: Bach. Musik für die Himmelsburg. München 2016 : Carl Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-24619-5 734 S. € 34,00

: Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum. Berlin 2017 : Siedler Verlag, ISBN 978-3-8275-0086-1 509 S. € 26,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Unterschiedlicher als diese beiden Monographien können Werke, die eine biographische Annäherung an einen Komponisten versprechen, kaum sein. Hat das eine nicht nur einen praktizierenden Musiker zum Autor, sondern den als Dirigenten wohl bedeutendsten Popularisierer des Vokalwerkes von Johann Sebastian Bach in den vergangenen Jahrzehnten, so ist das andere von einem Musikwissenschaftler verfasst, der nicht zuletzt auch in der Bachforschung ausgewiesen ist. Wendet ersteres sich mit den Kantaten, den Passionen und der h-moll-Messe einem Teil des Bachschen Werkes zu, so versucht das andere, Beethoven mittels der Rezeption von Werk und Wirken des Komponisten nahezukommen. Es ist wohl kein größeres Lob möglich, als dass beide Werke den Rezensenten zum aufmerksamen Hören der im Detail vorgestellten oder in ihrer Bedeutung analysierten Werke angeregt haben. Überall bemerkt man, in welch ungeheurem Maße Gardiner von Bach enthusiasmiert ist, auf fast jeder Seite Superlative und Betonung der Einmaligkeit des von ihm Geschaffenen. Nicht ohne Enthusiasmus ist auch Geck, doch ist bei ihm eine deutlich größere Distanz erlebbar, die der intellektuellen Erfassung dessen, was durch Beethoven in die Welt kam, günstig ist.

Eingangs beschreibt Gardiner sein eigenes Verhältnis zum Bachschen Werk. Er erwähnt am Beispiel von Karl Richter und dem Münchner Bach-Chor eine Aufführungspraxis, die dazu beigetragen habe, dass Bachs Musik „düster, trist und seelenlos“ gewirkt habe, „ohne Humor und menschliche Züge. Wo waren die festliche Freude und ansteckende Begeisterung dieser tänzerischen Musik?“ (S. 43) Es ist eigentlich keine Biographie, die hier geboten wird, eher handelt es sich um porträtierende Skizzen, die vom Vokalwerk ausgehen, selbst von einer musikalischen Biographie kann man nicht sprechen, denn das Instrumentalwerk spielt keine Rolle. Es ist wohl die eigentliche Leistung des Werkes, dass Gardiner mit dem Mittel seiner Musikinterpretation tradierte Eindrücke und Urteile über Werk und Person Bachs zu korrigieren bemüht ist. Den landläufigen Vorstellungen entgegengesetzt, beschreibt Gardiner Bachs Musik, verwurzelt im mitteldeutschen Luthertum, als sehr lebensfroh, keineswegs sei dieser Komponist ein Griesgram, er habe bei allem Ärger viel gelacht, zugleich sei er unglaublich fromm gewesen. Als Mensch habe ihm die Gabe der Diplomatie gefehlt, manche der Demütigungen durch seine Dienstherren hätte er nach Ansicht seines Biographen vermeiden können. Viel wohler, meint Gardiner, habe Bach sich in Leipzig erst später mit seinem Rückzug von der Kirchenmusik und den regelmäßigen Konzerten im Kaffeehaus gefühlt. Beschrieben wird Bach als genialer Komponist geistlicher Musik, seine Passionen und Kantaten seien genuines Musiktheater von „unglaublicher Dramatik“, in ihnen habe sich „die gewaltige Vorstellungskraft“ Bachs Bahn gebrochen. Die Ausdruckskraft der Kirchenmusik führt Gardiner nicht zuletzt auf die Wesensverwandtschaft mit Luther zurück, beiden habe Widerständigkeit Freiheit und Unabhängigkeit des Werkes ermöglicht.

Anders nähert sich Geck Beethoven an; geschaffen hat er ein wahrlich merkwürdiges Buch, in dem er es in oft atemberaubender Weise unternimmt, das Universum Beethoven auszuleuchten, dessen Zentrum das musikalische Werk ist und dessen Kernbestand aus unterschiedlichsten Richtungen betrachtet und erschlossen wird. Ausgangspunkt ist die These, dass Philosophen und Literaten es immer wieder vermöchten, erhellend über Musik zu schreiben, ohne über profunde musikalische Spezialkenntnisse zu verfügen (S. 430). Geck will Beethovens Musik zum Nabel der Welt machen, nicht „weil man sie gleich derjenigen Bachs als ein Abbild höherer Schöpfungsordnung ansehen könnte. Sondern weil es um eine zutiefst menschliche Schöpfung geht – mit all ihren Höhenflügen und Verzagtheiten, Kampfesgesten und Friedensbotschaften“ (S. 9).

