Auf den ersten Blick zählt die nationalsozialistische ‚Sturmabteilung‘ (SA) nicht unbedingt zu den offensichtlichen Forschungslücken der Zeitgeschichte. Zahlreiche Autorinnen und Autoren haben sich bereits mit diesem Thema befasst und dabei teilweise Arbeiten hervorgebracht, die sich ohne weiteres zu den ‚Klassikern‘ der Zunft zählen lassen.1 Eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Geschichte der SA von ihren Anfängen im Jahr 1920 bis 1945 erschien allerdings erst im Jahr 1989 mit Peter Longerichs ‚Braunen Bataillonen‘ – einem Werk, welches den bis dahin erreichten Forschungsstand zur SA widerspiegelte und das seit nunmehr fast 30 Jahren die Rolle des einschlägigen Standardwerks ausfüllt.2 Mit der überarbeiteten Fassung seiner 2016 in Bielefeld eingereichten Habilitationsschrift präsentiert Daniel Siemens nun einen würdigen und noch dazu sehr gut lesbaren Nachfolger für diese Position. Ein neues Standardwerk zur Geschichte der SA erscheint dabei insofern gerechtfertigt, als dass eine jüngere Generation von Historikerinnen und Historikern in den letzten Jahren durch zahlreiche neue Spezial- und Regionalstudien frische Erkenntnisse erarbeitet hat, die zum Teil bisherige Gewissheiten in Frage stellten.3
Für sein neues Buch hat Siemens nicht nur umfassend und gründlich die bisher veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte der SA ausgewertet und durch eigene Quellenstudien angereichert, sondern konnte auf Grund seiner exzellenten Vernetzung in diesem Forschungsfeld zum Teil auch auf erste Ergebnisse derzeit noch laufender Forschungsprojekte zurückgreifen. Die Arbeit erfüllt bereits damit eine grundlegende Anforderung an derartige Gesamtdarstellungen souverän: sie bietet einen exzellenten Einstiegs- und Abholpunkt für alle, die sich der Geschichte der SA auf Grundlage des aktuellen Forschungsstands nähern wollen. Auch und gerade deshalb ist es allerdings etwas unverständlich, dass am Ende des Buches auf eine Auflistung der verwendeten Quellen und Literatur verzichtet wurde, denn das zwingt die Leserinnen und Leser dazu, sich diese bei Bedarf mühsam aus den sehr umfangreichen Fußnoten herauszudestillieren.
Seine Darstellung teilt Siemens dabei in vier Teile, die jeweils verschiedene zeitliche Entwicklungsstufen der SA – nach Ansicht des Autors handelt es sich vielmehr um mehrere verschiedene Sturmabteilungen – behandeln. Luzide schildert er im ersten Teil des Buches, wie die SA zunächst als paramilitärischer Wehrverband in den unruhigen Anfangsjahren der Weimarer Republik entstand, sich – nach dem ‚Hitler-Putsch‘ von 1923 zunächst schwer angeschlagen – nach 1925/26 das erste Mal neu erfand um dann, wieder erstarkt, Anfang der 1930er-Jahre dem Nationalsozialismus zur Macht zu verhelfen. Teil zwei beschäftigt sich dann mit der Rolle der SA nach der ‚Machtergreifung‘ bei der Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft und den zahlreichen Konflikten, welche sich im Zuge dieser Konsolidierung der Macht zwischen den Vorstellungen der NS-Führung und denen der vielfach stark radikalisierten SA-Mitglieder ergaben, die dann letztlich auch den Ausschlag für die Ermordung der mächtigen SA-Führung im Zuge des ‚Röhm-Putsches‘ gaben.
Diese erste Hälfte des Buches erzählt folglich den bereits überwiegend gut erforschten Teil der Geschichte der SA und bietet daher vor allem eine aktuelle und gut geschriebene Erzählung auf Grundlage der umfangreichen bisherigen Forschung. Doch auch auf diesen scheinbar ausgetretenen Pfaden kann Siemens einige neue und spannende Akzente setzen. Etwa wenn er auf die in der SA bereits früh ausgeprägt vorhandenen ‚Borderland Mentalities‘ hinweist, die eine bislang wenig beachtete Konstante des Selbstverständnisses der ‚Braunhemden‘ darstellten und, wie er später überzeugend aufzeigt, insbesondere nach 1934 einen Grundstein für den begrenzten Wiederaufstieg der Organisation außerhalb der alten Reichsgrenzen legten, oder die bislang unterschätzte Rolle von Frauen in der Frühphase des nationalsozialistischen Männerbundes beschreibt.
