Das 20. Jahrhundert war bereits zu einem Siebtel verstrichen, als es seine Urkatastrophe erlebte, den Ersten Weltkrieg. Bis dahin hatte der russisch-japanische Krieg (1904/05) als ein Menetekel gegolten, das den Anbruch einer neuen Zeit ankündigte. Im Kampf um die Vorherrschaft in Ostasien setzte sich damals das kleine Japan gegen die größte Landmacht der Welt durch. Es war aber nicht allein dieser Triumph, der Zeitungsleser oder Postkartensammler auf allen Kontinenten aufmerken ließ. Ebenso Beachtung fanden Kriegserfahrungen, wie sie Westeuropäer eine Dekade später selbst machen mussten: die Materialschlachten in der Mandschurei, der Stellungskrieg mit schwerem Artilleriebeschuss um die russische Marinefestung Port Arthur oder die Deportation von zigtausenden russischen Kriegsgefangenen nach Japan.
Vor allem aber wirkte der japanische Erfolg als symbolische Zäsur: Japan und die Vereinigten Staaten, die im September den Friedensschluss vermittelten, traten mit weltgeschichtlichen Ambitionen auf, wie sie bislang die Großmächte Europas für sich beansprucht hatten; Kolonialismus-Kritiker wie Mohandas Karamchand Gandhi in Indien waren elektrisiert von der Neuigkeit, dass eine außereuropäische Macht über eine europäische hatte siegen können. Und nicht zuletzt schuf der Krieg in Ostasien die europäische Mächtekonstellation für den Weltkrieg. Nach 1905 verzichtete das Zarenreich auf eine expansive Ostasienpolitik und machte so den Weg frei für eine Annäherung nicht nur an Japan, sondern auch an dessen Bündnispartner Großbritannien. Der bislang für unüberwindbar gehalten Gegensatz zwischen dem russischen und dem britischen Imperium war Geschichte.
Diese internationale Dimension des russisch-japanischen Krieges ist das Thema des jüngsten Buchs des Historikers und Japanologen Frank Jacob, Professor für Globalgeschichte an der neugegründeten Nord Universitet in Bodø (Norwegen). Er knüpft an eine Debatte an, die im Zuge der Wiederentdeckung dieses Krieges hundert Jahre nach seinem Ende einsetzte und ihn, oft allerdings mit Fragezeichen, als 0. Weltkrieg thematisiert hat.1 Zu Recht betont Jacob, dass trotz des Booms an Einzelstudien eine umfassende Monografie über diesen Krieg fehlt, die über eine Zusammenfassung des militärischen Verlaufs hinausgeht und den Konflikt als globalgeschichtliches Ereignis oder zumindest seinen „global impact“ (S. 7) untersucht. Diese Lücke zu schließen, ist das Ziel des Buches.
Es beginnt mit einem kurzen Überblick über die Kriegsschauplätze und die Serie der russischen Niederlagen; der Hauptteil besteht aus geografischen Fallstudien. Jacob stellt die Auswirkungen des Krieges nicht nur in Japan und Russland vor, sondern auch auf die eigentlichen Verlierer Korea und China, in deren Grenzen der imperialistische Konflikt ausgetragen wurde. Ferner analysiert er die Reaktionen der neutralen Staaten USA und Deutschland. Insbesondere zu Deutschland basiert die Untersuchung auch auf archivalischen und publizistischen Quellen, ansonsten auf Forschungsliteratur in englischer, japanischer und deutscher Sprache. Sie gibt einen Überblick über die internationalen Beziehungen in den Jahren vor und nach 1904/05 und setzt sie in Bezug zu den jeweiligen innenpolitischen Verhältnissen. Im Mittelpunkt steht weiterhin das europäische Staatensystem bi- und multilateraler Beziehungen. Nur gelegentlich schweift der Blick in andere, nicht als Kriegspartei, Kriegsopfer oder „wohlwollend“ neutral agierende Länder.
Die Ursachen des Kriegs handelt Jacob recht kurz ab. Die Interessen Russlands und Japans in Nordostchina und Korea sowie die Methoden und Ziele der „friedlichen“ Einflussnahme – etwa über Eisenbahnen, Berater, Kredite – bleiben nur angedeutet. Die Vorgeschichte der militärischen Eskalation reduziert sich folglich einerseits auf das Unvermögen der zarischen Regierung, Japan als potenziellen militärischen Gegner ernst zu nehmen, andererseits auf die Annäherung zwischen Japan und Großbritannien.