Die Annäherung erfolgt in zwölf jeweils einem thematischen Schwerpunkt gewidmeten Kapiteln, eingerahmt von einem Vorwort und einem Epilog, der betitelt ist „Und wo bleibt Goethe?“ Eine berechtigte Frage, denn die Erkundung des Universums erfolgt, indem Beethoven in jedem der Kapitel in seinen wie auch immer gearteten Beziehungen zu jeweils drei Personen vorgestellt wird; unter den herangezogenen 36 Personen fehlt – jedenfalls bis zum Epilog – der Weimarer Dichter. Das Ziel Gecks besteht darin, als ein Sänger „im Chor der vielen Stimmen“ zu schreiben, die sich originell zu Beethoven geäußert haben oder bis in die Gegenwart hinein durch ihr eigenes künstlerisches Werk Licht auf dessen Werk zu werfen vermögen (S. 8).

Las ich das Inhaltsverzeichnis mit den dort genannten Personen höchst unterschiedlichen Charakters zunächst mit der Befürchtung, mich erwarte Bildungsprotzerei, so wich diese mit der Lektüre der Begeisterung angesichts der erhaltenen Anregungen. Um einige Beispiele zu nennen, die das Vorgehen verdeutlichen. Das erste Kapitel „Titanismus“ stellt naheliegenderweise Napoleon Bonaparte in den Mittelpunkt, gemeinsam mit Wilhelm Furtwängler und Lydia Goehr. Das Kapitel „Festigkeit“ dreht sich um Johann Sebastian Bach, Aldous Huxley und Glenn Gould, das Kapitel „Lebenskrisen, Gottergebenheit, Kunstfrömmigkeit“ um Johann Michael Sailer, Karl van Beethoven und „Die ‚unsterbliche‘ Geliebte“, das Kapitel „Utopien“ endlich um Richard Wagner, Thomas Mann und Hans Eisler. Nie kommt das Gefühl einer Beliebigkeit auf, sondern der Leser nähert sich mit jedem Kapitel der Lebensgeschichte, Persönlichkeit und dem Werk Beethovens stärker an, so dass er, obwohl hier eigentlich gar keine Biographie geboten wird, das Gefühl wachsenden Verständnisses für die historische Figur und sein Werk erhält. Erstaunlich, wie Geck sich in der Auseinandersetzung mit den musikalischen Werken und deren unterschiedlichsten Deutungen immer wieder auch der historischen Person nähert, wenn er zur Schlussfuge der Hammerklaviersonate meint, man dürfe durchaus spekulieren, dass sich in ihr Wut und existenzielle Verzweiflung entladen: „Ich sehe den kleinen Ludwig vor mir, der vom Vater zum Klavierspiel ‚stränng angehalten‘ wird“ (S. 263f.).

Auch wenn es häufige Rückbezüge gibt, kann man dieses Buch mit dem Lesen eigentlich jedes beliebigen Kapitels beginnen und mit einem anderen beliebigen fortsetzen, ohne dass dies das Verständnis beeinträchtigt. Meisterhaft sind die integrierten Analysen einzelner Werke Beethovens, die der Autor trotz seines Anspruchs, ein allgemeinverständliches Buch zu schreiben (S. 379), mit zahlreichen Notenbeispielen begleitet.

Bleibt Geck nahe an den Quellen, so versucht Gardiner phantasievoll die Rekonstruktion einzelner biographischer Daten und Stationen, über die man quellenbasiert so wenig weiß wie bei wenigen anderen Komponisten. Vieles beruht auf begründeten Vermutungen und originellen Interpretationen des in der Forschungsliteratur Gebotenen. Man könnte dieses Buch – durchaus lobend – auch „Spekulationen über Bach“ betiteln, jedoch weiß Gardiner ganz genau, dass es angesichts der wenigen gesicherten biographischen Daten lediglich des Zufallsfundes eines bislang unbekannten Schriftstückes bedürfen könnte, um das von ihm gemalte vorläufige Bild ins Wanken zu bringen (S. 650).