Insgesamt betrachtet sind es aber die darauffolgenden Kapitel, die sich mit der SA nach 1934 befassen, die den besonderen Mehrwert des Buches ausmachen, weil die bisherige Forschung die Geschichte der Organisation ganz überwiegend nur bis zum Jahr 1934 – dem Zeitpunkt des ‚Röhm-Putsches‘ – intensiv betrachtet hat, die ‚zweite Lebenshälfte‘ der SA in den Jahren zwischen 1934 und 1945 in der Regel allerdings bestenfalls beiläufig streifte.4 Denn nach der bislang gängigen Auffassung erfuhren die ‚Braunhemden‘ als vermeintlich „gezähmte Parteiarmee“ nach 1934 einen enormen Bedeutungsverlust, von dem sie sich nie wieder erholten und der sie für den Rest der nationalsozialistischen Herrschaft zunehmend in der Bedeutungslosigkeit versinken ließ.5
Dem aber widerspricht Siemens entschieden und macht es zu einem der Hauptanliegen seiner neuen Gesamtdarstellung, diese These vom totalen Bedeutungsverlust der SA nach 1934 gründlich zu widerlegen. Siemens zeigt überzeugend, dass die nach 1934 vermeintlich unbedeutende SA spätestens Ende der 1930er-Jahre tatsächlich wieder an Bedeutung gewann und innerhalb des NS-Herrschaftssystems neue Nischen und Aufgaben suchte – und diese auch fand. Er beschreibt eindrücklich, wie die SA an der Peripherie des Dritten Reiches, in den Grenzregionen des ‚Volkstumskampfes‘ und dabei vor allem in den ‚Anschlussgebieten‘ – also in Österreich, im Sudeten- und im Memelland – gerade Ende der 1930er-Jahre erheblichen Zulauf hatte und so trotz der Zäsur des ‚Röhm-Putsches‘ bis kurz vor Kriegsbeginn 1939 signifikante Teile der männlichen deutschen Bevölkerung in ihren Reihen zu ‚deutschen Männern‘ im Sinne des Nationalsozialismus erzog.
Ein eigenes Kapitel widmet Siemens den vielfältigen Aktivitäten der SA-Führung bei dem Versuch, den angestrebten ‚Lebensraum im Osten‘ nach ihren Vorstellungen zu strukturieren. Er zeigt dabei, dass die SA, auch wenn andere, konkurrierende Akteure schließlich die Federführung in diesem Bereich übernahmen, wichtige Impulse zu diesem Prozess beisteuerte. Auch die ‚SA-Diplomaten‘, also diejenigen SA-Führer, die überwiegend nach Kriegsbeginn die Interessen des NS im Ausland vertraten, behandelt Siemens ausführlich und zeigt, wie ihre politische Radikalität – die oft in einem krassen Gegensatz zu ihren diplomatischen Fähigkeiten stand – mehr als einmal einen entscheidenden Beitrag dazu leistete, die Vernichtung der europäischen Juden auch außerhalb des unmittelbaren Herrschaftsbereichs des NS voranzutreiben.
