H. Lavsky: The Creation of the German-Jewish Diaspora

Titel
The Creation of the German-Jewish Diaspora. Interwar German-Jewish Immigration to Palestine, the USA, and England


Autor(en)
Lavsky, Hagit
Erschienen
München 2017: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
154 S.
Preis
€ 58,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viola Alianov-Rautenberg, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Wie unterschieden sich die Prozesse von Migration, Absorption und Integration der deutschen Juden in den verschiedenen Aufnahmeländern und wie können diese beurteilt werden? In ihrem neuen Buch geht die israelische Historikerin Hagit Lavsky dieser bzw. diesen Frage/n nach und untersucht die deutsch-jüdischen Migrationsbewegungen der 1920er- und 1930er-Jahre in die drei Hauptländer der Emigration: in die USA, nach England und nach Palästina/Eretz Israel. Lavsky hebt sich mit der vorliegenden Studie in mehrfacher Hinsicht von der bisherigen Forschung zur Emigration der deutschen Juden ab: durch die Einbeziehung der Auswanderung vor 1933, die vergleichende Betrachtung der drei Staaten, die Diskussion der Einwanderungspolitik der jeweiligen Aufnahmeländer sowie die Untersuchung der individuellen Motivationen, Entscheidungsprozesse und Begegnungen mit den Gesellschaften der Zielländer.

Wie Lavsky in ihrer Einleitung argumentiert, ist ein solch komparatives Vorgehen im Bereich der Migrationsgeschichte bereits üblich, weniger jedoch im Bereich der jüdischen Migrationsgeschichte. Dies sei vor allem auf die Annahme zurückzuführen, dass es sich bei jüdischen Migrationen überwiegend um Flucht gehandelt hätte. Daher, so Lavsky, seien jüdische Migrationsbewegungen bisher zu wenig mithilfe von migrationsgeschichtlichen und vergleichenden Fragestellungen untersucht worden. Als extremes Beispiel erwähnt Lavsky die Untersuchungspraxis, die auf der Annahme beruht, dass der hebräische Begriff Aliyah eine Sonderform der Migration impliziert: die Einwanderung nach Eretz Israel und in den späteren Staat Israel seien demnach eine einmalige und daher nicht vergleichbare Sonderform der Migration. Im Gegensatz zu dieser nach wie vor vorherrschenden Tendenz der Forschung geht Lavsky davon aus, dass sich jüdische Migration nach Palästina bzw. Eretz Israel nicht prinzipiell von anderen Migrationsbewegungen unterscheidet. Damit schließt sie sich unter anderem dem israelischen Historiker Gur Alroey an, der dieses Paradigma und seine Auswirkung auf die israelische Historiographie in Frage gestellt hat. Weiterhin geht Lavsky davon aus, dass es sich bis 1938 bei der Auswanderung der Juden aus Deutschland nicht um Flucht, sondern um eine – wenn auch ungewollte und zusehends eingeschränkte – Form der geplante Emigration handelte. Ausgehend davon untersucht sie dezidiert die Motivation, den Zeitpunkt und die Prozesse der Entscheidung zur Auswanderung in die jeweiligen Zielländer in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus.

Lavsky beginnt mit einem knappen Kapitel, in dem sie die vielschichtigen Verbindungen von Geschichte und Erinnerung (Kapitel 1) untersucht. Hier beobachtet sie unter Bezugnahme auf die zweite und dritte Generation die besonderen Charakteristika, die die deutsch-jüdischen Einwanderer in Israel ausgebildet haben. Deren Situation, was Sichtbarkeit, Selbstverständnis und gesellschaftspolitische Ambitionen angeht, unterscheidet sich stark von den Nachfahren deutscher Juden in den USA und England, wie Lavsky zeigt. In den folgenden vier Kapiteln zeichnet sie die Bedingungen der Aus- und Einwanderung nach und stellt zunächst die Einwanderungspolitik der jeweiligen Länder sowie den Umfang der erfolgten jüdischen Einwanderung vor (Kapitel 2). Anschließend stellt sie wiederum knapp die Push-Faktoren für die Auswanderung dar (Kapitel 3) und periodisiert und quantifiziert die Auswanderung (Kapitel 4). Im fünften Kapitel widmet sie sich wiederum dem jeweiligen demographischen und sozio-ökonomischen Profil der Immigranten in den drei Ländern.
In den folgenden Kapiteln widmet Lavsky sich den Fragen der Absorption und Integration der Einwandernden. Sie skizziert zunächst detailreich die jeweiligen Bedingungen und Methoden der Absorption in den Aufnahmeländern (Kapitel 6) und stellt die strategischen Vorteile der Einwanderung nach Palästina heraus, die unter anderem auf der herausragenden Leistung eines eigens etablierten Absorptions-Apparates im jüdischen Gemeinwesens in Palästina (Yishuv) beruhen.