Zeithistorisch bindet Gardiner das Leben und Wirken Bachs durch das Kapitel „Die 85er“ ein, in dem er die anderen in diesem Jahr geborenen bedeutenden Komponisten Domenico Scarlatti und Georg Friedrich Händel, den 1683 geborenen Jean-Philippe Rameau sowie die schon 1681 geborenen Johann Mattheson und Georg Philipp Telemann zu seinem ebenfalls 1685 geborenen Helden in Beziehung setzt. Von vorangegangenen Generationen hätten sich diese Komponisten nicht nur durch herausragendes Talent unterschieden, sondern auch durch die ganz neuen Möglichkeiten, die sich ihnen als erste Musikergeneration geboten hätten, die auf das verblassende Gespenst des Krieges aus sicherem Abstand zurückblicken konnte (S. 141). Gardiner geht auf die unterschiedlichen Musikkulturen ein, in die diese Musiker und Komponisten hineingeboren worden waren, und betont den gemeinsamen Bezugsrahmen Oper. Jeder einzelne der „85er“ habe die Qual der Wahl gehabt, den traditionellen Weg der italienischen Oper zu gehen und eine Musik von „sanft fokussiertem Wohlklang“ zu schaffen, sich die hervorstechenden Merkmale der opera seria anzueignen und damit sensationelle Erfolge zu feiern oder die typisch französische Ausprägung der Oper à la Lully in die Form eines gesungenen, nahezu durchkomponierten Dramas zu überführen und dadurch den Weg für die ‚Opernreform‘ Glucks und später für Mozarts erste große Synthese aus Musik, Drama und Handlung zu bereiten (S. 177f.). Man habe sich aber auch – wie Bach – die Vorläufer in der modernen, auf Kirchenkantaten angewandten Form Neumeisters aneignen können, um die Tür zu neuen „unglaublich fruchtbaren dramatischen Möglichkeiten aufzustoßen“. Wie dies bei Bach geschieht, macht den Hauptteil von Gardiners Buch aus, wenn er voller Begeisterung die Qualitäten von Bachs Kantaten, Passionen und der Messe vorstellt. Hier entdeckt er immer wieder Passagen, in denen Bach die Maske fallen lasse und durch die Musik seine Persönlichkeit durchscheine, Passagen, in denen sich ein Fenster auf seine vielfältigen Stimmungen auftue (S. 652).

In einem biographischen Werk, das völlig zu Recht betont, Bach habe sein eng mit der Musik in der Oper verwandtes Kantatenwerk nach seinem eigenen Selbstverständnis zur Ehre Gottes geschaffen, hätte man sich gewünscht, dass die zeitgenössische Diskussion über die Entwicklung der Kirchenmusik ein wenig stärker einbezogen worden wäre. Insgesamt wird man auch sagen dürfen, dass Gardiner den Quellen, durch die er über die Musikverhältnisse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterrichtet ist – Musikpublizistik, musikkritische Werke und Musikerbiographien – nicht die verdiente Ehre widerfahren lässt, wenn er etwa beständig kluge Urteile und Beobachtungen Johann Matthesons vorträgt, diese aber fast stets mit hämischen Kommentaren bedenkt. Aus der Sicht des Pressehistorikers sei erwähnt, dass die Publizistik, die für die Musikentwicklung und die öffentliche Debatte über Musik im 18. Jahrhundert so elementar wichtig war, von Gardiner praktisch gar nicht thematisiert wird, lediglich erfährt der Leser einmal von Meldungen Hamburger Zeitungen über Bachs Umzug nach Leipzig, wofür Gardiner gar meint, einen „Sonderberichterstatter“ annehmen zu dürfen (S. 254). Bemerkenswert hingegen, welcher Quellenreichtum in dem Werk Gecks Berücksichtigung gefunden hat; hier erfährt man, welche Bedeutung die Musikpublizistik, die allgemeine Zeitschriftenpresse und selbst die Tageszeitungen im 19. Jahrhundert für Deutung und Interpretation musikalischer Werke erhalten haben und wie sie das aktuelle Musikgeschehen begleiten (siehe nur die Beispiele auf den S. 52, 102, 138, 160, 199f. 206, 213, 214, 216, 274, 275, 381, 382, 383, 387, 394, 395, 396, 410, 415), wie in ihr der musiktheoretische und kulturelle Diskurs zusammengebracht wird (S. 207) oder wie über Musikerpersönlichkeiten diskutiert wird.

