Wahrscheinlich erst durch die Morde des IS ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, dass in Syrien und im Irak christliche Gemeinschaften leben. Diese haben eine lange Geschichte und zentral für ihr heutiges Selbstverständnis sind die Völkermorde von 1915 und in den folgenden Jahren, die im Aramäischen meist als Sayfo (Schwert) bezeichnet werden. Genau wie die Armenier sind auch aramäische, assyrische und chaldäische Christen damals Opfer jungtürkischer Genozide geworden, ein Umstand, der aber lange selbst Fachleuten kaum bekannt war.
David Gaunt hat bereits vor einigen Jahren ein Buch hierüber verfasst, das immer noch als Standardwerk gelten kann.1 Allerdings ist aus verschiedenen Gründen der Völkermord an den syrischen Christen, wie diese hier pauschal genannt werden sollen, nur sehr viel schlechter erforscht worden als derjenige an den Armeniern. Erstens waren die Gemeinschaften in Syrien viel kleiner und deshalb waren auch die Opferzahlen geringer. Es wird geschätzt, dass etwa 100.000 Menschen, d.h. etwa 70 Prozent der Christen in Syrien ermordet wurden, auch wenn die genauen Zahlen unsicher sind. Zweitens war und ist die Sprachbarriere nach wie vor sehr hoch und die Zahl derjenigen Historiker, die Aramäisch, osmanisches Türkisch, Kurdisch, Arabisch oder andere lokale Sprachen beherrschen, dürfte gering sein. Drittens war – anders als bei den Armeniern – die weltweit verstreute aramäische Diaspora nur sehr langsam in der Lage, eine gemeinsame Erinnerungskultur an den Sayfo zu entwickeln. Dieser Prozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Viertens schließlich stellten und stellen die verschiedenen syrischen christliche Kirchen, die sich selbst häufig über ihre Diasporasituation definieren, keine geschlossene Gemeinschaft dar, und gerade vor der Herausforderung eines islamistischen Terrors bestehen erhebliche Unsicherheiten über die konzeptionelle Selbstdefinition.
Der zur Besprechung vorliegende Sammelband möchte vor allem den Forschungsstand interdisziplinär reflektieren und Lücken in der Forschung benennen. Er umfasst ein breites Spektrum von Themen. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Morde selbst, aber viel Raum wird der Frage gewidmet, wie sich in diesen Territorien seit den 1840er-Jahren langsam eine Kultur der extremen Gewalt etablieren konnte. Hier finden sich eine Reihe von weiterführenden und klugen Beobachtungen, die zeigen, wie die langsame, aber kontinuierliche Entgrenzung und Enthemmung von kollektiver Gewalt schließlich zur Entstehung einer modernen „zone of genocide“ (Mark Levine) führte.2 Weiterhin wird in mehreren Beiträgen umfassend und vor allem quellennah diskutiert, welche Rolle lokale und regionale Faktoren, besonders ein wachsender Gegensatz zwischen einerseits kurdischen Muslimen und andererseits Christen für die Kumulierung dieser Exzesse hatten. Der Beginn des Genozids geht höchstwahrscheinlich direkt auf Talat Pascha zurück, aber die Massenmorde waren in dieser Form nur möglich, weil vor allem auf kurdischer Seite bereits eine sehr hohe Bereitschaft bestand, extreme Gewalt anzuwenden. Zugleich aber scheint einige Unsicherheit in der Frage bestanden zu haben, wer genau ermordet werden sollte – die regionalen Handlungsspielräume waren zeitweise sehr groß (vgl. vor allem die Introduction, sowie Ugür Ümit Üngör, How Armenian was the 1915 Genocide; David Gaunt, Sayfo Genocide und Shabo Talay, Sayfo, Firman, Qafle).