In den anschließenden drei Kapiteln, Kapitel sieben bis neun, untersucht Lavsky die jeweiligen Begegnungen der Einwandernden mit ihren neuen Heimatländern, die dabei auftretenden spezifischen Konflikte sowie den Grad an Integration, der erreicht werden konnte. Lavsky arbeitet hierbei heraus, dass die Masseneinwanderung der deutschen Juden an die aufnehmenden Behörden in allen drei Zielländern große Herausforderungen stellte und gewaltige Anstrengungen unternommen wurden, um eine geordnete Absorption zu gewährleisten. Palästina, so das Ergebnis ihres Vergleiches, konnte dabei auf eine Reihe von vorteilhaften Rahmenbedingungen zurückgreifen, die die Aufnahme der Migrantinnen und Migranten erleichterten, so zum Beispiel die zunächst liberale Einwanderungspolitik der britischen Mandatsmacht, die Unterstützung des Yishuvs für die Einwanderung aus Deutschland sowie die bereits erwähnte einzigartige Infrastruktur für die deutsch-jüdische Einwanderung in Form ihres eigenen Absorptions-Apparates.

In ihrem Schlusskapitel fasst Lavsky die Ergebnisse ihrer vergleichenden Studie zusammen. Die Emigrantinnen und Emigranten nach Palästina, in die USA und nach England unterschieden sich in vielerlei Hinsicht, so etwa nach Alter, Berufsspektrum und sozio-ökonomischem Status sowie dem Zeitpunkt der Auswanderung. Gemein war den Emigrantinnen und Emigranten, dass sie in allen Ländern einen erheblichen Statusverlust erlitten und sich mühsam und über Jahre hinweg einen ähnlichen Status erst wieder erarbeiten mussten. Konflikte mit der ansässigen jüdischen wie nicht-jüdischen Bevölkerung kamen ebenfalls in allen Ländern zum Vorschein.

Die Bedingungen für die Einwanderung durch die jeweilige Politik des Aufnahmelandes und die Haltung von Staat und Gesellschaft gegenüber den Neuankömmlingen waren sehr unterschiedlich. In Palästina war die Absorption Lavsky zu Folge am besten organisiert, in England am schlechtesten. In Palästina, so Lavsky, war die kurz- und langfristige Bedeutung der Einwanderung am stärksten. Die Immigrantinnen und Immigranten trugen hier maßgeblich zu einer Modernisierung der Gesellschaft bei. In Anbetracht der geringen Größe des Yishuvs und des hohen Niveaus der landsmannschaftlichen Organisierung war hier der Beitrag der Einwandernden am deutlichsten sichtbar.

Die USA und England profitierten zwar auch z.B. vom Know-how der einwandernden Fachleute und Akademiker und Akademikerinnen, aber die Bedeutung der Einwanderung für diese Länder war weitaus geringer. Dagegen war der Kulturschock für die deutschen Juden in Palästina sehr viel größer, als für diejenigen, die in die vergleichsweise ähnlich geprägten westlichen Gesellschaften Amerikas und Englands einwanderten.

Während Palästina als Einwanderungsziel nach Lavsky eine herausragende Rolle spielte, was sich am hohen Selbstbewusstsein der Gruppe in diesem Land ablesen lasse, war die Lage in Großbritannien eine deutlich andere. Zwar waren auch hier die Einwanderer eine sichtbare Gruppe in der aufnehmenden Gesellschaft, aber das Misstrauen, das ihnen von Seiten der englischen Bevölkerung entgegengebracht wurde, führte zu einem geringeren Selbstwertgefühl der Einwanderer und einer schlechteren Selbstwahrnehmung. Ganz im Gegensatz zum Narrativ in Palästina, das die deutsch-jüdischen Einwanderer zu stolzen Immigranten und wichtigen Beiträgern zum Aufbau des Staates und der Kultur stilisierte, entwickelte sich ein ähnliches Narrative im britischen Kontext nicht.

Die beste Integration gelang Lavsky zufolge den deutsch-jüdischen Immigrantinnen und Immigranten in die USA. Diese Diaspora sei heute fast vollständig verschwunden, da die Immigrantinnen und Immigranten und ihre Nachfahren kaum ein ausgeprägtes deutsch-jüdisches Selbstverständnis bewahrt hätten. Im Gegensatz dazu sei die ausgeprägteste und langlebigste deutsch-jüdische Diaspora eindeutig in Israel zu verorten – durch die Aktivitäten der zweiten und dritten Generation bis zum heutigen Tag.

Mit The Creation of the German-Jewish Diaspora ist Hagit Lavsky eine klar strukturierte, präzise formulierte und auf breiter Quellenbasis argumentierende Studie gelungen, die sich hoffentlich zu einem Standardwerk für die Forschung der Emigration der deutschen Juden entwickeln wird. Gerade in Deutschland erstellte Studien zur Einwanderung nach Palästina konzentrieren sich fast ausschließlich auf die individuellen Binnenperspektiven der Immigranten; es mangelt diesen Studien jedoch oft an Wissen über die Einwanderungspolitik, die aufnehmende Gesellschaft und ihre Institutionen. Mit der auf Englisch und nicht Hebräisch verfassten Darstellung stellt Lavsky der Emigrationsforschung ein wichtiges Werk zur Verfügung, dass die essentielle Bedeutung der Einwanderungspolitik beleuchtet, ohne dabei die Perspektive der individuellen Einwanderer auszublenden.

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