Insoweit Gardiner seinen Lesern die Vokalmusik Bachs in all ihrer Schönheit zu vermitteln bemüht ist, handelt es sich um ein sympathisches und instruktives Buch, dem in der einhellig enthusiastischen Feuilletonkritik bescheinigt wurde, gegen den Heiligenkult um Bach opponiert zu haben, wie er seit dem 19. Jahrhundert gepflegt worden sei. Stattdessen interessiere sich Gardiner für den Menschen mit seinen Ecken und Kanten. So richtig letzteres auch ist, scheint es dem Rezensenten doch, als doppele Gardiner auf den traditionellen Heiligen- und Geniekult noch einmal auf. Natürlich hat Gardiner jedes Recht, seinen Helden über alles je Dagewesene zu stellen, doch würde Bach vielleicht noch sehr viel größer erscheinen, machte Gardiner nicht alles um ihn herum mit abfälligen Urteilen so entsetzlich klein, Urteile, die, nebenbei gesagt, ausnahmslos denen des ersten Bachbiographen Spitta1 verpflichtet sind. Kritik an Bach, die Zeitgenossen doch tatsächlich übten, krankt stets an „beschränkten begrifflichen Möglichkeiten“ der Kritiker (S. 288). Kaum eine Möglichkeit wird ausgelassen, die Konkurrenten Bachs mit Häme zu bedenken. Zum zeitgenössisch üblichen Parodieverfahren, das für den Parodierten als höchst ehrenvoll galt, bemerkt Gardiner etwa, es möge im 18. Jahrhundert völlig akzeptabel gewesen sein, sich von den literarischen oder musikalischen Einfällen anderer inspirieren zu lassen, aber Bach habe es, anders als Händel, nicht nötig gehabt, „die ungeschliffenen Kiesel anderer in Diamanten zu verwandeln“ (S. 608). Bachs Musik mit ihrem „so viel mehr emotionalen Tiefgang“ wird beschrieben „im Vergleich etwa zur seichten Affektiertheit und dem Mangel an zielgerichtetem harmonischen Drive Telemanns“ (S. 653), gesprochen wird von den „Easy-Listening-Kantaten“ der Bachkollegen Telemann, Graupner und Fasch“ (S. 260). Wie wenig für Gardiner Werkkenntnis zwingende Voraussetzung für ein redliches Urteil ist, verrät sein Wort, man könne nur „abgetörnt und entnervt“ sein angesichts einer Oper über die Piraten Störtebecker und Jödge Michels aus der Feder von Reinhard Keiser, aufgeführt 1701 (S. 151). Hier hätte darauf hingewiesen werden können, dass für ein Urteil über ein musikalisches Kunstwerk auch die Kenntnis der Komposition gehört. Die aber ist gar nicht überliefert, bekannt ist allein das Libretto. Man denke sich ein Urteil über die Zauberflöte, das sich allein auf die Kenntnis des von Schikaneder gelieferten Textes stützt.

Besonders geschmacklos ist, wie Gardiner am Ende seines Buches noch einmal „die Runde unter den 85ern“ macht, die inzwischen alle in den Sechzigern und bei unterschiedlicher Gesundheit und Schaffenskraft sind. So heißt es über die beiden Hamburger Kollegen Bachs: „Mattheson ist taub, was seiner unermüdlichen Polemik jedoch keinen Abbruch tut, und Telemann schreibt und schreibt und schreibt.“2 Nachdem Telemann im Alter von 74 Jahren sein Hobby, Geranien anzupflanzen, aufgegeben habe, erfahren wir weiter, habe er sich wieder verstärkt „bezahlten Auftragskompositionen“ zugewandt, „vielleicht um die standesgemäße Garderobe seiner zweiten Frau zu finanzieren“ (S. 645). Dass Telemann zu diesem Zeitpunkt von dieser zweiten Frau – inzwischen längst wieder in Frankfurt am Main lebend – seit Jahrzehnten geschieden ist, erfährt man in der Telemann-Biographie Siegbert Rampes, die diesem Komponisten eine auf Werkkenntnis beruhende gerechte und vorurteilslose Würdigung zuteilwerden lässt.3

Im Vergleich mit Gardiners Werk ist es wohltuend, wie Geck den Leser in das Universum der Beethovendeutungen einführt, die er – auch wo er sie nicht teilt – niemals abwertend, sondern stets mit Respekt und um Verständnis bemüht vorträgt und nach den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fragt, unter denen sie entstanden sind. Auch wenn im Mittelpunkt dieses Buches steht, wie andere das Werk Beethovens begriffen haben, hält der Autor eigene Urteile nicht zurück, wenn er beispielsweise von der politischen Anfälligkeit der Musik Beethovens spricht, die als Ideenkunst ihre Hörer nicht nur auf hohem Niveau unterhalten, sondern erklärtermaßen für das Edle und Bessere gewinnen wolle (S. 34).