Vergleicht man angesichts der Ergebnisse dieses Sammelbandes den Sayfo mit dem Völkermord an den Armeniern, so fallen einige Unterschiede auf, die allerdings mit dem bisherigen Forschungsstand noch nicht abschließend bewertet werden können. Erstens scheinen religiöse Motive beim Sayfo eine viel größere Rolle gespielt zu haben, weil Konvertiten nur in Ausnahmefällen getötet wurden, bzw. syrische Christen sehr häufig vor den Massakern zur Konversion zum Islam aufgefordert wurden (vgl. vor allem die Beiträge von David Gaunt, Sayfo Genocide und Shabo Talay, Sayfo, Firman, Qafle). Zweitens war der – auch militärisch organisierte – Widerstand der Christen in Syrien stärker als der der Armenier. Dies war darauf zurückzuführen, dass christliche Gruppen vor allem im Grenzgebiet zum Iran auf eine lange Tradition von lokalen Milizen zurückgreifen konnten. Diese Milizen waren ursprünglich gebildet worden, um die osmanische Armee regional bei Aufständen oder Grenzkriegen zu unterstützen. Sie waren allerdings 1915 militärisch, waffentechnisch und von ihrer Ausbildung her zu schwach und nicht in der Lage, den Sayfo zu verhindern. Die „Aufstände“ bzw. der Widerstand dieser Truppen wurden meistens schnell niedergeschlagen. Drittens scheinen prozentual viel mehr syrische Christen überlebt zu haben als Armenier. Hierfür gibt es sowohl geographische als auch chronologische Gründe. Das unübersichtliche und schwer zu kontrollierende Grenzgebiet zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran bot Fluchtmöglichkeiten, die in Anatolien in dieser Form nicht vorhanden waren. Allerdings brachen osmanische und kurdische Milizen häufig die Neutralität und stießen auch nach Persien vor. Außerdem erreichten Nachrichten über Massaker an Armeniern sehr schnell auch syrische Gemeinden, sodass diese in der Lage waren, entweder Widerstand oder eine Flucht vorzubereiten, auch wenn sie dann von dem Ausmaß und von der Radikalität der Gewalt weitgehend überrascht wurden (vgl. vor allem Florence Hellot-Bellier, The Resistance of Urmia Assyrians to Violence at the Beginning of the Twentieth Century sowie die Introduction).
Der Sammelband ist interdisziplinär angelegt. Deshalb finden sich nicht nur Beiträge zum historischen Ablauf des Sayfo. Weitere Themen sind das Ende des syrischen Patriarchats in der Türkei unter Kemal Atatürk (Naures Atto / Soner O. Barthoma, Syriac Orthodox Leadership in the Post-Genocide Period 1918-26 and the Removal of the Patriarchate from Turkey), regionale historische Notizen aus dem Jahr 1915 (Jan J. van Ginkel, Mor Dionysios ´Abd an-Nur Aslan, Church Leader during a Genocide und Sebastian Brock, A Historical Note of October 1915). Hinzu kommt eine Interpretation des Sayfo in Gedichten von Gallo Shabo. Der Dichter versuchte im Nachhinein den Massakern eine religiöse, z.T. eschatologische Bedeutung zu geben (vgl. Simon Birol, Interpretation of the Sayfo in Gallo Shabo´s Poem). Das psychologische Erbe des Sayfo wird ferner unter der Perspektive untersucht, wie traumatische Erlebnisse von Generation zu Generation weitergegeben wurden (Önver A. Cetres, The Psychological Legacy of the Sayfo). Schließlich befassen sich zwei Beiträge mit der Frage, warum und in welcher Weise die Türkei den Völkermord an den assyrischen, syrischen und chaldäischen Christen im Osmanischen Reich bis heute strikt leugnet (Racho Donef, Sayfo and Denialism und Abdulmesih BarAbraham, Turkey´s Key Arguments in Denying the Assyrian Genocide).
Der Sammelband versucht keineswegs, zu einer abschließenden Bewertung zu kommen. Er liefert aber drei gut durchdachte Bausteine für die weitere Forschung. Erstens verweist er auf ein bisher fast vollständig unbekanntes Thema der osmanischen Geschichte im Ersten Weltkrieg. Zweitens wirft er eine Reihe von Fragen auf, die auch die Forschungen zum Völkermord an den Armeniern vorantreiben könnten. Dies betrifft vor allem die oft unterschätzte Rolle der Religion und die Gewichtung regionaler Faktoren für die extreme Eskalation von Gewalt. Drittens schließlich gibt er auch Anregungen für die vergleichende Genozidforschung, gerade weil deutlich wird, dass die sehr dynamischen Wechselwirkungen zwischen zentralistischen und regionalen Faktoren bei der kaum vorstellbaren Entgrenzung von Gewalt offensichtlich eine bisher unterschätzte Rolle gespielt haben.
Anmerkungen:
1 Vgl. David Gaunt, Massacres, Resistance, Protectors. Muslim-Christian Relations in Eastern Anatolia during World War I, Piscataway 2006.
2 So der Titel des bahnbrechenden Aufsatzes, vgl. Marc Levine, Creating a modern „Zone of Genocide“. The Impact of Nation and State-Formation in Eastern Anatolia 1878-1923, in: Holocaust and Genocide Studies 12 (1998), S. 393–433.