Die Fallstudien setzen unterschiedliche Akzente, sind aber allesamt in (national)staatliche Rahmen eingespannt. Die verbindenden, globalen Kontexte werden mehr vorausgesetzt als ausgeführt. Das Kapitel zu Asien, wiederum geografisch untergliedert, betont die ambivalente Erfahrungsgeschichte des Krieges. In China und Korea war Japan als Eroberer gefürchtet und trotzdem gerade für kritische Intellektuelle ein Sehnsuchtsort und Vorbild, weil es eben aus eigener Kraft die Ebenbürtigkeit mit den europäischen Mächten hergestellt hat. In Japan wiederum schlug der Kriegspatriotismus nach dem Friedensschluss in Ernüchterung, ja gewaltsamen Protest um, auch weil die in der Propaganda vorgegebenen Ziele nicht erreicht werden konnten. Hinter dem Kriegspatriotismus, das betonen längst nicht alle Darstellungen so kenntnisreich wie Jacob, gab es auch in Japan Widerstand gegen den Krieg – sei es auf der politischen Linken, sei es unter bäuerlichen Rekruten, die sich um ihre Wirtschaft sorgten.
Für Russland unterstreicht Jacob die destabilisierende Wirkung des Kriegs auf die Finanzlage und das politische System des Landes. Anders als die übliche Forschungsmeinung sieht er in dem unglücklichen Verlauf des Krieges die Ursache für die Revolution von 19052 – und unterschätzt die viel älteren sozialen und politischen Spannungen im Zarenreich wie er die Agitation japanischer Agenten in Russland überschätzt. Mehr noch überrascht die Schlussfolgerung, dass der russisch-japanische Krieg den weiteren Verlauf der russisch-sowjetischen Geschichte und den Ost-West-Konflikt determiniert habe (S. 84f.). Diese steile These ist schon deswegen spekulativ, weil Jacob die Darstellung nicht über 1906 hinausführt.
Ebenso unbelegt bleibt die Behauptung, der vom US-Präsidenten Roosevelt vermittelte Frieden von Portsmouth habe die Weichen für den japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Zweiten Weltkrieg gestellt. Ohne Frage schlug das japanisch-amerikanische Verhältnis nach 1905 in Rivalität um – aber hierüber verliert Jacob nur wenige analysierende Worte, während er die Friedensverhandlungen vom September 1905 ausführlich vorstellt.
Diplomatiegeschichte auf höchster Ebene steht auch im Mittelpunkt des Deutschland-Kapitels. Berlin wahrte seine politische Neutralität – und versuchte gleichzeitig, die französisch-russische Allianz von 1894 zu schwächen. Russland erhielt nachrichtendienstliche und finanzielle Unterstützung und im Sommer 1905 aus den Händen des Kaisers persönlich ein Bündnisangebot, das aber nie ratifiziert wurde. Zugleich bildete die 1905 demonstrierte militärisch-logistische Schwäche Russlands eine Planungsgrundlage für die Angriffsstrategie an der Westfront des Weltkriegs.
In welchem, wie auch immer global definierten Zusammenhang die Teilkapitel stehen, bleibt auch im Schlusskapitel offen. Dabei prägten viele globale Faktoren des frühen 20. Jahrhunderts den russisch-japanischen Krieg: eine weltweit vernetzte Medienöffentlichkeit, die Angst vor der „Gelben Gefahr“, der ökonomische Aufstieg des Pazifikraums, die transnational diskutierten Fortschritte der Militärmedizin, die beachteten Richtlinien des Völkerrechts. Möglicherweise hätte eine systematische Gliederung geholfen, die nationalstaatliche Perspektive aufzubrechen und zu globalisieren. Aber auch als Sammlung von Länderstudien ist das Buch lückenhaft. Warum fehlen Fallbeispiele zu Frankreich, mit dem Russland seit 1894 alliiert war, und zu Japans Partner Großbritannien?
So informativ die Studie als diplomatie- und ereignisgeschichtlicher Teilüberblick dienen kann, so wirft sie letztlich mehr Fragen auf als sie beantwortet oder selbst stellt. Vor allem handelt sie nicht vom Einfluss des russisch-japanischen Kriegs auf das 20. Jahrhundert, sondern hauptsächlich von den großen Mächten des Jahres 1905.
Anmerkungen:
1 John W. Steinberg / David Wolff (Hrsg.), The Russo-Japanese War in global perspective. World War Zero, 2 vols., Leiden 2005/07.
2 Hierzu etwa die von Jacob ignorierte Dissertation von Jan Kusber, Krieg und Revolution in Russland 1904–1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997.