Ein abschließendes Urteil: Man wird Gardiners Werk hagiographisch nennen dürfen. Die Materiallage für ein Lebensbild ist durch die Analyse von Bachs geistlichen Vokalwerken sicher nicht wesentlich größer geworden als vorher, die Art, wie dieses Werk dem Leser nahegebracht wird, ist anregend. Es bleibt aber die Frage, ob dabei der barocke Werkbegriff nicht gar zu sehr zugunsten moderner Vorstellungen vernachlässigt wird. Enthusiastische Begeisterung macht es dem Biographen offenbar unmöglich, sich vorzustellen, dass auch ein Genie erst zu einem großen Künstler wird, weil es Hunderte andere Komponisten gibt, ohne die ein musikalischen Leben, Innovationen und Anregungen undenkbar sind. Das Werk steht mit seinem Geniekult in der Tradition von Bachverehrern, der auch durch die intelligente Ironie der Musikgeschichte charakterisiert ist, dass schon mehr als einer vermeintlichen Bach-Kantate ein enthusiastisch-detailliertes Lob fast jeder einzelnen Note zuteilwurde, bis sie sich als tatsächlich von Telemann gesetzt bewiesen hat.

Gecks Werk ist uneingeschränkt anregend. An vielen Stellen ist man überrascht, wie sehr es sich bei der Beethoven-Rezeption um eine sehr deutsche Geschichte handelt, denkt man nur an die Verehrer dieses Komponisten Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann, an „Metaphysik, Irrationalismus, Gemütstiefe, deutsche Seele, Ethos der Musik und speziell derjenigen Beethovens“ (S. 27). Dem aus Deutschland vertriebenen Artur Schnabel ist im Kapitel „Virtuoses Klavierspiel im Zeichen Beethovens“ ebenso ein eigenes anrührendes Teilkapitel gewidmet wie der Pianistin Elly Ney, über die Wilhelm Hauenstein schrieb: „Sie ist das Exemplar eines ebenso dummen wie talentierten Künstlertums; ihr Hitlerismus war die aufgelegte Blödheit (vielleicht auch mit einiger Hysterie vermischt) und ist, wenn überhaupt, so aus der Blödheit zu einem Teil exculpabel“ (S. 409). An ihr sieht Geck die „heillose Allianz von Beethoven-Kult und nationalsozialistischer Kriegsideologie“ besonders sichtbar werden (S. 409f.).

Martin Gecks Buch lehrt nicht zuletzt, Musik auch und besonders vom Hörer her zu denken, denn, so das Credo, es sei an diesem, mit den vielfältigen Signalen umzugehen, welche die Musik als ein klingendes Ereignis aussende. Den potenziell lebensgeschichtlichen Hintergrund des Komponisten, so meint Geck, sollte er überhaupt nur wahrnehmen, wenn er ihm einen Erfahrungshorizont erschließe, der ihm den Zugang zur Musik erleichtere, auf ihn selbst treffe dies jedenfalls zu. Zwar erkläre ein solcher Zugang ebenso wenig, wie rein technische Analysen es vermöchten, doch böte er Identifikationsmöglichkeiten, die sein Erleben von Musik „menschlicher“ machten: „Womöglich finde ich schon morgen einen anderen Zugang. Dergleichen lässt sich nicht objektivieren“ (S. 265f.). Die Vorstellung, man könne die Musik eines Komponisten aus seiner Lebenswelt verstehen, gerate allerdings auch an Grenzen, da unsere Sensibilität für musikalische Vorgänge auf Erfahrungen beruhe, die tief ins kollektive Unbewusste reichten (S. 380). Seine eigene Sicht auf das Werk Beethovens verrät Geck nicht nur mit seinem Schlusssatz: „Leidenschaftlich und kämpferisch steht Beethovens Musik für ein Glück ein, das es noch zu erringen gilt.“

Anmerkungen:
1 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, 2 Bde., Leipzig 1873/80.
2 Siehe dazu Holger Böning, Zur Musik geboren. Johann Mattheson. Sänger an der Hamburger Oper, Komponist, Kantor und Musikpublizist. Eine Biographie, Bremen 2014.
3 Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch