Der Umgang mit jugendlicher Delinquenz in München zwischen 1942 und 1973 steht im Mittelpunkt der im Berghahn Verlag veröffentlichten Dissertationsschrift des US-amerikanischen Historikers Martin Kalb. Der Untersuchungszeitraum überschreitet dabei die scheinbar selbstverständlichen Zäsuren von 1945 und 1968, was, wie auch der sehr eng umrissene geografische Fokus der Untersuchung, einige analytische Vorzüge hat. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Feststellung, dass in der bayerischen Landeshauptstadt bzw. in Westdeutschland insgesamt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg normabweichendes, delinquentes Verhalten von Jugendlichen immer wieder als gravierendes gesellschaftliches Problem eingestuft wurde. Das ist angesichts der Fülle an offensichtlichen und denkbaren gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit in der Tat erklärungsbedürftig.
Kalbs Deutungsansatz lautet sinngemäß: Die Thematisierung von Jugenddelinquenz und die sich daraus ergebenden staatlichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung boten den Münchner Nachkriegsbehörden und -regierungen die Möglichkeit, Kontrolle über die Gesellschaft insgesamt auszuüben bzw. diese Kontrolle zu intensivieren: erstens, weil mit der Negativfolie jugendlicher Nonkonformität soziale Normen und Standards für eine um Stabilität und „Normalität“ ringende Gesellschaft verdeutlicht und eingefordert werden konnten; zweitens, weil eine fortbestehende Jugenddelinquenz die Legitimität, Autorität und den gesellschaftlichen Einfluss bestimmter Behörden sowie mit Jugendlichen befassten Einrichtungen dauerhaft rechtfertigte und steigerte.
Um diese Hypothesen näher zu erläutern und zu belegen, nimmt Kalb die aus seiner Sicht zwischen 1942 und 1973 dominanten „images and constructs“ (S. 2) jugendlicher Delinquenz in München in den Blick und verweist dabei recht pauschal auf Michel Foucaults Studie „Überwachen und Strafen“ als theoretischen Rahmen. Es geht ihm also weniger um die Bestandsaufnahme faktischen oder auch nur vermeintlichen (Fehl-)Verhaltens von Jugendlichen oder um eine sozialhistorische Vermessung bestimmter Alterskohorten / Generationen oder um die Genese einzelner Jugend(sub)kulturen. Vielmehr möchte er „the misery of the young in the postwar period“ als „a microcosm or communication channel for larger discussions“ verstanden wissen und stellt fest: „youth became the discoursive space for discussions about postwar society, future objectives, and contemporary threats“ (S. 3).
Seine Darstellung gliedert Kalb in drei Zeitabschnitte, welche zugleich die von ihm identifizierten, diskursiven Schwerpunkte des öffentlichen Umgangs mit jugendlicher Delinquenz in München benennen sollen. Jede dieser Phasen sieht er dabei durch zwei Phänotypen jugendlicher Nonkonformität repräsentiert. Entsprechend konzentriert sich Kalb in der Analyse des Geschehens zwischen 1942 und 1973 auf insgesamt sechs „images of male and female youth“ und das „how“ and „why“ ihrer kommunikativen Herstellung (S. 7).
Im ersten Abschnitt beleuchtet Kalb die Beschäftigung mit jugendlicher „Delinquency in the Crisis Years, 1942–1949“. Für diesen Zeitraum stellt er den „delinquent boy“ und das „sexually deviant girl“ als zentrale Motive der Diskussion heraus. Mit der gesellschaftlichen Destabilisierung infolge der zerstörerischen alliierten Luftangriffe auf München seien Jugendliche ab Ende August 1942 verstärkt ins Blickfeld der Behörden geraten, etwa indem sie obdachlos durch die wachsenden Trümmerlandschaften der „Hauptstadt der Bewegung“ vagabundierten. Viele der zumeist erst der Nachkriegszeit zugerechneten Probleme, so insinuiert Kalb zutreffend, seien bereits vorher zu beobachten gewesen – leider belässt er es hier bei Andeutungen. Seine eigentliche Analyse beginnt erst mit der Ankunft US-amerikanischer Besatzungstruppen in München am 30. April 1945. Das Image des männlichen Jugendlichen als verwahrlostem Tagedieb oder kleinkriminellem Schwarzmarkthändler und das Bild des opportunistischen, die eigene sexuelle Anziehungskraft ökonomisch ausbeutenden, weiblichen „Ami-Flitscherls“ habe Besatzer wie Besetzte fortan gleichermaßen in helle Aufregung versetzt. Kalb beschreibt diese Stereotypen und die sie hervorbringenden Debatten detailliert. Amerikanische und Münchner bzw. bayerische Verantwortliche kämpften in der Folge gemeinsam für eine Reintegration der „male and female youth into the work force, in that way making them productive members of society, stabilizing postwar order, and securing their masculinity and femininity for Munich’s recovery” (S. 69).