Ein längeres Kapitel widmet sich schließlich der SA im Zweiten Weltkrieg. Hier zeigt Siemens überzeugend, dass sich für die Organisation durch die massenhafte Einberufung ihrer Mitglieder in die Wehrmacht zwar umgehend erhebliche Probleme im tagtäglichen Betrieb in der Fläche des Reiches ergaben, daraus aber keineswegs umstandslos auf einen Bedeutungsrückgang geschlossen werden sollte. Vielmehr eröffneten sich auch und gerade durch den Krieg für die SA zahlreiche neue Handlungsfelder, welche ihre Führung unmittelbar zu besetzen suchte. So weist Siemens etwa darauf hin, dass die ‚Braunhemden‘ sich seit 1939 für die verpflichtende vormilitärische Ausbildung zuständig zeichneten und so ganze Kohorten deutscher Männer in ihren ‚Wehrmannschaften‘ fit für den Krieg machte. Zudem beschreibt er auch die verschiedenen Formen aktiver – wenn auch insbesondere zu Beginn des Weltkrieges eher improvisiert wirkender – Kriegsbeteiligung verschiedener SA-Einheiten. Trotzdem die Ambitionen der SA-Führung, aus der Standarte ‚Feldherrenhalle‘ eine eigene militärische Großformation unter eigenem Kommando zu errichten, bereits früh scheiterten, leistete die große Zahl der mit Kriegsbeginn eingezogenen SA-Männer offenbar einen erheblichen Beitrag zur ideologischen Stabilisierung der Wehrmacht. Darüber hinaus erfüllten – auch und gerade in Gebieten des ‚Großdeutschen Reiches‘, in denen die deutsche Bevölkerung nicht die Mehrheit stellte – die ‚Wehrmannschaften‘ der SA eine mit dem Kriegsverlauf immer wichtiger werdende Hilfspolizeifunktion bei der gewaltsamen Sicherung und Durchsetzung deutscher Herrschaft in diesen Räumen. Schließlich und endlich, auch das verdeutlicht Siemens mit zahlreichen Beispielen, ist ferner der lange ‚Endkampf‘ des Jahres 1945 ohne einen genauen Blick auf die Aktivitäten der SA – ob als paramilitärisch geschulter Kern des Volkssturms oder bei der, häufig selbstermächtigten, Jagd auf ‚Defätisten‘ – kaum zu erklären. Der vierte Teil des Buches schließt die Erzählung dann mit der Schilderung des Umgangs von Siegermächten und deutscher Bevölkerung mit den ‚Braunhemden‘ nach dem Krieg, den Exkulpationsstrategien ihrer zahlreichen Mitglieder und den sich daraus speisenden Narrativen, die ihre tiefen Spuren auch in der Forschung über die SA hinterlassen haben.
Insgesamt hinterlässt die Arbeit von Siemens einen positiven Eindruck. Die Auflösung der für derartige Gesamtdarstellungen typischen Spannung zwischen allgemeiner Darstellung mit breitem Pinselstrich und regionalen oder lokalen – manchmal auch individuellen – Tiefenbohrungen mit feiner Feder gelingt Siemens sehr gut. Insbesondere im zweiten Teil des Buches stellt sich zwar wiederholt das Gefühl ein, dass die Erzählung hier an zahlreichen Stellen lediglich an der Oberfläche kratzt und man zu vielen Punkten gerne noch deutlich mehr erfahren würde. Im ersten Teil des Buches hätte zudem der Aspekt der ‚Border Mentalities‘ und der zum Teil transnationale Charakter der frühen SA im Länderdreieck Deutschland/Tschechoslowakei/Österreich gut noch mehr Raum vertragen können. Dies hätte aber zum einen den Rahmen einer solchen Gesamtdarstellung gesprengt, und zum anderen ist diese Forschung vielfach noch gar nicht geschrieben. Das Buch weist daher auch deutlich darauf hin, wie viel unentdecktes Land es im Zusammenhang mit der Geschichte der ‚Braunen Bataillone‘ immer noch gibt. Obgleich die Geschichte der SA somit auch mit dieser neuen Gesamtdarstellung keineswegs ‚ausgeforscht’ ist, löst Daniel Siemens Studie das bisherige Standardwerk souverän ab. Es bleibt zu hoffen, dass es bald schon auf Deutsch verfügbar sein wird.
Anmerkungen:
1 Richard Bessel, Political Violence and The Rise of Nazism. The Storm Troopers in Eastern Germany, 1925–1934, New Haven 1984; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln, Weimar 2002.
2 Peter Longerich, Die Braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 2003 (1. Aufl. 1989).
3 Als Beispiel für diese neueren Arbeiten seien hier exemplarisch nur die bereits erwähnte Arbeit von Sven Reichardt, die Arbeit von Oliver Reschke zur SA mit dem regionalen Schwerpunkt Berlin, die Horst Wessel-Biografie von Daniel Siemens selbst oder die beiden, 2013 erschienen Sammelbände zur Geschichte der SA erwähnt: Oliver Reschke, Kampf um den Kiez. Der Aufstieg der NSDAP im Zentrum Berlins 1925–1933, Berlin 2014; Daniel Siemens, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009; Stefan Hördler (Hrsg.), SA-Terror als Herrschaftssicherung. Köpenicker Blutwoche und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus, Berlin 2013; Yves Müller / Reiner Zilkenat (Hrsg.), Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt am Main 2013.
4 Vgl. exemplarisch Longerichs Buch, welches diesen Zeitraum auf gerade einmal 17 Seiten behandelt.
5 Longerich, Bataillone, S.221f.