs. Außerdem verteidigt er das titelgebende Jahr 1177 v.Chr. als historischen Wendepunkt trotz der jahrzehntelangen Dauer des Kollapses. Das Buch schließt mit einem kurzen Ausblick auf die nachfolgende Eisenzeit und ihre Innovationen sowie dem erneuten Verweis auf die Anfälligkeit des heutigen globalen Wirtschaftssystems. Eine Liste der wichtigsten „Dramatis personae“ findet sich im Anhang (S. 253–257).

„1177 v.Chr.“ gibt kaum konkrete Antworten auf die Fragen über das Ende der SBZ sondern skizziert in einer flüssigen Narration die Unklarheiten und Problematiken der verschiedenen Forschungsmeinungen. Gelegentlich schweift die Erzählung recht weit vom eigentlichen Thema ab (zum Beispiel S. 101–106 über Nofretete und Tutanchamun) und die Auseinandersetzung mit der CAS-Theorie könnte ausführlicher sein. Freilich ist das Buch für eine breite Leserschaft geschrieben. Als Einführung in die SBZ und ihr Ende eignet es sich wiederum sehr.

Anmerkungen:
1 Eric H. Cline, 1177 B.C. The Year Civilization Collapsed (Turning Points in Ancient History 1), Princeton 2014.
2 Ein anderer rezenter Überblick mit Kritik an Clines Chronologie und Diskussion der Erdbeben und Klimadaten stammt von A. Bernard Knapp / Stuart W. Manning, Crisis in Context: The End of the Late Bronze Age in the Eastern Mediterranean, in: American Journal of Archaeology 120 (2016), S. 99–149.
3 Wie Cline (S. 258f., Anm. 3, vgl. S. 246f.) selbst bemerkt steht die absolute Chronologie dieser Zeit nicht fest. Folgt man Thomas Schneider, Contributions to the Chronology of the New Kingdom and the Third Intermediate Period, in: Ägypten & Levante 20 (2010), S. 373–403, bes. S. 402, fanden die Schlachten 1188 v.Chr. statt.
4 Karl Jansen-Winkeln, Ägyptische Geschichte im Zeitalter der Wanderungen von Seevölkern und Libyern, in: Eva A. Braun-Holzinger / Hartmut Matthäus (Hrsg.), Die nahöstlichen Kulturen und Griechenland an der Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend v.Chr., Möhnesee 2002, S. 123–142.
5 Vgl. Gerald Moers, Fingierte Welten in der ägyptischen Literatur des 2. Jahrtausends v.Chr. Grenzüberschreitung, Reisemotiv und Fiktionalität (Probleme der Ägyptologie 19), Leiden 2001.
6 Vgl. Guy D. Middleton, Telling Stories: The Mycenaean Origin of the Philistines, in: Oxford Journal of Archaeology 34 (2015), S. 45–65.
7 Siehe zum Beispiel David Kaniewski / Joël Guiot / Elise Van Campo, Drought and societal collapse 3200 years ago in the Eastern Mediterranean: a review, in: WIREs Climate Change 6 (2015), S. 369–382 und differenzierter Guy D. Middleton, Nothing Lasts Forever. Environmental Discourses on the Collapse of Past Societies, in: Journal of Archaeological Research 20 (2012), S. 257–307.

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