Die zweite, angesichts der dynamischen Entwicklungen jener Jahre überraschend großzügig bemessene Phase erkennt Kalb in der Zeitspanne von 1949 bis 1962 („Americanization and Youth Cultures in the Miracle Years”). Diese sei wiederum vom Bild des „Halbstarken“ und des „(female) teenager“ bestimmt gewesen, die – in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre – in der Münchner Öffentlichkeit den Eindruck einer konsumorientierten, sich nicht ausreichend in den Neuaufbau einbringenden Jugend hinterließen. Wieder stellt Kalb die Erregung über Eckensteher, die kulturelle „Amerikanisierung“ männlicher wie weiblicher Heranwachsender, über Schlägereien, Krawalle und andere Untaten jugendlicher „Blasen“ eindrücklich dar. Dass es 1958 in München bei einem Bill Haley-Konzert, anders als in West-Berlin, Hamburg, Essen und Stuttgart, nicht zu Ausschreitungen kam, wertet Kalb so, dass man hier trotz allem „its youngsters under control“ gehabt zu haben schien (S. 148).
Im dritten Abschnitt „Political Activism in the Protest Years“, der die diskursiven Entwicklungen zwischen 1962 und 1973 erfasst, stellt Kalb den „student“ und den „Gammler“ als dominante Jugend-Images in den Mittelpunkt. „Born after World War II, these youngsters questioned adult authority and political frameworks”; die intergenerationellen Konflikte jener Zeit spiegelten demnach „a larger struggle over the form and nature of West German democracy“ (S. 161). Die Schwabinger Krawalle im Juni 1962 sind für ihn der entscheidende Wendepunkt. Das überzogen repressive Vorgehen der Polizei und die hysterischen Reaktionen in Politik und Medien hätten den eigentlich unpolitischen Auseinandersetzungen eine neue Qualität verliehen, so dass diese mehr oder weniger direkt in die Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre mündeten. In München schien man diese – wiewohl bei den sogenannten Osterunruhen 1968 in München der Fotoreporter Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck getötet wurden – durch das robuste Auftreten der Staatsmacht, welches die Umsetzung der „Münchner Linie“ in Zweifel ziehen lässt, vergleichsweise gut im Griff gehabt zu haben, bilanziert Kalb die Einschätzungen der zuständigen Münchner und bayerischen Behörden. Spannend sind hier unter anderem die Schilderungen der Interventionen politischer Scharfmacher, etwa eines Franz Josef Strauß, der seinen Parteifreunden in der bayerischen Staatsregierung eins ums andere Mal mangelnde Härte im Umgang mit störenden Jugendlichen vorwarf.
Kalbs Arbeit stützt sich auf die Auswertung umfangreicher behördlicher Archivbestände und zahlloser zeitgenössischer Presseberichte sowie die Synthese der einschlägigen Forschungsliteratur. Die von ihm benannten Jugend-Images sind dabei durchaus naheliegend. Allerdings geraten ihm die Schilderungen insgesamt etwas zu holzschnittartig, werden die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit des jugendlichen Lebens sowie der Eigensinn und die Konjunkturen der auf sie bezogenen öffentlichen Debatten nicht ausreichend gewürdigt. Teilweise scheint Kalb die aufgeregte Medienberichterstattung und die behördlichen Einschätzungen jugendlicher Delinquenz zu wörtlich zu nehmen. Er möchte populäre „images“ dekonstruieren, geht diesen aber ein Stück weit selbst auf den Leim, wenn er sie letztlich als gegeben hinnimmt und konkurrierende Jugend-Images der Zeit weitgehend ausblendet. Das Spezifische der von ihm betrachteten Stereotypen, die sich immer nur auf eine Minderheit der zeitgenössischen Jugendlichen bezogen, bleibt so – jenseits ihrer behaupteten Funktion für die diskursive Sicherung staatlicher Kontrollansprüche – unklar. Was unterscheidet Jugenddelinquenz als vermeintliche Herausforderung gesellschaftlicher Stabilität in diesem Zusammenhang eigentlich von der Delinquenz anderer Bevölkerungsgruppen? Und überschätzt Kalb nicht die diskursive Potenz öffentlicher Einrichtungen und politischer Mandats- und Amtsträger im gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess? Die Massenmedien werden in seiner Argumentation, selbst wenn man dynamisierende Wechselwirkungen einrechnet, de facto zu willfährigen Komplizen staatlicher Bemühungen um Kontrolle (zum Beispiel: „… the media again helped manufacture the Halbstarke as a threat to stability.“; S. 92). Mithin erscheint Kalbs Leitthese einer bewussten Instrumentalisierung der öffentlichen Debatten um Jugenddelinquenz durch staatliche Instanzen unterkomplex. Seine Bezüge auf Foucault sind unspezifisch und werden in der Diskussion der Untersuchungsergebnisse nicht mehr produktiv aufgegriffen. Ebenso blass und unkritisch bleiben die Ausführungen zum Deutungskonzept der „moral panic“ insbesondere nach Stanley Cohen, das bestimmte kommunikative Dynamiken besser erklärlich machte.
Kein Zweifel, die lange sozialgeschichtlich orientierte historische Jugendforschung um kultur- und diskursgeschichtliche Perspektiven zu erweitern, die Aufschluss auf die gesellschaftlichen „Funktionen“ des Sprechens über Jugend geben, ist von großem Wert. So gelingt es Kalb auf vergleichsweise wenigen Seiten, ein buntes Panorama der zentralen Jugend-Images und normativen Bruchlinien in der frühen Bundesrepublik zu entfalten. Und entsprechend lässt sich der Titel des Buchs eben nicht nur auf den konfliktträchtigen Prozess der Erwachsenwerdung von Jugendlichen beziehen, sondern auch auf die Reifung der Münchner bzw. bayerischen / bundesdeutschen Gesellschaft und Demokratie nach 1945. Insgesamt ist seine Argumentation aber zu glatt.